Ein Appell an IWF, EZB, Europäische Kommission, FinanzministerInnen und Europäischen Rat.
Günter Hager-Madun*
Seit mehr als hundert Tagen verhandeln die Politiker_innen der Eurogruppe und die Vertreter_innen der neuen griechischen Regierung über die Bedingungen, unter denen die noch ausstehenden 7,1 Milliarden Euro des zweiten Hilfspakets freigegeben werden. Bei der ursprünglichen Beschlussfassung über dieses Hilfspaket wurden mit der damaligen griechischen Regierung Bedingungen festgelegt, die eine Fortsetzung jener neoliberalen Politik bedeuten würden, die entscheidend zur Eskalation der ökonomischen und sozialen griechischen Krise beitrugen. Dem folgend ist es in höchstem Maße unvernünftig, an diesen Bedingungen festzuhalten. Wie ist es zu erklären, dass die europäischen Verhandlungspartner_innen das trotzdem tun? Ist es denkbar, dass sie das Kontraproduktive ihrer Bedingungen nicht erkennen? Dass sie den Menschen in Griechenland schaden wollen, ist bei den meisten eher unwahrscheinlich. Warum handeln sie dann so?
Der Extremunsinn der Institutionenforderungen: Sie verlangen eine Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit und in der wichtigsten Branche, dem Tourismus, eine MwSt, die um 10 %höher ist als im Wettbewerbsland Türkei! Damit sinkt die Wettbewerbsfähigkeit.
Lösen wir uns einmal von den Details und schauen wir uns die Sache grundsätzlich an. Was sich hier begegnet, sind zwei grundlegend verschiedene politische Auffassungen.
Erste Alternative: Das seit 25 Jahren herrschende neoliberale System, dessen Profiteure die Finanzoligarchie, die Großkonzerne, eine winzige Elite und eigennützige Politiker_innen sind. Propagiert wurde dieses System von den Vertreter_innen von 500 Millionen – zumindest großteils – ökonomisch leidlich abgesicherter Menschen, obwohl ein nicht unerheblicher Teil der (offenbar nicht) vertretenen Menschen mit diesem System nicht einverstanden ist.
Zweite Alternative: Eine Politik, die sich am Gemeinwohl orientiert und das Miteinander von Menschen, Unternehmen und Staaten in ihr Zentrum stellt. Propagiert von den Vertrer_innen von 11 Millionen unter prekärsten Umständen lebenden Menschen. Warum ist es für die 500-Millionen-Vertreter_innen so ein Problem, auf die Vorschläge der 11-Millionen-Vertreter_innen einzugehen? Sollte es in der europäischen Friedensunion einen Bürgervertreterinnen-Krieg geben? Soll Syriza von der politischen Bühne entfernt werden? Was könnte ökonomisch denn schon passieren, wenn die europäischen Politiker_innen die Vorschläge der griechischen Regierung annehmen? Weil Griechenlands Wirtschaft nur 2% der EU-Wirtschaft ausmacht, wäre es ein perfektes Experimentierfeld. Entweder die griechischen Vorschläge führen gemeinsam mit dem zu entwickelnden Wirtschaftsprogramm zu einer Verbesserung der Situation. Dann haben wir daraus etwas für die Lösung der EU-weiten Probleme gelernt. Oder die Vorschläge führen zu keiner Verbesserung, dann wird es leicht sein, gemeinsam mit ExpertInnen wie z.B. Joseph Stieglitz bessere Lösungen zu finden. Ob jetzt zu den hundert Milliarden, die das griechische Problem wegen der falschen Politik der Vergangenheit schon gekostet hat, noch ein paar dazu kommen, ist in Anbetracht der Chancen, die dieser Versuch bietet, unerheblich. Der gravierende Unterschied zur Vergangenheit: Bisher wurden keine Alternativen zur neoliberalen Austeritätspolitik zugelassen.
Jetzt würden die von unzähligen Wissenschaftler_innen seit Jahren empfohlenen Alternativen für ein Wirtschafts-Aufbau-Programm endlich aufgegriffen. Die Griechen schlagen das von Anfang an vor. Jetzt bietet auch Jean-Claude Juncker ein 35 Milliarden Euro Aufbau-Budget an.
Der Appell an IWF, EZB, Europäische Kommission, Finanzminister_innen und Europäischen Rat: Einen Tag vor dem Referendum Griechenland als zahlungsunfähig zu erklären, ist eine Erpressung, die alle „JA“ Stimmen abwertet und eine Anfechtung des Ergebnisses rechtfertigen würde. Im Zivilrecht ist Erpressung ein krimineller Akt. Hört auf, Eure staatspolitische Funktion zu missbrauchen, um Parteipolitik zu betreiben. Beendet den Krieg gegen Syriza. Versucht nicht eine gemeinwohlorientierte politische Bewegung als Chaostruppe zu diffamieren und in den Kontext gescheiterter Zwangssysteme zu stellen. Macht einen neuen Anfang. Strukturiert die griechischen Schulden nach dem von Tsipras gemachten Vorschlag um. Nützen wir Griechenland, um ein gemeinwohlschaffendes Wirtschafts- Entwicklungs-Programm für ganz Europa auf die Beine zu stellen. Holen wir uns das Geld, das wir dafür brauchen, von jenen, die es uns entziehen. Schließt endlich die Steueroasen. Verbietet Spekulationen – insbesondere solche auf Nahrungsmittel und Rohstoffe. Beendet den Steuerwettbewerb. Besteuert Vermögen, Unternehmen und Finanztransaktionen auf eine angemessene Weise. Nehmt Schattenbanken, Dark Pools, Trusts und Offshore Gesellschaften an die Kandare, über die jedes Jahr jene Milliarden am Fiskus vorbeigeschleust werden, die wir für eine wohlstandsichernde Europäische Union dringend brauchen. Zerteilt systemrelevante Banken.
Nicht der Abbau des Sozialstaates kann die Grundlage eines Wirtschaftsentwicklungsprogramms sein, sondern der Abbau der immer größer werdenden, skandalösen Ungleichverteilung. Die Botschaft an Alexis Tsipras: Lassen Sie sich von “JA“ Stimmen nicht entmutigen. Die sind in hohem Ausmaß der finanziellen Erpressung Griechenlands geschuldet. Sie haben mit Ihrem konsequenten Einsatz für eine Politik, die sich an Bedürfnissen der Menschen orientiert, Millionen Europäer_innen Hoffnung gegeben. Auf Dauer werden wir es gemeinsam schaffen. Weil das Recht auf unserer Seite steht.
Bleiben Sie an Bord!
*Psychotherapeut, Co-Initiator der United-Sovereigns-Plattform „Politik der kreativen Vernunft“.
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