Ohne demokratischer Kultur, ohne Bruch mit einer Parteiräson, die sich zwar verschoben und transformiert, in ihren grundsätzlichen Ansprüchen allerdings seit 120 Jahren nicht verändert hat, wäre selbst die demokratischste Parteistruktur nicht mehr als ein postdemokratischer Event.
Von Thomas Reithmayer
„Es muss klar sein für jedermann, daß alle, die in der Partei stehen, dasselbe Ziel mit denselben Mitteln verfolgen. (…) Wer von diesen Grundsätzen der Sozialdemokratie nicht überzeugt ist, der mag ein sehr tüchtiger, gescheiter, ehrlicher Mann sein – Sozialdemokrat unser Parteigenosse ist er nicht. Mit ihm ist vielleicht Diskussion möglich nie aber gemeinsame Arbeit“ (Adler 1891/1929: 112f.).
Mit einem Artikel in der Arbeiter-Zeitung vom 20. November 1891 initiierte Victor Adler eine Debatte zur Frage der Parteiorganisation.i Diese drehte sich vor allem um die am Parteitag anstehenden Entscheidungen bezüglich der Wahl von Delegierten, der Funktion der sozialdemokratischen „Vertrauensmänner“ und den Aufgaben der Parteileitung. Adler sollte sich – wie es sich für Vorsitzende der österreichischen Sozialdemokratie gehört – durchsetzen. Die von ihm vorgeschlagenen Bestimmungen sind weitgehend noch heute gültig.
Für diesen Beitrag sind sie allerdings kaum relevant, ein Blick ins Parteistatut reicht um sie zu rekapitulieren. Spannend ist allerdings wie Adler diese Bestimmungen begründet, nämlich in dem er das Ziel und das Mittel der Sozialdemokratie definiert. Die hier dargestellte Vermutung ist, dass diese Definition Ausdruck einer – weitgehend impliziten – sozialdemokratischen Parteiräson ist, die ihre Wirkmächtigkeit bis heute nicht verloren hat. Diese Rationalität sozialdemokratischer Praxis könnte ein Erklärungsmodell für den Umstand anbieten, dass neben der undemokratischen Struktur der SPÖ, welche sich nicht wesentlich von der anderer österreichischer (Groß-)Parteien unterscheidet und zumindest den internationalen Standards der 80er Jahre entspricht, selbst die vorhandenen demokratischen Mittel, über welche Parteimitglieder verfügen, kaum genutzt werden.ii
Was ist nun Adler zufolge das Ziel der Sozialdemokratie?
„Die Sozialdemokratie will den Sieg des Proletariats im Klassenkampf“. In Zeiten des Fiskalpakts, nach 55 Jahren Regierungsbeteiligung und nach unzähligen von der Sozialdemokratie getragenen Sparpaketen, deren Lasten vor allem die Lohnabhängigen und sozial Schwachen zu tragen hatten, scheint es eigentümlich zu behaupten, die Sozialdemokratie hätte dieses Ziel. Wie werden allerdings diese dem Ziel der Sozialdemokratie scheinbar widersprechenden Maßnahmen begründet?
In der Regel wird argumentiert, dass es aufgrund von Sachzwängen (die EU, die Weltwirtschaft, die Medien, die eigene Basis, …) keine Alternativen zu diesen Maßnahmen gäbe und dass im Rahmen der Möglichkeiten den Interessen der Arbeitnehmer_innen und sozial Schwachen bestmöglich genüge getan wurde. Diese Interessen weitestgehend zu verwirklichen ist für den überwiegenden Großteil sozialdemokratischer Funktionär_innen weiterhin Grundlage ihrer politischen Motivation. Obwohl es von bizarrem Bewusstsein zeugt, egal ob Faymann, Gusenbauer oder Klima, sie alle waren vermutlich davon überzeugt dieser Motivation entsprechend zu agieren.iii
Wie definiert Adler nun die Mittel, welche dieses Ziel verwirklichen sollen?
„Die Sozialdemokratie will den Sieg des Proletariats im Klassenkampf durch Eroberung der politischen Macht, durch Eroberung der Staatsmaschine, welche in ihren Händen aus einem Werkzeug der Unterdrückung ein Mittel der Befreiung wird und dann – in die Rumpelkammer geht. Sie will das Proletariat geistig und physisch befähigt machen, diesen Kampf zu führen, diesen Sieg zu erringen“ (S. 113).
