Der folgende Text (Arbeitsübersetzung aus dem Englischen von Gabriele Matzner) betreffend die Ursachen der aktuellen Vorgänge in der Türkei wurde kürzlich von einer Reihe prominenter türkischer Intellektueller aus London veröffentlicht.
Die fort dauernden Proteste in der Türkei sind ein Aufschrei gegen die schleichende Erosion der bürgerlichen Freiheiten und die Unterdrückung abweichender Meinungen durch die im Islamismus verwurzelte Regierung von Recep Tayyip Erdogan. Das Zusammenkommen folgender Umstände hat bei größeren Teilen der Gesellschaft Unzufriedenheit geschaffen und zu spontanen Erhebungen geführt, an denen sich Menschen aus allen Schichten mit einer Vielzahl unterschiedlicher politischer Überzeugungen beteiligen.
Rede- und Pressefreiheit: die Zahl in der Türkei inhaftierter Journalisten übertrifft die in China und im Iran; zunehmende Selbstzensur, der sich die mainstream-Medien auf anhaltenden Druck der Regierung unterwerfen, und die Bevorzugung der Interessen von Unternehmen gegenüber jenen der Öffentlichkeit haben dazu geführt, dass diese Medien ihre Unabhängigkeit und Glaubwürdigkeit verloren haben. Am Höhepunkt der Ereignisse setzten türkische Fernsehkanäle ihre üblichen Programme fort.
Monopolisierung der Macht: die Sorge über die Unabhängigkeit der Justiz wächst, im Gefolge von scheinbar politisch motivierten personellen Besetzungen von Schlüsselfunktionen in diesem Bereich seitens der regierenden Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei (AKP), und angesichts von Premierminister Erdogans ausdrücklichem Wunsch, zwecks politischer Effizienz eine „Super-Präsidentschaft“ zu schaffen, die die demokratischen Gewaltenteilung unterminiert. Die AKP nutzt ihre parlamentarische Mehrheit, um Gesetze ohne öffentliche Debatte oder sinnvollen Dialog mit anderen politischen Parteien zu verabschieden. Demokratie wurde auf Wahlen reduziert.
Durchsetzung einer konservativen Moralität: eine offen erklärte Mission, die Gesellschaft nach der konservativen Sunni-Moralität der Partei zu gestalten, bedroht bürgerliche Freiheiten, Pluralismus und die Verwirklichung anderer Lebensentwürfe. Rezente Beispiele dafür sind umstrittene Reformen im Bildungsbereich zwecks Forcierung religiöser Erziehung, zunehmende Einschränkungen beim Verkauf und Konsum von Alkohol, vorgeschlagene Beschränkungen bei Abtreibung und öffentliche Durchsagen in U-Bahnen, sich „an die Regeln der Moralität“ zu halten.
Hemmungslose Entwicklungsstrategie: Anzeichen eines verlangsamten BIP-Wachstums veranlassten die AKP-Regierung, vorwiegend riesige Infrastruktur- und Bauprojekte in Angriff zu nehmen, um die Wachstumsraten zu halten. Dazu gehören: der Bau eines künstlichen Kanals neben der Meerenge vom Bosporus, die weltweit größte Moschee auf dem höchsten Hügel Istanbuls, eine umstrittene, von der UNESCO kritisierte neue Brücke über das historische Goldene Horn, das empfindliche Ökosystem gefährdende und hunderte Dörfer und kulturelle Stätten gefährdende Staudämme sowie unzählige Stadterneuerungsprojekte, die historisch gewachsene Nachbarschaften zerstören sowie massenhafte Umsiedlung und Umweltbeeinträchtigungen verursachen. Ungeachtet wachsender Bedenken vieler Bürger werden solche Pläne routinemäßig ohne angemessene öffentliche Diskussion oder Prüfung entwickelt, ausgeschrieben, vertraglich fixiert und durchgeführt.
Am 29. Mai, als auch die sensationelle Nachricht vom geplanten Bau der Istanbuls Grünflächen dezimierenden dritten Bosporus-Brücke kam, brachte Erdogans Ankündigung der trotz anhaltenden Protests beabsichtigten Beseitigung des Gezi-Parks, einer der größten Grünflächen Istanbuls, zwecks Errichtung einer Shopping-Mall das Fass zum Überlaufen.
Im Morgengrauen des 31. Mai, des dritten Tags eines friedlichen Sit-Ins im Gezi-Park, versuchte die Polizei mit exzessiver Gewalt unter Einsatz von Tränengas und Wasserwerfern die schlafende Menge zu vertreiben. Dieser Vorfall polizeilicher Brutalität, einer von vielen in einer langen Reihe, löste öffentliche Empörung aus, die rasch in den dramatischsten Aufruhr der modernen türkischen Geschichte mündete.
