Am Sonntag, den 23. April, steht die erste Runde der französischen Präsidentschaftswahl an. Während die Wahl in den europäischen Medien oft als Schicksalswahl für die EU bezeichnet wird, liegt der sozialistische Kandidat Benoît Hamon in Umfragen abgeschlagen auf dem fünften Platz. Die PES Activists Vienna haben Nicolas Leron, Präsident des progressiven Think Tanks EuroCité, einige Fragen zur Wahl und den Aussichten der Sozialdemokratie in Frankreich gestellt.
Q: Viele hochrangige Mitglieder der Sozialistischen Partei, unter anderem der letzte Premierminister Manuel Valls, haben ihre Unterstützung für den Zentrumskandidaten Emmanuel Macron erklärt, gegen den eigenen Parteikandidaten Benoît Hamon. Was bedeutet das für den Wahlkampf?
A: Mit Emmanuel Macrons Kandidatur ist eine interne Konfliktlinie der Sozialistischen Partei plötzlich ein externer und expliziter Konflikt geworden. Das wird auch dadurch befeuert, dass mit Benoît Hamon der Kandidat der linken Minderheitsfraktion der Partei die Vorwahlen zur Präsidentschaftskandidatur gewonnen hat. Das bringt die bisherige Mehrheitsfraktion in eine sehr unangenehme Position. Die meisten sozialistischen Parteispitzen müssen sich jetzt entscheiden zwischen Parteiloyalität und dem, was sie als glaubwürdige Regierungspolitik verstehen. Viele entscheiden sich, offen oder insgeheim, für Regierungsglaubwürdigkeit. Das heißt, dass die Sozialistische Partei, sollte Macron gewinnen, nicht als Regierungspartei überleben kann.
Q: Wie siehst du dann die Zukunft der Sozialistischen Partei (PS)?
A: Die französische PS, wie auch viele andere sozialistische oder sozialdemokratische Parteien in Europa, ist in keiner guten Situation. Wenn die Parlamentswahlen im Juni nach der Präsidentschaftswahl katastrophal ausgehen, könnte der Partei das gleiche Schicksal wie der griechischen PASOK widerfahren. Sie würde ihre hegemoniale Position auf der politischen Linken verlieren, und wenn das passiert, wäre sie nicht mehr in der Lage, die verschiedenen Lager und Flügel zusammenzuhalten, die sie zu einer großen Partei machen. Parteispaltungen und Fragmentierung der Linken wären die Folge.
Q: Gibt es im sozialistischen oder in anderen Programmen Vorschläge für eine aktive Industriepolitik – vor dem Hintergrund der starken französischen Tradition auf diesem Gebiet?
A: Der Hauptvorschlag von Benoît Hamon in dieser Hinsicht ist ein 1000 Milliarden schwerer europäischer „Marshallplan“. Hamons Programm ist hier stark europäisch geprägt. Die generell sehr starke europäische Orientierung ist ein interessantes Element seiner Kampagne, die sich dadurch erheblich vom anderen linken Kandidaten Jean-Luc Melenchon [ehemaliger PS-Politiker und jetzt unabhängiger, von der Kommunistischen Partei unterstützter Linkskandidat; Anm.] unterscheidet.
Q: Ein anderer Vorschlag von Hamon ist die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens. Wie wird er öffentlich aufgenommen?
A: Das bedingungslose Grundeinkommen war das symbolisch wichtigste Element von Hamons Projekt. Während der linken Vorwahlen hat sich der Vorschlag bezahlt gemacht – Hamon ist auch dadurch als der Kandidat der neuen Ideen und der Zukunftshoffnung wahrgenommen worden, und hat die linken AktivistInnen damit überzeugt. Aber jetzt, im Präsidentschaftswahlkampf, hat sich das ins Gegenteil verkehrt. Viele WählerInnen sehen den Vorschlag zwar als theoretisch gute Idee, aber utopisch an.
Q: Wie schon erwähnt, finden nach der Präsidentschaftswahl im Juni die Parlamentswahlen statt. Was können wir uns in der derzeitigen Situation, in der das politische System im Umbruch scheint, davon erwarten?
A: Es ist sehr wahrscheinlich, dass der neue Präsident keine starke und stabile Parlamentsmehrheit hinter sich haben wird. Das wäre ein großer Bruch in der Geschichte der Fünften Republik, die die längste Zeit im Prinzip ein Zweiparteiensystem war. Wir könnten stattdessen eine Rückkehr zum instabilen Parlamentarismus der Vierten Republik erleben, was wiederum eine Verfassungskrise auslösen könnte. Im Falle eines Sieges von Macron könnte es auch dazu führen, dass sich das System in drei Lager neu ordnet, mit einer großen und schwammigen pro-europäischen und marktwirtschaftlichen Mitte, und einer radikalen Linken und Rechten. Die Sozialdemokratie würde dadurch zerrissen.
Q: Das schwache Wirtschaftswachstum in Frankreich und Europa wird speziell von Linken oft mit einem Mangel an Investition und zu strikter Fiskalpolitik erklärt. Für Frankreich werden von anderer Seite oft strukturelle Probleme angeführt – etwa Deindustrialisierung, Handelsdefizite, ineffiziente öffentliche Verwaltung und ein unflexibler Arbeitsmarkt. Gibt es hier, auch aus einer progressiven Sicht, Raum für Kritik und Reformen?
