Selten zuvor ist so viel Unsinn über ein Wahlsystem verbreitet worden, wie aktuell über das italienische. Warum das Berlusconi-Wahlrecht gar nicht so abstrus ist, was man daran noch verbessern könnte und warum Einerwahlkreise1 keine Alternative sind.
Oliver Zwickelsdorfer*
„Das italienische Wahlsystem macht das Land unregierbar“ ist die Analyse eines Großteils der JournalistInnen. Schnell ist auch der Schuldige ausgemacht: Silvio Berlusconi habe das Land durch Wiedereinführung eines reinen Listenwahlrechts im Jahr 2005 politisch gelähmt. Eine Wahlrechtsreform durch eine Übergangsregierung scheint dringend geboten. Wie funktioniert das italienische Kammer- und Senatswahlrecht aber wirklich? Was auf den ersten Blick hochkomplex wird, lässt sich leicht veranschaulichen.
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Die Abgeordnetenkammer
Die Abgeordnetenkammer wird durch ein Verhältniswahlrecht mit Mehrheitsbonus gewählt. Parteien können sich dabei vor der Wahl zu Allianzen zusammenschließen. Jene Allianz oder Einzelpartei ohne Allianz mit den relativ meisten Stimmen erhält immer ca. 54 Prozent der Mandate in der Kammer. Die restlichen 46 Prozent der Kammerabgeordneten werden proportional an die unterlegenen MitbewerberInnen verteilt.
Bei einem bipolaren Allianzsystem – mit zwei starken Parteienblöcken links und rechts der Mitte – erscheint dieses Modell durchaus sinnvoll. Im Jahr 2006 lag das Mitte-Links-Bündnis mit 49,8 Prozent nur hauchdünne 0,1 Prozent vor dem Mitte-Rechts-Block. Mit dem Mandatsbonus war aber eine stabile parlamentarische Mehrheit gesichert. Bei vier Wahlblöcken wirkt das System allerdings stark verzerrend. Mit nicht einmal einem Drittel der Stimmen verfügt das Mitte-Links-Bündnis „Centrosinistra“ nun über eine absolute Mandatsmehrheit in der ersten Kammer.
Die Sperrklausel liegt in der Abgeordnetenkammer bei vier Prozent für Einzelparteien, also genauso hoch wie in Österreich. Wenn aber eine Allianz mehrerer Parteien gemeinsam über zehn Prozent der Stimmen erhält, entfallen auch auf jede Einzelpartei mit mehr als zwei Prozent sowie auf die stärkste Partei unter zwei Prozent Mandate. Deshalb erhielten beispielsweise die Zentrumsdemokraten CD im Mitte-Links-Bündnis mit 0,6 Prozent und die Christdemokraten innerhalb des Monti-Blocks mit 1,8 Prozent noch Parlamentssitze. Für Minderheitenparteien wie die Südtiroler Volkspartei gilt eine 20 Prozent-Hürde in ihrem Minderheitengebiet.
Der Senat
In der zweiten Kammer, dem Senat, werden die Mandate in jeder Region unabhängig vom nationalen Ergebnis ermittelt. Die Mehrheitsprämie erhält jeweils die stärkste Parteienallianz in der Region. Hier sind aber die Schwellen deutlich höher. Einzelparteien müssen eine Hürde von acht Prozent in der jeweiligen Region überwinden. Parteien innerhalb von Allianzen, die gemeinsam mindestens 20 Prozent der Stimme erhalten haben, müssen zumindest drei Prozent erreichen. Da aber in den kleinen Regionen nur wenige Mandate vergeben werden, liegt die faktische Hürde meist viel höher. In der Region Molise reichten beispielsweise Beppe Grillos 26,6 Prozent nicht zum Einzug in den italienischen Senat – also kein leichtes Spiel für kleine Parteien.
Dennoch wird oft die Forderung erhoben, die Eintrittshürden für Parteien deutlich zu erhöhen bzw. ein Wahlsystem mit Einerwahlkreisen einzuführen. Der Preis dafür wäre aber hoch. Aufgrund der traditionell vielfältigen Anzahl an politischen Formationen erscheinen niedrige Hürden durchaus sinnvoll, um die Zahl der verlorenen Stimmen gering zu halten. Die niedrigen Eintrittshürden gelten ohnehin nur für Parteien, die sich einem großen Wahlbündnis angeschlossen haben. Außerdem neigen Mehrheitswahlsysteme dazu, Zufallsmehrheiten hervorzubringen bzw. Mehrheiten umzudrehen. Bei einem derart knappen Wahlergebnis wie diesem hätte Berlusconi als Nummer 2 durchaus gute Chancen auf eine Mandatsmehrheit gehabt.