Die in der Türkei überaus starke Präsenz sozialer Medien ermöglichte es den Demonstranten, sich mit atemberaubender Geschwindigkeit zu organisieren. Binnen Stunden dehnten sich die Proteste auf mehr als 30 Städte im gesamten Lande aus. Also erklärte Premierminister Erdogan in einem Interview am Sonntag (2. Juni, Anmerkung der Übersetzerin), es gebe nun eine „Bedrohung namens Twitter, wo man die besten Beispiele von Lügen finden kann. Für mich sind soziale Medien die schlimmste Bedrohung der Gesellschaft“.
Der Premierminister zögerte nicht, die Demonstranten als Randgruppen und Radikale abzustempeln. Fälschlicherweise, denn, ganz im Gegenteil, führten die Proteste eine außergewöhnliche Mischung von Menschen zusammen, Menschen verschiedener politischer Ausrichtung, Liberale und Sozialisten, Umwelt- und LGBT-Aktivisten, sekuläre Kemalisten, türkische Nationalisten und kurdische Aktivisten, ganz abgesehen von den vielen bisher a-politischen Bürgern, die über die gewaltsame und die politische Unterdrückung legitimer Forderungen empört waren.
Die Solidarität zwischen den Demonstranten und der Masse der Bevölkerung war bisher eindrucksvoll. Es gibt Geschichten, wonach Fahrer von Bussen und Müllabfuhr Strassen blockieren, um Protestierende vor der Polizei zu schützen, von Apotheken, die Mittel gegen Tränengas verteilten, von Sanitätern, die freiwillig Verletzten halfen, von Luxushotels, bescheidenen Cafés und einfachen Leuten, die den vor Polizeigewalt Flüchtenden sicheres Obdach gewährten.
Es ist Besorgnis erregend, dass Premierminister Erdogans bisher kompromisslose und herausfordernde Reaktion auf die Demonstrationen zu weiterer Anwendung exzessiver Polizeigewalt ermutigt und den Zorn der Protestierer angeheizt hat.
In Summe haben zunehmende Monopolisierung der Macht, eine patriarchalische Regierungsführung und das Gefühl, in einem bedeutenden Teil der Gesellschaft, ohne angemessene öffentliche Beratschlagung und Dialog, machtlos zu sein die massive öffentliche Empörung herbeigeführt.
Unterzeichner:
Hasan Turenc, Politologe, Forscher
Mehmet Muderrisoglu, Forscher und Islamexperte
Omer Cavusoglu, Ökonom (LSE) und Experte für städtische Entwicklung
Karabekir Akkoyunlu, PhD-Forscher an der LSE über sozialen und politischen Wandel in der Türkei
Ozan Sakar, Investment Banker für Europa, den Nahen Osten und Nordafrika
Kommentar einer Türkei-Expertin zu „Der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte“ (Übersetzung aus dem Englischen von Gaby Matzner, leicht gekürzt)
Natürlich hat die Regierungspartei AKP ihre parlamentarische Mehrheit genutzt, wie es jede Partei tun würde, und sie war bisher für rund 10 Jahre bei Wahlen erfolgreich. Sie repräsentiert eine schweigende Mehrheit und man muss ihr doch einiges Positives zubilligen: erstmals überhaupt wurden etwa Nicht-Muslime in Konsultationen bei der Vorbereitung von Verfassungsreformen einbezogen.
Über Twitter wurden auch viele Falschmeldungen verbreitet, was über die sozialen Medien von vielen Demonstranten anerkannt wurde.
Was in der Stellungnahme (der türkischen Intellektuellen, Anmerkung der Übersetzerin) nicht zur Geltung kommt, ist die Tatsache, dass die türkische Führung in sich gespalten, kein monolithischer Block ist. Der Außenminister und der Präsident haben alle ihre eigene Klientel.
Offensichtlich gibt es eine starke zivile Gesellschaft.
Der Polizei fehlt es an Ausbildung, sie sollte grundlegende Regeln einhalten, die Situation ist ihnen aus dem Ruder gelaufen und sie hatten keine Ahnung, wie man mit einer solchen Demonstration umgeht. Die Videos zeigen neben der offensichtlichen Brutalität, wie chaotisch die Polizei agierte, nicht einmal in der Lage war, das Terrain wirksam abzuriegeln. Die Polizisten fürchteten sich nicht weniger als die Demonstranten.
Ein anderes Problem der letzten Jahre in der Türkei ist der Mangel an einer effektiven parlamentarischen Opposition, die nicken zumeist alles unterwürfig ab.
Aber vergessen wir nicht, dass im Westen bisweilen ebenfalls Demonstranten zusammengeschlagen werden, und was Medienfreiheit betrifft: was ist mit Griechenland?