Eine Wahlanalyse der Nationalratswahl 2024 von Nikolaus Kowall*
„Die SPÖ hat ihr schwächstes Ergebnis erreicht, seit es freie Wahlen gibt.“ Das war der erste Satz meiner Analyse am Blog der Sektion 8 sowohl im Oktober 2008 als auch im Oktober 2013. Die Sozialdemokratische Partei Österreichs hat 2024 trotz eines Zuwachses von 20.000 Stimmen das bisherige Rekord-Tief von 2019 prozentuell minimal unterboten und den geringsten Stimmenanteil seit 1919 eingefahren.
Diese Wahl brach noch zwei weitere Rekorde: Erstens erreichte die FPÖ ihr bislang bestes Ergebnis und wurde erstmals stärkste Partei, zweitens haben die Parteien links der Mitte (selbst unter Einrechnung der Bierpartei!) mit nur 33,5% das schlechteste Resultat seit 1945 eingefahren. Die Parteien rechts der Mitte konnten gemeinsam leicht zulegen, brachen aber nicht den Allzeit-Rekord von 2017. Aber 55% für ÖVP und FPÖ sind auch beachtlich und ihr gemeinsam drittstärkstes Ergebnis seit 1945.
Seit 2006 gibt es zwei deutliche Trends: Erstens, das rechte Lager wächst an. Zweitens schmilzt das linke Lager (SPÖ, Grüne und KPÖ) noch schneller ab als das rechte ansteigt. Das liegt am Erstarken der Liberalen (in die Grafik die „Mitte“). Es ist ja prinzipiell nichts dabei, wenn eine liberale Mitte-Partei an Bedeutung gewinnt. Würde diese links und rechts gleichermaßen Stimmen kosten, käme damit vielleicht keine Vermögenssteuer, aber es würde Österreich tendenziell aus seiner atmosphärischen Stickigkeit helfen. Was aber fassungslos macht ist, dass die NEOS im Saldo ausschließlich Stimmen links der Mitte aufsammeln. Wichtig ist die Betonung von „Saldo“, denn die Partei wird schon auch die eine oder andere ÖVP-Stimme gewinnen. Aber das sind weniger als Rot-Grün an den Rechtsblock verliert.
Noch eine andere Perspektive unterstreicht diesen Trend: Wenn man, vereinfacht gesagt, nur die „demokratischen“ Parteien berücksichtigt, also die FPÖ ignoriert und die ÖVP einrechnet (v.a. für die Kurz-Periode unter erheblichen Schmerzen), könnte man eine Lagergrenze zwischen Rot-Grün und Schwarz-Pink ziehen. Von 1994 (als das Liberale Forum ins Parlament einzog) bis 2013 lag Rot-Grün vorne. Seit 2017 führt Schwarz-Pink innerhalb des „demokratischen“ Spektrums. Mittlerweile ist Schwarz stärker als rot und pink stärker als grün.
Hinzu kommt eine Entwicklung, die sich seit 2006 immer deutlicher beobachten lässt. Wenn die Wahlbeteiligung sinkt, schrumpft das rechte Lager, wenn die Wahlbeteiligung steigt, wächst es. Im Prinzip hängt das Verhältnis von Links vs. Rechts also maßgeblich davon ab, ob die FPÖ-Wählerschaft gerade durch Ibiza etc. demobilisiert ist oder nicht.
Während die Rechte zu anderen Zeitpunkten zersplittert war (2013 beispielsweise in FPÖ, BZÖ und Team Stronach), ist seit 2017 die schrumpfende Linke zersplittert und die Rechte geeint. Diesmal sind 4,4% Stimmen links der Mitte gar nicht im Parlament vertreten (Bier & KPÖ). Die parlamentarische Linke, bestehend aus SPÖ und Grünen, fällt damit erstmals unter 30 Prozent.