Alternativen
Auch die Idee, einen Mandatsbonus im Senat analog zur Abgeordnetenkammer an die auf nationaler Ebene stärkste Koalition zu vergeben, hat seine Tücken. Bei der Wahl 2006 hätte Prodi so eine absolute Mehrheit in der Kammer, Berlusconi eine absolute Mehrheit im Senat bekommen – das hätte ebenfalls zur Unregierbarkeit geführt.
Ein anderer Vorschlag ist, das gemischte Wahlsystem, das zwischen 1994 und 2001 zur Anwendung kam, wieder einzuführen. Dabei wurden 75 Prozent der Mandate in Einerwahlkreisen nach relativer Mehrheit und 25 Prozent der Mandate nach Verhältniswahlrecht mit 4-Prozent-Klausel vergeben. In der jetzigen Situation hätte damit keine politische Formation eine absolute Mehrheit in einer der beiden Parlamentskammern. Zudem würde die Mandatsverteilung weniger vom Wahlergebnis, sondern viel mehr vom Verhandlungsgeschick der Parteien abhängen, da die Kandidaturen in den Einerwahlkreisen immer vor der Wahl unter den Parteien einer Allianz ausgehandelt wurden – auch keine optimale Lösung.
Der Grund für die Unregierbarkeit Italiens liegt weniger am Wahlsystem, als daran, dass beide Kammern gleichberechtigt am Gesetzgebungsprozess mitwirken. Hier müsste eine Reform ansetzen, die zur Lösung des Problems beiträgt.
Natürlich bietet auch das jetzige Wahlsystem Ansätze für Reformen. Hier erscheinen vor allem zwei Maßnahmen sinnvoll: Erstens sollte eine „Stichwahl“ für die Vergabe des Mehrheitsbonus eingeführt werden. Somit wäre sichergestellt, dass tatsächlich eine Stimmenmehrheit hinter der regierenden Allianz steht. Dass eine Parteienallianz mit nicht einmal 30% der Stimmen eine absolute Mandatsmehrheit erhält, fördert zwar die Stabilität von Regierungen, ist aber aus demokratiepolitischer Sicht höchst problematisch. Vorbild dafür könnte das italienische Wahlsystem in den Provinzen und Städten über 15.000 EinwohnerInnen sein. Dort wird dieses System bereits erfolgreich praktiziert.
Auf öffentliche Kritik stößt auch die Tatsache, dass die Reihenfolge der KandidatInnen auf den Parteilisten von den italienischen WählerInnen nicht beeinflusst werden können. Deshalb haben die Parteiführungen auch einen sehr großen Einfluss auf die personelle Zusammensetzung der Parlamentskammern. Eine stärkere Personalisierung des Wahlrechts erscheint deshalb sinnvoll. Diese sollte aber nicht durch die Einführung eines Mehrheitswahlrechts mit Einerwahlkreisen, sondern durch ein Wahlrecht mit wirksamen Vorzugsstimmen verwirklicht werden. Dafür gibt es bereits gute Beispiele in anderen Ländern wie zum Beispiel das Kumulieren und Panaschieren in der Schweiz sowie in Hamburg und Bremen.
1 In Einerwahlkreisen wird nur ein Abgeordneter oder eine Abgeordnete nach einem Mehrheitswahlverfahren gewählt. Die Stimmen der unterlegenen KandidatInnen verfallen in der Regel. In Europa werden die Abgeordenten in UK und Frankreich nach diesem Verfahren gewählt, in Tschechien und Polen die zweite Kammer. In Deutschland, Ungarn und Litauen haben ein gemischtes Wahlsystem, wo nur ein Teil der Abgeordenten in Einerwahlkreisen gewählt wird.
*Oliver Zwickelsdorfer ist Volkswirt und in der Sektion 8 der SPÖ Wien-Alsergrund aktiv. Wie bei allen Artikeln am Blog der Sektion 8 handelt es sich um die persönliche Meinung des Autors. Offizielle Standpunkte der Sektion finden Sie auf unserer Homepage.
Brucki hat natürlich recht. Ich befasse mich meist eher damit, wie Mandate an Parteien verteilt werden. Das unterschiedliche Wahlalter muss natürlich beim italienischen Wahlrecht erwähnt werden.
Ein Unterschied der Wahl von Abgeordnetenhaus und Senat ist neben der Mandatsvergabe im übrigen auch die unterschiedliche Zusammensetzung des Elektorats durch Ausschluß von JungewählerInnen bei der Senatswahl: Wahlalter im Abgeordnetenhaus 18 aktiv und 25 passiv, aber im Senat 25 aktiv und 40 passiv.