Sonder-Links der Woche

Gleich zwei verheerende Anschläge haben diese Woche zwei Welt-Städte erschüttert und Dutzende Zivilisten ermordet, beide gehen – mit großer Wahrscheinlichkeit – auf das Konto des IS: der Anschlag vom Freitag in Paris hat sämtliche westliche Medien dominiert, Schweigeminuten, Solidaritätskundgebungen, ein „I am safe“-Button auf Facebook für Personen in und rund um Paris, u.v.m waren die Folge. Doch bereits am Tag davor ereignete sich ein Anschlag in Beirut, von vielen jedoch unbemerkt.

Wir haben eine ganze Reihe von Berichten, Meinungen und Analysen zum Thema zusammengetragen.

Inhalt

Paris und Beirut, oder: Zählen alle Menschenleben gleich viel?

Informationen rund um den Anschlag in Beirut, nur einen Tag vor dem Anschlag in Paris, finden sich hier. Der Artikel thematisiert auch die unterschiedliche Art und Weise, wie die sozialen Netzwerke mit beiden Anschläge umgehen. Und er berichtet von einem Mann, der durch seine Heldentat wohl hunderten Menschen in Beirut das Leben gerettet hat und dafür mit seinem eigenen Leben bezahlt hat – wäre er in Paris gewesen, sein Bekanntheitsgrad wäre wohl noch um einiges höher.

„One way of posing the question of who “we” are in these times of war is by asking whose lives are considered valuable, whose lives are mourned, and whose lives are considered ungrievable. We might think of war as dividing populations into those who are grievable and those who are not. An ungrievable life is one that cannot be mourned because it has never lived, that is, it has never counted as a life at all. We can see the division of the globe into grievable and ungrievable lives from the perspective of those who wage war in order to defend the lives of certain communities, and to defend them against the lives of others—even if it means taking those latter lives.“—Judith Butler, Frames of War: When Is Life Grievable?

Inzwischen wurde Facebook freilich dafür kritisiert, dass es just am Freitag das ’safety-check-in‘ aktivierte und nicht etwa am Tag davor als sich n Beirut Selbstmordattentäter in die Luft sprengten. Das Tool soll ab jetzt bei allen Anschlägen aktivierbar sein und nicht wie bisher nur bei Naturkatastrophen.

Muslime in Paris

„Please don’t let it be a Muslim“ war der erste Gedanke von Asif Arif, als er von den Anschlägen in Paris hörte. Eine kurze Situationsbeschreibung, wie es MuslimInnen in Paris gerade geht.

ISIS

Was treibt junge Menschen in die Fänge des ISIS? Es ist nicht der Glaube an einen extremistischen Islam, argumentiert Lydia Wilson nach Interviews mit IS Kämpfern:They are not fueled by the idea of an Islamic caliphate without borders; rather, ISIS is the first group since the crushed Al Qaeda to offer these humiliated and enraged young men a way to defend their dignity, family, and tribe. This is not radicalization to the ISIS way of life, but the promise of a way out of their insecure and undignified lives; the promise of living in pride as Iraqi Sunni Arabs, which is not just a religious identity but cultural, tribal, and land-based, too.

Der Philosoph John Gray, Autor des Buches Black Mass über die Gefahr von Utopien, schreibt für den Guardian 2014 über ISIS als sehr modernes Phänomen, das wenig mit „zurück ins Mittelalter „zu tun hat.

Paul Rogers spekuliert auf Opendemocracy über die Motive des Anschlags. Erstens will ISIS zeigen, dass die Organisation international ist und über die territorial Kämpfe hinweg aktiv sein kann. Zeitens, sollen die Beziehungen zwischen Moslems und nicht-Moslems weiter geschädigt werden, auch aus Rekrutierungszwecken. Drittens, wollen sie eine Reaktion provozieren: „ISIS wants war. It presents itself as the true guardian of Islam under attack from the “crusader west… In blunt terms, ISIS is actually being strengthened by the air war, and it can be assumed that it wants more… It is possible that French and British political leaders and others will respond with care and forethought, rather than rushing into a more intensive war. But it is unlikely.”