Nur vor diesem Hintergrund macht eine Analyse des SPÖ-Resultats Sinn. Denn die Stabilisierung des Parteiergebnisses bei 21,2% muss vor dem Hintergrund gesehen werden, dass sich die SPÖ – wie schon 2017 – auf Kosten der Grünen konsolidiert hat. Sprich, was die Partei im urbanen Bereich (und im Speckgürtel (!), siehe Mödling oder Eichgraben) von den Grünen gewinnen konnte, hat sie anderenorts an die Rechtsparteien verloren. Die Problematik sticht sofort ins Auge, wenn man meinen industriell geprägten, aber ländlichen Herkunftsbezirk Lilienfeld (NÖ) mit meinem Wahlkreis Wien Innen West (Bezirke 1,6,7,8,9) vergleicht. Im Wahlkreis haben wir die höchsten Zuwächse in Österreich erreicht, im Bezirk Lilienfeld heißt die Nummer 1 jetzt FPÖ. Lilienfeld ist übrigens der Bezirk mit dem österreichweit höchsten Anteil von Beschäftigten in der Metallindustrie nach Steyr Stadt. Beim SPÖ-Wahlsieg unter Gusenbauer 2006 war die SPÖ hier mit 43% die klare Nummer 1. Es handelt sich also um historisch rotes Kerngebiet wie bei der Obersteiermark oder dem oberösterreichischen Zentralraum.
Im big picture befindet sich die SPÖ seit 1979, als sie noch mit einer absoluten Mehrheit ausgestattet war, in einem Abwärtstrend. Genau genommen hatte sie sich zwischenzeitlich (1994 bis 2006) recht solide bei 35% stabilisiert, danach hat sich der Negativ-Trend aber fortgesetzt. Der größere Brocken ging seit damals mathematisch an Grüne und NEOS (sie waren 2019 zusammen sogar stärker als die SPÖ), der kleinere an das Lager rechts der Mitte. Die Wahl 2024 brachte für die SPÖ eine prozentuelle Stagnation und damit eine Atempause. Das ist (kurzfristig) schön für die Partei, bringt aber nichts für Österreich.
Mitte links im Schatten rechter Erfolge
Was Österreich eigentlich benötigt, ist eine Regierung ohne die seit 1987 durchgehend regierende ÖVP. Die Republik braucht nicht nur etliche neue Weichenstellungen, die durch die ÖVP blockiert werden (Bildung, Klima, Verteilung), sondern auch eine demokratiehygienische Entlüftung. Leider verblasst diese positive Perspektive eines anderen Österreichs zunehmend als Motiv. Denn was wir mittlerweile in ganz Europa und darüber hinaus am dringlichsten suchen ist eine politische Agenda, die attraktiv genug ist, um den Rechtspopulismus in Zaum zu halten und die Demokratie als System zu stabilisieren. Dafür gab es in den letzten Jahren drei große Mitte-links-Strategien:
- Zentrismus
Die traditionellen Mitte-Links-Parteien (in unserem Fall die SPÖ) sollen ganz in die Mitte rücken, Verteilungsfragen hintenanstellen und eine „pragmatische“ Wirtschaftspolitik mit einer liberalen Gesellschaftspolitik koppeln. Die Extremform dieser Variante hat sich in Frankreich durchgesetzt, wo mit Emanuel Macrons Partei „Renaissance“ gleich eine ganz neue zentristische Bewegung entstand, die die Sozialdemokratie verdrängte. Dies hat Marine Le Pens Rassemblement National nicht davon abgehalten kürzlich mit einem Drittel der Stimmen stärkste politische Kraft in Frankreich zu werden. Das ist insofern nicht verwunderlich, als der Weg des „Zentrismus“ seit den 1990er-Jahren in den meisten Ländern erheblich dazu beitrug, dass sich traditionelle Wählergruppen der Sozialdemokratie nicht mehr mit ihrer langjährigen Partei identifizieren konnten. Während die SPÖ seit der Finanzkrise ihre inhaltlichen Positionen zunehmend wieder schärfte, veränderte sie aber nicht ihren apolitischen Mainstream-Habitus. Man nahm der Sozialdemokratie bis Andreas Babler gar nicht ab, für Vermögenssteuer oder Arbeitszeitverkürzung wirklich kämpfen zu wollen. Das war unsere langjährige Kritik an der SPÖ, zuletzt unter Rendi-Wagner.