A: Frankreichs Modell ist sicher nicht perfekt, und passt sich nicht gut in eine globalisierende Wirtschaft ein. Sozialer Dialog ist viel konfliktreicher als zum Beispiel in Deutschland. Die französische Wirtschaft hängt von ein paar wenigen, riesigen Firmen, speziell im Dienstleistungsbereich, ab. Kleine und mittlere Unternehmen sind nicht wirklich in der Lage, internationale Märkte zu bedienen und zu wachsen. Als SozialdemokratInnen sollten wir aber daran denken, dass das Problem nicht sein kann, in wie weit wir unsere Länder an den freien Markt anpassen können, sondern in wie weit wir den Markt regulieren und formen können, um soziale Gerechtigkeit herzustellen. Wir sollten daher Widerstand gegen eine angebotsseitige Reformagenda leisten.
Q: Der Front National (FN) mit Marine Le Pen kann sich ein starkes Abschneiden in der Arbeiterschicht ausrechnen. Wie lässt sich das erklären?
A: Der FN war schon bisher damit erfolgreich, ehemalige kommunistische WählerInnen aus der Arbeiterschicht zu gewinnen. Das kommt vor allem daher, dass sich die Partei als Verteidigerin der Armen, der Arbeitslosen, der Geringverdiener, also all jener, die sich als Verlierer des Systems, der Globalisierung, oder der Europäischen Union sehen. Es gibt außerhalb der Ballungszentren eine riesige Unzufriedenheit, die der FN einfängt. Die PS, so wie andere sozialdemokratische Parteien, hat ihre ideologische und soziologische Basis zu höher gebildeten urbanen Schichten verschoben. Während die PS zu einer marktfreundlichen und gesellschaftlich liberalen Partei wurde, ist der FN unter Marine Le Pen weg von der ultraliberalen und mit Rassismus gepaarten Programmatik der 1980er hin zu sozialstaatlichen und konservativen republikanischen Positionen gewechselt. Aber der FN muss auch seine traditionelle Wählerschicht im Südosten behalten, die wohlhabender und wirtschaftsliberaler als die neueren WählerInnen aus der Arbeiterschicht ist. Daraus folgt die Unschärfe im Wirtschaftsprogramm der Partei – und ein Mangel an Glaubwürdigkeit für die Mehrheit der FranzosInnen.
Q: Ist ein Sieg von Le Pen möglich, und was würde das für Europa bedeuten?
A: War das vor 5 oder 6 Jahren noch vollkommen unvorstellbar, ist es heute möglich – wenn auch nicht das wahrscheinlichste Ergebnis dieser Wahl. Die Zeiten haben sich also sicher sehr verändert. Was Europas Zukunft betrifft, scheint man in Deutschland mehr besorgt als in Frankreich. Es ist jedenfalls, genauso wie bei Trump, nicht wirklich vorhersehbar, was die Konsequenzen eines Le Pen-Sieges wären.
Q: Wie stehen die wichtigsten KandidatInnen zur EU und dem Euro? Siehst du Chancen für eine wiederbelebte deutsch-französische Achse, die die europäische Integration voranbringt?
A: Mit der Ausnahme von Macron sind alle KandidatInnen mehr oder weniger kritisch gegenüber Europa. Hamon schlägt einen neuen Vertrag zur Demokratisierung der Eurozone vor [entworfen von Thomas Piketty und KollegInnen, Anm.]. Fillon, der konservative Kandidat, will eine stärker von den nationalen Regierungen dominierte EU. Melenchon stellt explizit einen „Frexit“ in den Raum, genauso wie Marine Le Pen. Es gibt auch weitere, kleinere Kandidaturen gegen die EU. Viele pro-europäische Stimmen träumen von einem deutsch-französischen Duo Martin Schulz-Emmanuel Macron. Aber selbst falls das passieren sollte, ist es schwer zu glauben, dass die EU ohne wirklich tiefgreifende Reform so weitermachen kann wie bisher.
Q: Wie versucht die französische Linke die heutige religiöse und ethnische Vielfalt mit der starken Tradition des Laizismus und Republikanismus zu vereinen?
A: Normalerweise mit unaufgeregten und moderaten Positionen. Manuel Valls und seine UnterstützerInnen neigen aber dazu, diese Themen aufzubauschen, in dem sie sehr strenge laizistische Positionen einnehmen. Nach den Terroranschlägen in Paris 2015 haben Valls und Präsident Hollande ein Gesetzesprojekt zur leichteren Aberkennung der französischen Staatsbürgerschaft eingebracht, was von vielen als Verrat an linken Werten gesehen wurde. In jedem Fall übertönen diese gesellschaftlichen Fragen oft die sozialen und ökonomischen Probleme.
Fragen und Antworten gesammelt und übersetzt von Mario Gavenda.
Die Wahlen in Frankreich werden ganz bestimmt den Kurs von Eurpa bestimmen. Ein Austritt Frankreichs aus der Eu unter Le Pen ist nicht auszuschließen.