Sobald also die „Staatsmaschine“ in Händen der Sozialdemokratie ist, verwandelt sie sich quasi automatisch in ein Werkzeug der Befreiung. Diesem Ziel beigestellt ist die Aufgabe das Proletariat zu befähigen diesen Kampf zu führen. Adler zufolge ist dabei die Eroberung der „Staatsmaschine“ das einzig erfolgversprechende Mittel, welches den Sieg des Proletariats bewerkstelligen kann. Unter denjenigen, welche diese These nicht teilen, befinden sich dementsprechend:
„[S]ehr viele brave und tüchtige Leute, mit denen wir diskutieren können, sollen und müssen, für deren ehrliches Streben wir alle Anerkennung haben können, mit denen wir aber keineswegs gemeinsam politisch arbeiten können, weil sie andere Ziele haben und andere Wege einschlagen wollen als wir“ (S. 112f.).
Auch wenn diese Aussage wohl von kaum jemanden mehr innerhalb der Sozialdemokratie ohne Relativierung unterschrieben werden würde, der Anspruch im Rahmen der sozialdemokratischen Bewegung – oder anders ausgedrückt innerhalb der roten Reichshälfte – quasi eine Gegen- oder Parallellgesellschaft auszubilden, innerhalb derer, und nur derer, alle politische Aktivität stattfindet, gehört keineswegs der Geschichte an. Sie charakterisiert heute mehr noch als in der Zeit als diese Konzeption zumindestens mit einer gesellschaftlichen Utopie verbunden war, die Biographien sozialdemokratischer Spitzenfunktionär_innen.
Dem Projekt der Eroberung der „Staatsmaschine“ durch die Partei sind also alle weiteren Aktivitäten untergeordnet. Alles, was innerparteilich gedacht, diskutiert, erarbeitet und entschieden wird, muss in letzter Konsequenz immer darauf abzielen die politische Regierung zu stellen.iv Wer diesem Anspruch widerspricht, disqualifiziert sich nicht nur als Sozialdemokrat_in, sondern auch als Subjekt mit dem gemeinsame politische Arbeit möglich ist und fungiert bestenfalls als Diskussionspartner_in, der_die vom sozialdemokratischen Weg überzeugt werden sollte. Diesem Regierungsimperativ sind programmatische Inhalte zumindestens gleichgesetzt, schließlich ist „der Weg (…) für den Kampf von heute genau ebenso wichtig als das Ziel“ (113). So warnt Adler explizit vor „jener falschen Auffassung, welche die Grenzen der Partei zu enge zieht, welche ängstlich jedes einzelne Wort des Programms förmlich als Dogma geheiligt (…) wissen will“ (ebd.).
Zusammenfassend lässt sich also sagen: Sozialdemokrat_in ist, wer einen Beitrag zur Verwirklichung ihrer Grundwerte auf dem Weg der politischen Regierung leisten will. Während im Rahmen dessen durchaus divergierende inhaltliche Ansätze nebeneinander existieren können, muss über die Rolle der Regierung absolute Einigkeit bestehen.v
Inhalt
Der Regierungsimperativ als sozialdemokratischer Pferdefuß
Sozialdemokratisches Regierungshandeln hatte, gerade in Anbetracht der Ausgangssituation, die Lebensbedingungen für jeden und jede nachvollziehbar begünstigt, bzw. hat es zumindest Schlimmeres verhindert. Das Ziel der Sozialdemokratie, die Interessen der Arbeitnehmer_innen und sozial Schwachen zu verwirklichen, konnte so zumindest in einzelnen aber nicht unwesentlichen Teilaspekten gelingen. Bis zu einem gewissen Grad hat die partielle Eroberung der „Staatsmaschine“ eine ermächtigende Wirkung gezeigt. Aber ist die Eroberung der „Staatsmaschine“ wirklich das einzige Werkzeug der Befreiung und kann die „Staatsmaschine“ aus sich selbst heraus überhaupt die Form des Werkzeuges annehmen?vi
Ermächtigende Praktiken finden eben nicht nur und nicht einmal vorwiegend in Form staatlichen Handelns im engeren Sinn statt. Ob die Tätigkeit von gemeinhin als privat oder zivilgesellschaftlich bezeichneten progressiven oder emanzipatorischen Initiativen, Institutionen und Zusammenhängen, oder auch ganz simpel kollektive und solidarische Alltagspraxen einzelner, sie alle können eine befreiende Wirkung auf herrschaflich nicht privilegierte Menschen zeigen. Letztlich sind die ermächtigenden Effekte sozialdemokratischer Praxis in den politischen Institutionen nichts qualitativ verschiedenes. Ermächtigend kann staatliches Handeln im engeren Sinn, schließlich auch nur durch die alltäglichen Praktiken der handelnden Personen werden. Das Spezifikum der Sozialdemokratie ist es folglich nicht den richtigen Weg entdeckt und für sich gepachtet zu haben, sondern sich einem der möglichen Mittel gesellschaftlicher Emanzipation prioritär zu widmen.
