Über kaum existente Differenzen und ihre rhetorische Aufblähung
Gastbeitrag von Manuela Hiesmair und Jakob Kapeller*
Dem (Wahn-)Sinn marxistischen Denkens aus österreichischer Perspektive widmeten sich zuletzt zwei Artikel auf TELEPOLIS (nämlich „Der Marxismus der Konservativen“ und „Der Konservatismus der selbsternannten Reformisten„). Dabei gelang den Autoren, fünf Männern, vor allem eines: Aneinander vorbei zu schreiben und kaum existente Differenzen in der politischen Praxis bei der theoretischen Betrachtung als unüberwindbare Gräben darzustellen.
Das Erbe des Marx’schen Euvres
Die Last des Marx’schen Erbes ist mit Sicherheit keine leichte: So sind die zahlreichen Schriften und Dokumente aus den Federn von Marx und Engels keineswegs frei von Widersprüchen und Ambivalenzen. Bezieht man abseits ihrer Schriften noch ihre persönliche Korrespondenz in die Überlegungen mit ein, wird klar, dass den Theoretikern bei weitem nicht alles so klar war, wie es dem Anschein entspricht, den sie in ihren Texten erwecken. Oder um mit Friedrich Engels zu sprechen: „Das Proletariat thut, wir wissen nicht was, und können’s kaum wissen.“ (Brief Engels an Marx 17. März 1845, MEGA Band 12, S. 273)
Dieses Spannungsfeld ist auch die wesentliche Basis aller folgenden Debatten; die gedankliche und thematische Breite des Marx’schen Euvres liefert je nach gewünschter Intonation die nötigen „theoretischen Grundlagen“ für unterschiedlichste „orthodoxe“ Theoriekonstrukte. Egal ob MarxistInnen, LeninistInnen, MaoistInnen, TrotzkistInnen oder AustromarxistInnen – jede dieser Strömungen und ihre jeweilige Lesart lassen sich letztlich, bei Betonung der „richtigen“ und außer Acht lassen der „falschen“ Stellen, irgendwie und irgendwo auf den großen alten Mann mit dem Bart zurückführen.
Dass der letztgenannte Punkt, nämlich dass es den „einen“ orthodoxen Marxismus so gar nicht gibt, von Dobusch/Kowall wider besserem Wissen übersehen wurde, ist von Dvorak et al. korrekterweise kritisiert worden. Das nützt aber leider nichts, wenn sich letztere abschließend in den diffusen Allgemeinplatz der „theoretischen [marxistischen] Fundierung“ von „Analyse und Strategie“ zurückziehen und so exakt denselben Fehler von Neuem begehen, nämlich sich selbst in diesem Gewirr nicht klar zu positionieren.
Das Kreuz mit der marxistischen Eschatologie
Nicht zuletzt ob dieser unterschiedlichen Lesarten streiten die VertreterInnen diverser Strömungen auch heute noch darum, die einzig „richtige“ Interpretation des Marx’schen Werkes zu liefern. Ohne auf die zahlreichen philosophischen und wirtschaftstheoretischen Spannungsfelder im Detail eingehen zu können, ist eine grundlegende Ambivalenz von zentraler Bedeutung: Sollen die Thesen von Marx und Engels nun als unabdingbare und wörtlich zu verstehende, „wissenschaftlich fundierte“ Heilslehre oder als nebeneinander stehende Thesen, die vielleicht oder auch nicht analytisch brauchbar sein könnten, verstanden werden. Dies ist letztlich der hermeneutische Hintergrund der von Dobusch, Kowall, Dvorak und Konsorten neu aufgerüttelten Revisionismusdebatte; es geht schlicht um Fragen der Interpretation.
Der erste Ansatz führt uns geradewegs zurück in das Babylon der „marxistischen Orthodoxien“. Also hin zu den teilweise mittelschwer sektoiden Grüppchen derer, die um die korrekte Exegese des Marx’schen Euvres rittern und deren Katechismen oft mit unerwarteter Brutalität aufeinander prallen. Gemeinsam ist diesen konkurrierenden Interpretationen meist nur, dass ihr gemeinsames Heil in der Revolution liegt. Es ist dieser Ansatz, der eine sinnvolle Diskussion der Marx’schen Thesen so schwierig macht und der zu Recht von Dobusch/Kowall als „Dogmatismus“ kritisiert wird. Eine Leistung, die die Replik von Dvorak et al. nicht sehen kann, nicht sehen will oder zumindest nicht gerne sieht. Es ist aber auch durchaus ein Kardinalfehler von Dobusch/Kowall zu übersehen, dass Marx durchaus mehr hergibt, als den von ihnen kritisierten plumpen Dogmatismus.