2. Rechts-Linkspopulismus
Die Sozialdemokratie solle einen Kurs Pro-Wohlfahrtsstaat mit einem restriktiven Kurs in Migrationsfragen koppeln. Dieses Modell findet man in Dänemark. Wie nachhaltig es ist, wird man sehen, die dänische Sozialdemokratie hat bei den EU-Wahlen deutlich verloren und liegt in Umfragen genau bei jenen 21%, die die SPÖ kürzlich erreicht hat. Allerdings – und dieses Faktum lässt sich nicht ignorieren – liegen die anderen Linksparteien zusammen bei nochmals 30%. Der Preis dafür war hoch. Weil auch Dänemark mit nationalen Mitteln ein internationales Phänomen wie Migration nicht steuern kann, hat man es mit einem Ekel-Wettbewerb versucht. Von der Idee her nicht unähnlich der türkis-blauen Agenda unter Kanzler Kurz, nur mit anderen Maßnahmen. Für Ausreisepflichtige und Geduldete gibt es eigene Zentren, die man nachts nicht verlassen darf. Der Europarat bezeichnete die Zustände überspitzt als schlechter, denn in russischen Gefängnissen. Es solle dort auch nicht „behaglich“ sein, so der sozialdemokratische „Integrationsminister“, die Menschen sollten ja zur Ausreise angehalten werden.
Die Vorstellungen eines Hans-Peter-Doskozil über die Ausrichtung der SPÖ wiesen eine ideologische Verwandtschaft mit dieser politischen Richtung auf (vielleicht mit Extra-Fokus auf öffentliche Infrastruktur und einer größeren Portion kulturellem Konservatismus). Leute wie ich sahen 2023, als Doskozil sich anschickte SPÖ-Chef zu werden die Gefahr darin, dass in Österreich eine dritte Großpartei rechtspopulistische Töne anschlagen würde. Das würde einerseits den gesamten Diskurs noch weiter nach rechts abdriften lassen, andererseits wäre unklar ob die Leute am Ende des Tages zum Schmied (der FPÖ) gingen, oder zum Schmiedel (einer Doskozil-SPÖ).
3. Care-Linke
Mitte-Links-Parteien sollten bei der Bevölkerung vor allem einen Eindruck hinterlassen: „they care about us.“ Das heißt auf einer konkreten Ebene sich um die Verbesserung von Lebensrealitäten zu bemühen und auf einer allgemeinen Ebene sich um die breite Masse anstelle von Eliteinteressen zu kümmern. Diese über Verteilungsfragen ausgetragene Frontstellung gegenüber dem Geldadel sollte den Rechten ihren exklusiven Anti-Establishment Nimbus nehmen. Mit so einem Ansatz konnte Bernie Sanders 2016 beinahe die Vorwahlen innerhalb der US-Demokraten für sich entscheiden, 2017 konnte Jeremy Corbyn damit 40% bei den Wahlen in Großbritannien für die Labour-Party erreichen. Einen weltanschaulich verwandten Zugang hat die SPÖ unter Andreas Babler vor gut einem Jahr eingeschlagen.
Seit ich mich erinnern kann hat kein SPÖ-Vorsitzender so konsequent versucht sowohl den rechtspopulistischen Kulturkampf, als auch das marktliberale Bullshit-Bingo zu vermeiden und stattdessen über Lebensrealitäten zu sprechen: Über Menschen die Akkord oder Schicht arbeiten, über die harte körperliche Tätigkeit von Pfleger:innen, über Alleinerziehende die Schwierigkeiten haben für Kinder neue Schuhe zu bezahlen, über Mindest-Pensionist:innen, denen steigende Mieten zusetzen. Diesen Menschen Perspektiven zu verschaffen, was ihre Einkommenssituation betrifft, die Entwicklung ihres Mietzinses, ihre Arbeitszeitbelastung, die sie umgebende Infrastruktur vom S-Bahnanschluss bis zur Kinderbetreuung – das ist die zentrale Botschaft einer Care-SPÖ. Gleichzeitig wurde offen kommuniziert, dass die Finanzierung dieser Reformen mittels steuerlicher Umverteilung erfolgen solle. Das Vermögen sei bei den Reichen mittlerweile so konzentriert, dass ein höherer steuerlicher Beitrag ihrerseits unerlässlich zur Finanzierung der Verbesserung der Lebensumstände für die breite Masse sei.
Wir wissen jetzt, dass dieser Zugang bei der Nationalratswahl keinen entscheidenden Vorteil für die SPÖ brachte. Betrachtet man das Ergebnis links der Mitte insgesamt, sind wir überhaupt an einem historischen Tiefpunkt angelangt. Nun wäre man verleitet, die linke Care-Politik alleine dafür verantwortlich zu machen. Das ist angesichts vieler anderer widriger Umstände unzulässig. Gleichzeitig wäre es auch naiv, jeglichen Zusammenhang mit der politischen Ausrichtung der Care-SPÖ abzustreiten. Hier der Versuch einer Einordnung verschiedener Erklärungsfaktoren für das enttäuschende Resultat.