Die Schlussfolgerung klingt banal, wird sie allerdings geteilt, impliziert dies einen Bruch mit einer sozialdemokratischen Rationalität welche nicht nur die Parteiführung verinnerlicht hat, sondern nicht zuletzt auch bis zu einem gewissen Grad jene die danach trachten sie zu demokratisieren. Die Arbeit innerhalb der politischen Institutionen als eines von vielen nicht privilegierten Mitteln zu verstehen, bedeutet keineswegs auf sie zu verzichten, es impliziert allerdings eine strategische Rekonzeption zu vollführen. Die zentrale Frage kann dann nicht mehr sein, wie die „Staatsmaschine“ bestmöglich von der Sozialdemokratie zu erobern ist, vielmehr geht es darum nach Wegen zu suchen, wie sich ihre Arbeit in den politischen Institutionen, ihr etwaiges Regierungshandeln, in ein Ensemble ermächtigender Praktiken einordnen kann und zwar in einer Form, welche die weitere Entwicklung der Bestandteile dieses Ensembles bestmöglich begünstigt.
Es ist eben nicht notwendig, jene, die außerhalb der Sozialdemokratie stehen mittels Diskussion vom sozialdemokratischen Projekt zu überzeugen, um sie gleichsam in selbiges zu integrieren, damit dann kontinuierliche gemeinsame Arbeit überhaupt erst möglich wird. Vielmehr sollte die Auseinandersetzung mit anderen emanzipatorischen und progressiven Initiativen, Zusammenhängen und Einzelpersonen gesucht werden, um Verknüpfungen mit diesen zu finden und Praktiken zu entwickeln welche unterschiedliche Ansätze gegenseitig stützen.
Nun soll nicht behauptet werden, das würde im Rahmen der sozialdemokratischen Bewegung nicht passieren. Allerdings untergräbt die Unterordnung unter den Regierungsimperativ diese Bemühungen regelmäßig und umfassend. So sehr sich einzelne Sozialdemokrat_innen oder sozialdemokratische Strukturen darum bemühen mögen, etwa antirassistische Arbeit zu leisten und das Vertrauen antirassistischer Initiativen zu gewinnen, spätestens wenn der Parlamentsklub im Blick auf Krone, Strache und den „kleinen Mann“, ein neues rassistisches Asylgesetz inklusive Zwangsernährung beschließt, ist viel des Bemühens wiedermal „für die Würscht“.
Nochmal: es geht nicht darum, der Regierung zu entsagen. Würde die Sozialdemokratie auf diesen Anspruch verzichten, verlöre sie letzten Endes ihre Daseinsberechtigung. Allerdings ist Regieren als der sozialdemokratischen Weisheit letzter Schluss eine fundamentale Selbstbeschränkung der eigenen Handlungsfähigkeit. Eine Beschränkung, die, wenngleich immer schon existent, sich unter postdemokratischen Bedingungen neu artikuliert.vii
Regierung ist kein Selbstzweck
Die Aktivität innerhalb der politischen Institutionen und auch die Beteiligung an Regierungen kann entsprechend politischer, ökonomischer und gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse zur Verwirklichung sozialdemokratischer Grundwerte prozessural beitragen. Es mag allerdings Situationen geben (und in Anbetracht dessen, dass in Österreich seit 29 Jahren eine rechte Mehrheit existiert, dürften diese gar nicht so selten sein) in der die Oppositionsbank zwar hart ist, aber keinesfalls stinkt.viii Sie kann Zeit und Möglichkeiten bieten um Verknüpfungen herzustellen, interne wie externe Debatten zu initiieren, Programme zu entwerfen und Kämpfe zu führen, in denen verschiedenartigste Elemente zum Einsatz kommen. Schließlich könnte dies als Grundlage eines erneuerten sozialdemokratischen Regierungprojekts dienen, welches glaubhaft vermitteln könnte, den grundlegenden Zielen der Sozialdemokratie zu entsprechen oder ihnen zumindestens mal nicht fundamental zu widersprechen.