Die Pariser Marrokanerin Aida Alami und der französchisch-libanische Bashir Saade reflektieren die Angriffe in Beirut und Paris. Sie schreibt über die Wahl von Angriffsorte und dass diese meist nicht zufällig gewählt sind. Die Attacken in Paris waren auch ein Angriff auf das Pariser Leben. Er schreibt über das Ziel ein Spektakel herbeizuführen und darüber, dass wir nicht sofort Schlüsse zum Urheber solcher Attacken ziehen sollten, um nicht ISIS in die Hände zu spielen, der sich als einheitliche globale Macht ohne lokale Wurzeln und Umstände darstellen und legitimieren will.

Eine andere Sicht als Bashir Saade präsentiert Joseph Downing, der argumentiert, dass man die Angriffe vom Freitag 13. November 2015 nicht im Lichte der 2005 Unruhen und ihrer Ursprünge sehen , sondern als Teil eines internationalen Phänomens verstehen muss.

What’s in a name? Welcher Begriff ist der geeigneste, um über die Urheber dieser und anderer Angriffe zu sprechen? Der Economist versucht Klarheit zu bringen.

Scott Atran schreibt über eine Anleitung, die vor 15 Jahren vom ISIS Vorgänger geschrieben wurde und in der u.a. steht: „Strike when potential victims have their guard down. Sow fear in general populations, damage economies…Capture the rebelliousness of youth, their energy and idealism, and their readiness for self-sacrifice, while fools preach ‘moderation’ (wasatiyyah), security and avoidance of risk… Work to expose the weakness of America’s centralised power by pushing it to abandon the media psychological war and the war by proxy until it fights directly“. Des Weiteren beschreibt er die Rekrutierungsvorgaben der Gruppe, aus denen klar hervorgeht, dass Angriffe und die zu erwartende Reaktion Teil der Strategie sind. Die Gruppe instrumentalisiert die Dynamik zwischen radikalem Islamismus und den rassistisch-nationalistischen Bewegungen in underen Ländern.

Hasst ISIS den Westen? David Shariatmadari schreibt: nein sie greifen nicht den Westen und seine Werte an, sondern vor allem nicht-westliche Menschen in der Region und die Grundwerte des Miteinanders überall.

War on Terror?

Vijay Prashad fragt sich nach den Angriffen auf Paris und der Ankündigung des Präsidenten Hollande’s einen gnadenlosen Krieg führen zu wollen, was denn bisher geschah. Ist der ‚Westen‘ nicht schon im Krieg gegen ISIS und Konsorten? Wird es eine längerfristige Strategie geben? Wird man sich auch in Selbstreflektion, ob man vielleicht doch zur Eskalation beigetragen hat, üben? „Macho language about “pitiless war” defines the contours of leadership these days. … Where did these ISIS attackers come from? … Each terror attack on the west resets the clock.“ Die Uhren werden zurückgesetzt, damit man keine Fragen stellt, darüber was nicht die unschuldigen Opfer der Angriffe, aber doch der Staat und die Staatengemeinschaft, in der sie stafftfanden, Unsagbares getan haben.

One Response to Sonder-Links der Woche

  1. punto 18. November 2015 at 02:10 #

    Jean-Pierre Le Goff:

    „Diese tragischen Geschehnisse sind eine erneute Herausforderung unserer arglosen und pazifistischen Mentalität, die sich weigert zuzugeben, dass wir uns bereits im Krieg befinden, dass auch in einer Demokratie der Staat über eine legitime Gewalt verfügt und die Pflicht hat, diese auch anzuwenden.

    Was wir seit den Attentaten von New York erlebt haben, belegt das Ende eines historischen Zyklus, der von Illusionen geprägt war. Nachdem wir auf unserem eigenen Grund und Boden zerstörerische Kriege erleben mussten, begann für die demokratischen Gesellschaften eine neue Ära ihrer Geschichte, geprägt von Konsum und Freizeit.

    Das Ende der großen Ideologien, der Fall der Berliner Mauer haben uns dann an den Beginn einer neuen, geeinten und friedlichen Welt glauben lassen, in der die Gesetze des Marktes und die Werte der Menschenrechte harmonieren.

    Die Europäische Union ist zum Teil auf diesen Illusionen erbaut worden. Doch nun ist eine Grenze überschritten worden, sind wir an einem Wendepunkt angelangt. Wir müssen uns von unseren Illusionen verabschieden, die uns entwaffnet haben. Wir müssen uns wieder auf die Bedeutung unserer Geschichte besinnen und die Werte unserer Zivilisation entschlossen verteidigen.“

Schreibe einen Kommentar

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.

Powered by WordPress. Designed by WooThemes