Wieso hat Mitte links so schlecht abgeschnitten?
- Der globale rechter Trend
Der Trend in Richtung Autoritarismus ist nicht nur europäisch, sondern tatsächlich global. In Europa sind die Rechten mittlerweile die relativ stärkste Kraft in Frankreich, Italien, der Schweiz, den Niederlanden, Polen und eben Österreich. Ungarn haben sie bereits in ein autoritäres Regime umgebaut, in den USA nehmen sie gerade den zweiten Anlauf dazu. In Moskau, dem vor Budapest wichtigsten spirituellen Zentrum der globalen Rechten, reibt man sich die Hände. Dieser globale Zeitgeist macht linke Mehrheiten dieser Jahre praktisch unmöglich und selbst Mehrheiten aus linken und liberalen Parteien sehr schwierig. Ein SPÖ-Ergebnis wie in der stabilen Phase zwischen 1994 und 2006, also bei rund 35%, wäre aktuell selbst bei einem tadellosen Auftritt nicht erreichbar und eine linke Mehrheit vollkommen aus der Welt. Das Potential für die SPÖ liegt aktuell bei bestenfalls 30%, aber Platz 1 wäre damit noch drinnen.
2. Der schlechte Zustand der SPÖ
Alle, die im Straßenwahlkampf und bei Hausbesuchen für die SPÖ unterwegs waren, haben vor allem eine Rückmeldung erhalten: Bei euch weiß man nicht was Sache ist weil ihr nicht an einem Strang zieht. Tatsächlich gab es in diesem Wahlkampf mindestens zehn verschiedene Wahlkämpfe: Einen des Bundes-SPÖ und neun in den Landesorganisationen. Andreas Babler und seine Forderungen wurden vielerorts gar nicht plakatiert. In Wien erfolgte die Schattenkampagne in Form einer Regionalisierung – „Gemeinsam für Mariahilf“ oder „Floridsdorf ins Parlament“. So ähnlich hielten es auch die anderen Landesorganisationen. Das bedeutet auf Bundesebene wurde versucht die Care-SPÖ inklusive Anti-Establishment Note zum Markenkern zu erheben, während sich andere Ebenen so staatstragend wie möglich präsentierten und die Babler-Inhalte verschwiegen. Das entfaltet, gelinde gesagt, keine Sogkraft.
Hinzu kommen natürlich die seit Jahren aufpoppenden Skandale und Querelen, die bis in die heiße Wahlkampfphase anhielten. Obendrein ist die Kampagne der Bundespartei nicht optimal gelaufen, was viel mit der geringen Vorlaufzeit zu tun hatte. Eine frühere Programmerstellung hätte beispielsweise mehr Raum geschaffen, dieses mit den zahlreich involvierten Expert:innen im Wochentakt zu präsentieren. Alle diese Faktoren zusammen haben vielleicht nochmals weitere fünf Prozentpunkte Rückhalt gekostet. Weder eine Mehrheit für die Austro-Ampel noch Platz 1 für die SPÖ waren so noch in Reichweite. Aber selbst unter diesen Umständen hätte die SPÖ gemäß der Einschätzung vieler noch 24-25% und Platz 2 hinter der FPÖ erreichen können.
3. Die linke Care-Politik hat nicht verfangen
Und damit kommen wir zum bittersten Part der Analyse. Es ist der Part, auf den die Bundes-SPÖ am meisten Einfluss hatte – nämlich den Spirit der linken Care-Politik. Denn selbst wenn der SPÖ-Apparat damit fremdelte, hätte dieser Spirit – bei entsprechender Attraktivität – unabhängig davon Wirkung entfalten können. Etwa indem er viele lokale SPÖ-Strukturen, Vorfeldorganisationen, Initiativen außerhalb der Partei sowie Leute auf Social Media mobilisiert und damit womöglich sogar auf die SPÖ-Landesorganisationen positiv zurückwirkt hätte. Wie viele andere war ich optimistisch, dass diese Ansprache trotz widrigster Umstände eine eigene Kraft entfalten würde. Das ist schlicht und ergreifend nicht passiert.