Wer die sozialdemokratische Partei demokratisieren will, darf sich vordergründig nicht nur die Frage nach demokratischen Strukturen stellen. Ohne demokratischer Kultur, ohne Bruch mit einer Rationalität, die sich in der Partei zwar immer wieder verschoben und transformiert hat, allerdings in ihren grundsätzlichen Ansprüchen seit 120 Jahren erhalten blieb, wird selbst die demokratischste Struktur zum postdemokratischen Event. Kann die Sozialdemokratie diesen Bruch nicht bewerkstelligen, verliert sie ihren Status als möglicher Motor zur Verwirklichung gesellschaftlicher Freiheit, Gleichheit und Solidarität unter progressiven Personen und Zusammenhängen endgültig und wohl auch endlich. Aufgrund ihrer innerparteilichen Pluralität und Vielfalt werden in die österreichische Sozialdemokratie in viel stärkerem Ausmaß als bei vergleichbaren Schwesterparteien, Hoffnungen projiziert, ist sie deshalb in letzter Zeit vor allem Objekt von Wut und Enttäuschung, wird sie an ihren Ansprüchen gemessen, etc. Je mehr die sozialdemokratische Bewegung zum sozialdemokratischen Wahlverein verkommt, desto stärker werden auch die letzten Hoffnungen die in sie gesetzt werden verloren gehen, desto dringender wird nach Alternativen zu ihr gesucht werden und desto wichtiger wird es diese Alternativen auch zu finden.
Abschließend ein paar spekulative Ansätze, welche die beschriebene Rationalität wenn schon nicht brechen, so doch zu mindestens zum Gegenstand kontroversieller Debatten machen könnten. Ob ihre Überwindung innerhalb der real existierenden Sozialdemokratie überhaupt zu verwirklichen wäre, bleibt zwar mehr als fragwürdig, allerdings könnte die Thematisierung Fronten klären, Akteur_innen dazu zwingen Position zu beziehen und dazu beitragen, potentielle Verbündete für emanzipatorische Politik in- und außerhalb der Partei zu identifizieren und zu gewinnen.
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Wenn schon Regierung, warum kein ausgearbeiteten Regierungsprojekt, für das in Kauf genommen wird, auch in die Opposition zu gehen? In Zeiten in denen die Sozialdemokratie bundesweit beständig unter 30% liegt, ist die einzige Festlegung im Bezug zu Regierungsbeteiligungen, eher nicht mit der FPÖ zu wollen und im Fall einer absoluten Mehrheit allein zu regieren. Wenn die Umsetzung des Programms immer vom Wahlergebnis abhängt, der Wille zur Regierungsbeteiligung allerdings nicht, kann das Programm noch so demokratisch ausgearbeitet sein, ändern würde sich nichts. Natürlich zeigt der Blick gen Deutschland, dass ein Rot-Grünes Regierungsprojekt, selbst wenn es vorbereitet ist, keinen Fortschritt gewährleistet. Aber ein gemeinsam ausgearbeitetes Regierungsprojekt mit Oppositionsbedingung wäre zumindest ein Ansatz, um etwa progressiven zivilgesellschaftlichen Initiativen einen Raum zu bieten, ihre Interessen nicht nur einzubringen, sondern dabei auch Chancen zu haben, in einem Regierungsprogramm und seiner Umsetzung berücksichtigt zu werden.