Dogmen oder (Hypo-)Thesen
Marx selbst war sich sehr wohl bewusst, dass seine wissenschaftlichen Ausführungen oftmals rein hypothetischen Charakter hatten, wurden sie im internen Sprachgebraucht ja oft bloß als Arbeitshypothesen bezeichnet. In diesem Zusammenhang macht es Sinn auf den leider viel zu früh verstorbenen österreichischen Sozialwissenschafter Egon Matzner zu verweisen, in dessen kleiner Abhandlung „Zur Aktualität der Marx’schen Wirtschaftslehre“ die eben beschriebenen Interpretationsweisen folgendermaßen unterschieden werden:
„Die von Karl Marx im ‚Kapital‘ aufgestellten ‚Thesen‘ über die Entwicklungstendenzen des kapitalistischen Systems sowie die dabei verwendeten Forschungsmethoden können entweder als allgemein gültige Dogmen oder als beschränkt gültige Arbeitshypothesen aufgefasst werden. Der erste Weg ist für marxistische und antimarxistische Dogmatiker, der zweite für empirische Wissenschafter kennzeichnend.“ (Matzner, Egon: Zur Aktualität der Marx’schen Wirtschaftslehre, in: Sozialismus, Geschichte und Wirtschaft – Festschrift für Eduard März, Wien: Europaverlag, 1973. S. 33)
Leider erweisen sich sowohl Dobusch/Kowall, als auch Dvorak et al. als DogmatikerInnen im Sinne der obigen Definition. Sinnvoller als pauschal pro oder contra Marx zu argumentieren, wäre es, sich endlich einmal die Frage zu stellen, welche Thesen nun politisch und wissenschaftlich gesehen brauchbar, welche unbrauchbar, welche methodisch gesehen operational, welche inoperational sind und gleichzeitig – wie zurecht von Dvorak et al. eingeworfen – die Arbeiten der (Neo-)MarxistInnen als die Marx’sche Theorie ergänzende oder herausfordernde Inputs mit ins Auge zu fassen. So müssten auch Dobusch/Kowall bei der Lektüre des Bernstein’schen Werkes „Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie“ erkannt haben, dass es dem Autor nicht wie von ihnen unterstellt, darum ging, der Marx’schen Theorie den Todesstoß zu geben. Bernstein zielte darin auf eine Modifikation mancher Marx’scher Thesen ab und nicht auf eine vernichtende Kritik der theoretischen Grundlagen der Sozialdemokratie zur damaligen Zeit.
Reformismusdebatte neu?
Freilich lässt sich „Marx als Ganzes“ als deterministisches Geflecht verstehen, das der modernen Neoklassik nur allzu ähnlich ist; 1:0 für Dobusch/Kowall sozusagen. Doch umgekehrt gilt bei aller historischer Distanz, dass viele Einzelthesen oder gar zentrale Annahmen von Marx ein ehrliches Bemühen im Sinne eines erkenntnistheoretischen Realismus erkennen lassen, was wiederum einen scharfen Kontrast zur fiktionalen Konstruktion der Neoklassik bis in ihre kleinsten Axiome schafft; das 1:1 durch Dvorak et al. folgt daher stante pede.
Insgesamt sollten also die Bemühungen aller Autoren auf eine Analyse verschiedener Marx’scher Thesen hinsichtlich ihrer Operationalisierbarkeit für Politik und Wissenschaft hinauslaufen, um so die Praktikabilität Marx’schen Denkens sorgsam zu überprüfen. Leider ist die zentrale Schreibmotivation allzu oft dem Gegner geschuldet, dem man eine auswischen möchte (Kowall/Dobusch den Liberalen und „orthodoxen“ MarxistInnen, Dvorak et al. den ReformistInnen). Doch das ist letztlich nur der langweilige, habituelle Reflex einer jeden Orthodoxie – egal ob diese Reform oder Revolution predigt.
Interessanterweise ist bei genauerer Betrachtung der jeweils artikulierten Vorstellungen „richtiger“ sozialdemokratischer Politik zu erkennen, dass die beiden Positionen keineswegs diametral entgegengesetzt am Endpunkt des Spektrums zwischen „Reform“ und „Revolution“ angeordnet sind. Staatliche Verteilungspolitik als Ziel findet sich sowohl bei Dobusch/Kowall als „pragmatische Alltagspolitik“, genauso wie bei Dvorak et al. der Ausbau des Wohlfahrtsstaat und Umverteilung als Ergebnis fundierter „marxistischer Analysen von Gesellschaft, Staat und Ökonomie“. Während auf der theoretischen Ebene versucht wurde Unterschiede herauszuarbeiten, lassen sich bei den Entwürfen für die politische Praxis durchaus ähnliche Vorschläge zur Reform des kapitalistischen Systems finden. Und da sind wir beim springenden Punkt: Die fünf AutorInnen, so sehr Dvorak et al. auch eine Lanze für Marx brechen, argumentieren beide in der Tradition der ReformistInnen – manche mit wenig(er) Marx-Bezug (Dobusch/Kowall), manche mit mehr (Dvorak/Puller/Wenninger). Beim Versuch, sich voneinander verbal abzugrenzen geht den Autoren hier die gemeinsame Perspektive verloren, nämlich – wie ironischerweise in beiden Artikeln angedeutet – progressive, soziale und demokratische Politik zu gestalten. Das ist es nämlich, was übrig bleibt, wenn wir (mäßig gelungene) theoretische Exegese und (maßlos übertriebene) scholastische Polemik aus beiden Artikeln subtrahieren.
Anstelle also geduldig wie Dobusch/Kowall auf die „Selbsterkenntnis der GegnerInnen“ oder wie RevolutionsromantikerInnen auf den „revolutionären Umschwung“ zu warten, sollten die Autoren lieber mit intensivem Einsatz daran gehen, gemeinsam die Forderung nach einer progressiven theoriegeleiteten sozialdemokratischen Politik zu erheben, um dem gemeinsamen Außenfeind Neoliberalismus überhaupt Paroli bieten zu können. Dass sie nämlich mit Ihren Positionen in weiten Teilen der Sozialdemokratie praktisch gesehen gemeinsam eine Minderheit geworden sind, sollte nicht nur Ihnen letztendlich stärker zu denken geben, als ihre marginalen Differenzen.
*Zu den AutorInnen:
Manuela Hiesmair ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Gesellschafts- und Sozialpolitik der Universität Linz
Jakob Kapeller ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Philosophie und Wissenschaftstheorie der Universität Linz
merci!