Meine aktuelle Einschätzung ist, dass wir historisch zu spät dran waren. Corbyn und Sanders fanden in einem anderen Zeitalter statt, nämlich vor Pandemie, Krieg und Inflation, aber auch vor dem Durchbruch der Klimabewegung in die breite Öffentlichkeit. Die Leute glauben nicht mehr, dass Politik etwas Positives verändern kann. Sie trauen Behörden, Institutionen, dem Staat, der Demokratie generell weniger. Die neoliberale Saat geht hier auf, der gemäß alle ihres Glückes eigener Schmied sind. Dass strukturelle Faktoren für die persönlichen Lebenschancen auch eine große Rolle spielen, geht im darwinistischen Kampf um gesellschaftliche Positionen unter. Viele Leute empfinden eine Care-Linke als übergriffig und ahnen nicht, dass sie ohne staatliche Umverteilung kaum noch Teil der Mittelschicht wären. Libertäre und rechtsextreme Echokammern nehmen die letzten Restvorstellungen von Solidarität in den Zangengriff und desavouieren die Eckpfeiler progressiver Weltsicht.
Was tun?
Wie man progressive Mehrheiten gewinnt, wird man sich von der Pike weg neu überlegen müssen. Die linke Care-Politik ist jedenfalls keine Wunderwaffe. Dennoch ist Umverteilung der essentiellste sozialdemokratische Beitrag zum politischen Diskurs. Ich vermute, man wird die Verteilungsfrage weiter stellen müssen, aber mit weniger klassenkämpferischer Pose. Vielleicht muss man eher alle, die fest auf dem Boden der Demokratie stehen überzeugen, dass die enorme Vermögenskonzentration genau das Ende dieser Demokratie bedeutet. Das ist dann aber eher ein Kampf um die Hirne der Mittelschicht als um die Herzen früherer roter Wählergruppen. Also eher Speckgürtel als Bezirk Lilienfeld. Jedenfalls braucht es für die Verteilungsfrage eine spezifische Sprache des 21. Jahrhunderts und ich plane in den kommenden Wochen meine Gedanken dazu noch zu Papier zu bringen.
Die Verteilungsfrage selbst ist, und das ist sehr bitter niederzuschreiben, wohl nicht der entscheidende Hebel, um traditionelle Wählergruppen zurückzugewinnen. Die Kassiererin beim Spar, die wegen der ungerechten Vermögensverteilung SPÖ wählt, gibt es offenbar nicht. Den Arbeiter, der wegen der 4-Tage-Woche rot wählt, offenbar auch nicht. Wenn es also um historisch rote Kerngebiete wie den Bezirk Lilienfeld geht, muss man womöglich weniger die Perspektiven, sondern die größten Ängste offen und ohne Scheu ansprechen:
- Die Sorge vor unkontrollierter Migration, die als Gefahr für Sicherheit, Sozialstaat und kulturelle Identität angesehen wird
- die verdrängte Furcht vor der offensichtlichen Klimaveränderung, die gleichzeitig mit Sorge vor Deindustrialisierung & Verarmung durch Klimapolitik einhergeht
- die Angst vor Krieg
Ja, das sind zentrale Talking points des rechten Kulturkampfes. Aber es sind auch die größten politischen Fragen unserer Zeit. Stattdessen über andere, hoffnungsreichere Dinge zu sprechen, hilft offenbar auch nicht. Man kann nicht darauf setzen, dass, sowie anno 2006, mitten im Hochwahlkampf das Thema Pflege Themen wie Migration & Asyl in den Hintergrund drängt und die SPÖ so die Wahl gewinnt. Irgendeine Boulevardzeitung wird immer eine syrische Familie mit sieben Kindern aufspüren die entsprechend viel Sozialhilfe bekommt. Also machen wir uns auf die Suche nach einer Sprache für diese Themen und nach einer offenen Benennung, was wir als Nationalstaat in welchem Ausmaß wirklich beeinflussen können. Und das, was wir beeinflussen können, sollten wir auch stärker tun.
Niki Kowall ist promovierter Ökonom und Inhaber einer AK-Stiftungsprofessur für Internationale Wirtschaft an der FH des BFI. Er ist Stellvertretender Bezirksparteivorsitzender der SPÖ Alsergrund. 2007 hat er die Sektion Acht gegründet und zwischen 2007 und 2014 geleitet.