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Wenn schon Regierung, warum nicht den Parteitag oder auch alle Mitglieder der Partei über Regierungsverhandlungen und das Regierungsübereinkommen entscheiden lassen? Genauso wie die Festlegung auf Rot-Grün gewährleistet dies vorerst genau gar nix, allerdings würde es ein Forum der legitimen Auseinandersetzung schaffen: Ein Forum in dem einzelne Protagonist_innen innerhalb der Partei, vom Vorstandsmitglied bis zur Sportreferentin einer Sektion, sich positionieren müssten und somit eine Möglichkeit geschaffen wäre, eigene Überlegungen zu artikulieren. Parteiinterne Opposition müsste sich dann auch nicht darauf beschränken, im fraktionspolitischen Stellungskrieg besser vernetzt zu sein, um sich auf diesem Weg in das Regierungsprogramm einzuschreiben, sondern sie bekäme vermehrt Möglichkeiten, Auseinandersetzungen mittels der Vermittlung politischer Inhalte zu führen.
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Wenn schon Regierung, warum immer nur an eine ihrer Ebenen denken? Das viel diskutierte Problem, wie „trotz“ einer großen Koalition im Bund Länder und Gemeinden „gehalten“ oder erobert werden können, ist ein Symptom des Regierungsimperativs. Summa Summarum bleibt der Begriff der Regierung eine Chiffre für die Bundesregierung. Allerdings finden sich Institutionen der Regierung zu Hauf sowohl auf europäischer-, inter-, bzw. transnationaler aber auch auf der lokalen und betrieblichen Ebene. Anstatt zu überlegen wie sozialdemokratisches Handeln in diesen unterschiedlichen Ebenen dem Ziel die Bundesregierung zu stellen dienlich sein könnte, ist ebenso die Frage zu stellen in welcher Art und Weise dieses Ziel erreicht werden kann ohne die Handlungsfähigkeit in anderen Ebenen nicht nur nicht zu begrenzen, sondern auch möglichst weiter zu entwickeln.
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Schließlich: Wenn schon Regierung, warum zwangsläufig versuchen ihr die_den Parteivorsitzende_n vor zu setzen? Die Aufgabe der Sozialdemokratie ist es eben nicht nur im Rahmen politischer Institutionen zu wirken. Dies erkannte auch schon Adler im zitierten Artikel, wenn er das paternalistische Ziel vorgibt, „das Proletariat geistig und physisch befähigt [zu] machen, diesen Kampf [um die Staatsmacht] zu führen.“ Die Sozialdemokratie ist nicht nur Parteiorganisation, sie war und ist gleichermaßen Kultur- und Bildungsorganisation. Allerdings kann es nicht das einzige Ziel dieser vielfältigen Formen von Organisation sein, die Staatsmacht zu erringen. Letzten Endes kann dies nur sein einen Rahmen der Selbstermächtigung der Arbeitnehmer_innen und sozial Schwachen zu entwickeln, zu erkämpfen und zu realisieren. Die Führung eben dieser Bewegung, ist in den letzten Jahrzehnten allerdings immer gleichzeitig die Führung der sozialdemokratischen Regierungsfraktion, bzw. in Oppositionszeiten des Parlamentsklubs, während die Bundesgeschäftsführung ihren verlängerten Arm darstellt. Dementsprechend wird auch die Bewegung in vielerleit Hinsicht bereitwillig geopfert um die Handlungsfähigkeit der Partei auf der Ebene der Regierung zu sichern. Zwischen diesen beiden Ebenen zu differenzieren, sie jeweils mit einer eigenen Job-Description zu versehen, könnte diese Sachzwanglogik zumindestens problematisieren.
Soll es der Sozialdemokratie gelingen bestimmte Grundwerte umfassend zu verwirklichen, reicht der Anspruch die Bundesregierung zu stellen bei weitem nicht aus. Wenn die Neoliberalen in den letzten Jahrzehnten etwas bewiesen haben, dann dass die Ebene der Zivilgesellschaft zu bespielen, ein langfristiges Konzept zu entwickeln, sich trotz gravierender Divergenzen umfassend international zu vernetzen und die Ebene der Regierung als ein nicht privilegiertes Element dieses Projekts zu verstehen, deutlich mehr Erfolg verspricht, als schnellstmöglich das bestmögliche Wahlergebnis zu erstreben. Es wird Zeit dies endlich anzuerkennen, auf dieser Basis die eigene Lage zu analysieren und daraus folgernd auch etwaig unbequeme und radikale Konsequenzen zu ziehen.
