Die Sozialdemokratische Partei Europas (SPE) hat bei den EU-Wahlen vor allem deshalb verloren, weil sie nicht weiß, was sie mit Europa anfangen soll. Das Paradoxe dabei ist, dass niemand Europa so sehr für seine politischen Ziele braucht, wie die Sozialdemokratie.
„Kommentar der Anderen“ von Nikolaus Kowall in „Der Standard“
Die Niederlage für die SPE bei den EU-Wahlen hat, abgesehen von innenpolitischen Spezifika, vor allem zwei Gründe. Nach 20 Jahren Koketterie mit dem Neoliberalismus fehlt es an Wirtschaftskompetenz einerseits und an Glaubwürdigkeit bezüglich eines Kurswechsels andererseits. Progressive Vorstellungen über die Organisation der sozialen Marktwirtschaft sind nur noch marginalisiert in der innerparteilichen Opposition vorhanden. Die Führungsebene der europäischen Sozialdemokratie hat jene Deregulierungspolitik die zur Krise führte selbst mitgetragen. Sie kann den Menschen nicht von heute auf morgen eine Alternative zum Wirtschaftsliberalismus glaubhaft vermitteln, weil sie keine hat. Das spürt die Bevölkerung und wählt jene Parteien, die zumindest mit dem Thema Wirtschaft assoziiert werden, wie der Wahlsieg der Konservativen beweist. Die Zündler werden zur Feuerwehr gemacht, weil die Menschen sich politisch nicht orientieren können. Die Sozialdemokratie hat die dazu notwendigen Ecken und Kanten längst geschliffen. Dabei müsste die Schaffung einer Sozialunion das prioritäre Kampffeld der SPE sein. Jede nationale Lohnerhöhung und jede progressive Steuer kann ein Wettbewerbsnachteil gegenüber jenen Ländern bedeuten, die einen gegenteiligen Kurs fahren. Bei EU-Mindeststeuersätzen, einer gemeinsamen Devisentransaktionssteuer oder im Falle koordinierter Lohnverhandlungen, vermindert sich diese Problematik schlagartig. Europa ist der völlig unterschätzte Schlüssel im Kampf für eine soziale und demokratische Gesellschaft.
Die SPÖ streifte mit ihrer Wahlkampagne immer wieder am ersten Gebot des Provinzialismus an: „In der EU das beste für Österreich herausholen“. Dabei müsste man laut sagen, dass das Beste für Europa auch das Beste für Österreich ist. Die Absenz einer positiven Vision für Europa ist der zweite Grund für das desaströse Wahlergebnis. Der Grundstein für eine „Eurovision“ wäre die Betonung der europäischen Wertegemeinschaft. Natürlich stehen die europäischen Staaten – bei allen Fehlern – für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Damit unterscheiden sie sich jedoch wenig von anderen westlichen Industirestaaten. Auch die USA heften sich diese Werte auf ihre Fahnen. Es gibt darüber hinaus jedoch so etwas wie einen kontinentalen Konsens, der viele Menschen weltanschaulich zusammenhält und identitätsstiftenden wirkt. Teile dieses Konsenses sind in manchen Regionen weniger stark ausgeprägt und einzelne Regierungen mögen gelegentlich daraus ausbrechen, aber im Großen und Ganzen kann man sich in Europa auf die folgenden Werte verlassen:
Die Betonung der Menschenrechte: Die Europäische Menschenrechtskonvention ist für alle Mitglieder des Europarates verbindlich, zusätzlich haben sich sämtliche EU-Staaten dem Internationalen Strafgerichtshof der UNO unterworfen. Eine Behörde die von den USA offen boykottiert wird. Der Konsens zwischen Linken, Liberalen und Christen gegen die Todesstrafe ist absolut wasserdicht, auch die in den USA heftig geführte Folterdebatte stößt in Europa ebenso auf Fassungslosigkeit wie Guantanamo.
Die Trennung von Staat und Kirche: Während Barack Obama regelmäßig öffentlich um Gottes Segen bittet, ist dies in Europa ein „No Go“. Eine Konfrontation zwischen Abend- und Morgenland, wie sie von rechten Kreisen herbeigeredet wird, gibt es nicht. Wenn, dann besteht eine Konfrontation zwischen einer säkularisierten europäischen Gesellschaft und den fundamentalistischen Kräften sämtlicher Religionen. Im Gegensatz zu vielen anderen Regionen der Erde ist die politische Religiosität in Europa bedeutungslos.
Das Bekenntnis zum Sozialstaat: Dieser Konsens hat in den letzten Jahre gelitten. Während es etwa unter Rot-Grün in Deutschland zu einem massiven Rückbau kam, gab es auch Regionen wie Skandinavien in denen der Sozialstaat neue erfolgreiche Wege fand. Das europäische Wohlfahrtsstaatmodell wurde zurückgedrängt, ist aber in den meisten Ländern weit davon entfernt auf US-Verhältnisse abzusacken.
Keine aggressive Außenpolitik: Frei von jeder Ahnung bezüglich Kultur und Geschichte des Landes einen Staat militärisch unterwerfen? Dieses Cowboy-Abenteuer haben zwar einzelne europäische Regierungen mitgetragen, doch wurde der Irakkrieg auch von der Mehrheit der Bevölkerung Großbritanniens oder Spaniens stets abgelehnt. Ebenso setzt Europa gegenüber anderen „Schurkenstaaten“ auf Diplomatie.
Gerade die Sozialdemokratie kann mit diesem Eurokonsens, der in der Union institutionell nicht manifest ist, gut leben. Umso mehr sollte nicht müde werden zu betonen, dass Europa nicht nur ein Wirtschaftsprojekt, sondern vor allem eine Wertegemeinschaft ist. Darauf aufbauend ist eine weitere Integration des Kontinents in Richtung dessen was Johannes Voggenhuber die „Europäische Demokratie“ nannte absolut wünschenswert. Etwa die Einbindung des EU-Parlaments in alle Entscheidungen der Union, sowie die Schaffung eines europäischen Listenwahlrechts. Eine Vision für die längere Frist wäre die vollständige Übertragung der Europaagenden von den nationalen Politfürsten auf eine europäische Legislative und die EU-Kommission als Exekutive. Gesetze würden von einem europäischen Zweikammernparlament beschlossen, wobei der aktuell aus Ministern bestehende Rat in eine direkt gewählte Kammer der Nationalstaaten umgewandelt würde. Die Kommission würde vom Parlament gewählt und wäre nur diesem gegenüber verantwortlich. Diese Transformation könnte die komplizierte und demokratisch fragwürdige aktuelle Konstruktion ersetzen und Europa endlich handlungsfähig machen. Besser ein föderaler Bundesstaat als ein zentralistischer Staatenbund. Es soll offen ausgesprochen werden, dass das Ziel der europäischen Integration auf Perspektive der Zusammenschluss zu den Vereinigten Staaten von Europa ist. Im Sinne des Wahlspruchs der EU „In Vielfalt geeint“ sollte versucht werden die kulturelle Buntheit zu erhalten und der Bevölkerung den unfassbaren Reichtum derselben zu vermitteln. Wenn die Menschen eine Liebesbeziehung zu dieser kulturellen Vielfalt basierend auf gemeinsamen Werten aufbauen können, dann hat die europäische Idee gewonnen.
[…] Gastkommentar von Nikolaus Kowall in der Tageszeitung der Standard. Ungekürztes Original. […]