Fußnoten
i Abgedruckt in: Adler, Victor: Aufsätze Reden und Briefe. VI. Heft: Victor Adler der Parteimann; Wien: 1929
ii Alleine die Tatsache, dass es auf einem Bundesparteitag SPÖ seit mittlerweile 45 (!) Jahren keine Kampfabstimmung bezüglich der Wahl zum_zur Parteivorsitzenden mehr gab, macht dies überdeutlich.
iii Diese Kontinuität bringt etwa Alfred Gusenbauer, acht Tage (!) nach seinem mit Werner Faymann verfassten Brief an die Krone, in einem Kommentar im Standard zum Ausdruck, indem er zum siebzigsten Todestag Otto Bauers unter anderem festhält:
„Was bleibt von Otto Bauer, dem revolutionären Denker, der den Marxismus nie als starres Lehrgebäude betrachtete, sondern die jeweils aktuelle politische Situation aus den Machtverhältnissen in der Gesellschaft heraus begriff? Damals wie heute geht es in der Politik um die Lebenschancen der Menschen, die wir Sozialdemokraten innerhalb der sozialen Demokratie am gerechtesten gewahrt sehen. In der Zweiten Republik hat sich besonders Bruno Kreisky bemüht, einen sozialdemokratischen Etatismus im Sinn des Staatsverständnisses des Austromarxismus politisch umzusetzen – und prägte damit die 1970er.“
http://www.bka.gv.at/site/cob__30904/currentpage__5/5910/default.aspx
iv Dabei kam es allerdings in der Geschichte der Partei zu einem relevanten Bruch: Ursprünglich wurde einzig und allein die Alleinregierung angestrebt und Koalitionen nur im Moment des so genannten „Gleichgewichts der Klassenkräfte“ (Otto Bauer) erlaubt, ein Zustand der äußerst eng interpretiert wurde. Nach dem zweiten Weltkrieg wurde die Annahme dieses Gleichgewichts vorerst immer weiter ausgelegt und verlor schließlich weitgehend ihre Funktion als Begründungsfigur für die Teilnahme an Koalitionsregierungen. In der zweiten Republik war die SPÖ in 56 von 67 Jahren an der Regierung beteiligt. Abgesehen von der ÖVP-Alleinregierung 1966-1970 war die SPÖ sowohl 1999/2000 als auch 2002 zu weitgehenden Konzessionen bereit, um doch an der Regierung beteiligt zu sein, die ÖVP entschied sich jedoch dagegen.
v Dies könnte ein Hinweis sein, warum, etwa im Gegensatz zur SPD, ein höheres Maß der Duldung gegenüber divergierenden inhaltlichen Ansätzen existiert. Während die SPD, wie etwa am Beispiel des SDS nachvollzogen werden kann, deklariert oppositionelle Zusammenhänge ausschloß, gelang es der SPÖ immer wieder diese in ihr Regierungsprojekt zu integrieren und somit, bis zu einem gewissen Grad, zu domestizieren (eine anspruchsvolle Biographie von Josef Cap könnte die dabei tätigen Mechanismen vermutlich eindrucksvoll belegen). Problematisch wird innerparteiliche Opposition nur dann, wenn die Regierungslogik in Frage gestellt wird. Dann werden in einer Partei, in der einzelne anerkannte Funktionär_innen sich problemlos etwa auf Marx, Engels oder gar Lenin berufen können, schon mal die Aktivist_innen des im Gegensatz dazu inhaltlich angepasster erscheinenden Studierendenverbands als „gewaltbereite kommunistische Bummelstudenten“ (Alfred Gusenbauer) bezeichnet.
vi Ganz abgesehen davon, dass die Auffassung des Staates als Maschine die mittels Stimmzettel oder Sturm auf das Winterpalais einfach erobert und dann „richtig“ eingesetzt werden muss, historisch immer wieder aufs neue eindrucksvoll widerlegt wurde und viel eher vom Staat als „spezifische Verdichtung eines Kräfteverhältnisses“ (Poulantzas) ausgegangen werden sollte. Ein Kräfteverhältnis das sowohl der Sturm auf das Winterpalais, als auch der Stimmzettel massiv beeinflussen kann, das allerdings auch über eine Vielzahl weiterer Bestimmungsfaktoren verfügt. Zur Staatstheorie Poulantzas vgl.: http://www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/Standpunkte/Standpunkte_30-2011.pdf
vii Zum Begriff der Postdemokratie, vgl. folgendes Interview mit Colin Crouch: http://supertaalk.at/2011/11/08/postdemokratie-colin-crouch-im-interview/ Trotzdem seine Einschätzung der Verlagerung politischer Entscheidungskompetenz von den politischen Institutionen, hin zu demokratisch nicht oder kaum legitimierten transnationalen Zusammenhängen und Institutionen, sowie wirtschaftlicher Akteur_innen weitgehend zutreffend sein mag, sollte doch auch berücksichtigt werden, dass die Entscheidungsfindung innerhalb dieser politischen Institutionen, vor dem „postdemokratischen Zeitalter“ nicht unbedingt demokratischer war. Sprich jaZwar ist die selbst wahrgenommene Handlungsmacht von etablierten Parteien ist unter postdemokratischen Bedingungen beschränkter als etwa in den 50er Jahren. Die Einschätzung, dass in der SPÖ eines Schärf, Helmer und Olah die Parteibasis über mehr Möglichkeiten demokratischer Willensbildung verfügte, ist dann wohl doch sehr gewagt.
viii So hat die Oppositionszeit der SPÖ von 1999 – 2006 durchaus erneuernde Effekte und viele negative innerparteiliche Dynamiken verlangsamt, gestoppt und zeitweise durchaus verändert. Die SPÖ und ihre Gliederungen – vor allem die in dieser Zeit prosperierenden Jugendorganisationen – brachten sich massiv in die Bewegung gegen Schwarz-Blau, in die Anti-Globalisierungs- und Anti-Kriegsbewegung ein, es kam zu den größten Streikbewegungen der zweiten Republik, sogar in der Logik der Regierung führte die Verbannung aus der Bundesregierung zur einzigartigen „Eroberung“ von Bundesländern, Gemeinden und Interessensvertretungen, zur Rückgewinnung längst verloren geglaubter absoluter Mehrheiten, etc. Die fehlende Festlegung auf ein klar akzentuiertes Alternativprojekt zu Schwarz-Blau, eines Projekts für das etwa auch der weitere Verbleib auf der Oppositionsbank in Kauf genommen werden würde, zeigte allerdings dass all diese Entwicklungen trotzdem keinen nachhaltigen Bruch bewerkstelligen konnten.
Wie wahr! Dem Regieren wird alles geopfert, auch (scheinbar) Regierende – auf der praktischen Ebene heisst das, dass nur ganz wenige in der Partei das Sagen haben. Alle anderen ordnen sich dem unter und wagen es nicht, gegen Unrecht aufzustehen oder eigene Akzente zu setzen. Dabei ist das Regieren inhaltsleer, wenn es nur darum geht, Personen in Apparate zu setzen, ohne sie dort auch wirken zu lassen.
Die Sozialdemokratie wäre weder gegründet worden noch je in Parlamente gelangt, hätten nicht Menschen als Menschen und nicht bloss Apparatschiks agiert. Hätte es keine Betroffenheit gegeben, keine Verbindung zu Anliegen, für die es sich zu kämpfen lohnt. Nun aber wird für „Scheisskarrieren“ (anders kann man sie nicht nennen) jedwede Individualität aufgegeben – alles, was überhaupt erst die Voraussetzung dafür ist, dass Menschen an egal welchem Platz in der Gesellschaft gestalten können.
Die „Scheisskarrieren“ bestehen darin, alles abzunicken, sich formelhaft auszudrücken, nie auch nur den geringsten Zusammenhang zwischen diesen Formeln und sich selbst, der politischen Arbeit, den Menschen, die man angeblich vertritt herzustellen.
„Scheisskarrieren“ basieren auf Schein, die leeren Apparatschiks bestätigen einander gegenseitig und verleihen einander Orden dafür, apolitisch zu denken und zu handeln.