VIE-BXL (19): Die Kommissionspräsidenten-Debatte – Was rechtens ist muss nicht unbedingt richtig sein…

VIE-BXL ist eine Serie von Beiträgen am Blog 8 zur Europawahl 2014.

Eugen Pfister

Merkels Rückzieher vom Rückzieher

Angela Merkels anfängliches Zögern sich zu einem gemeinsamen EVP-Spitzenkandidaten Jean-Claude Juncker zu bekennen ist bei vielen auf Unverständnis getroffen und hat eine – für die Kanzlerin und viele andere unerwartet – heftige Reaktion in der deutschsprachigen Medienlandschaft und auf Twitter hervorgerufen. Dabei hatte sie sich nie direkt gegen einen Kommissionspräsidenten Juncker ausgesprochen und hatte vermutlich auf Zeit spielen wollen, um David Cameron vielleicht doch noch mit an Bord zu holen. Bei vielen politischen BeobachterInnen hatte dieses Taktieren erstmals das Fass zum Überlaufen gebracht.  Nicht nur innerhalb der Konservativen, sondern quer durchs politische Spektrum, vom Boulevard , über die Tageschau bis zum Staatsphilosophen hatte sich – auch in Österreich – eine unwahrscheinliche Allianz kritischer Stimmen gebildet,  die die deutsche Kanzlerin dazu aufforderten sich eindeutig für Juncker zu bekennen.  Das darf man ruhig als positive Konsequenz eines sonst eher traurigen Schauspiels begreifen.  Ich kann mich nicht daran erinnern, dass bei der letzten Europawahl 2009 kurz nach der Wahl noch so intensiv und so emotional über die Bestimmung des Kommissionspräsidenten debattiert wurde. Vor allem aber dürfte der Poker des europäischen Parlaments mit der Nominierung von SpitzenkandidatInnen – auch ohne rechtliche Notwendigkeit – den europäischen Rat vor vollendete Tatsachen zu stellen fürs erste aufgegangen sein.

Werden wir gerade ZeugInnen der Geburt einer europäischen Öffentlichkeit?

Man darf diese Fingerübung in europäischer Öffentlichkeit nicht überbewerten. Ich kann bedingt auch durch meine Konzentration auf Medien im Augenblick noch nicht vollständig abschätzen, wieviel davon in Prag, Warschau, Rom und Madrid rezipiert wurde. Wenige Tage später zeigt sich aber, dass die Merkel-Juncker Debatte in Belgien und Frankreich bereits ablehnend rezipiert wurde. So kritisiert express.be am 02. 06. ganz im Sinne des deutschen Diskurses die „primitiven Machtspiele“ der deutschen Kanzlerin die drohen, die europäische Gemeinschaft zu unterminieren.  In Großbritannien entstand zeitgleich eine hitzige Debatte rund um David Camerons öffentlich vorgetragene Ablehnung Junckers. Von einer europäischen „Öffentlichkeit“ kann aber schon deshalb noch keine Rede sein, weil diejenigen die sich zu Wort melden alle ausgewiesene EuropaspezialistInnen und Intellektuelle sind. Der Diskurs bleibt also auf eine kleine Gruppe europaaffiner Personen beschränkt.  Und diese repräsentieren vor allem eine intellektuelle männliche Öffentlichkeit. Immerhin handelt  es sich bei den kritischen Stimmen trotz einiger weniger nennenswerter Ausnahmen wie Sandra Fiene und Sonja Ablinger noch immer zum größten Teil um Männer. Wir haben es also nicht mit der spontanen Entstehung einer europäischen Öffentlichkeit zu tun, vielleicht aber mit einer punktuellen Teilöffentlichkeit, die sich zuerst auf den deutschen Sprachraum (v.a. Deutschland und Österreich) konzentriert hat, mittlerweile aber auch auf Frankreich und die Beneluxstaaten ausweitet, und in leicht abgewandelter Form – auf die Person David Camerons fokussiert – auch in Großbritannien das Feuilleton erreicht hat.

Was bleibt ist, dass Merkel sich aufgrund des politischen Drucks gezwungen sah sich vorzeitig öffentlich zu Juncker zu bekennen. Das erscheint mir ein Novum in der Europapolitik. Sowohl innerhalb als auch außerhalb Deutschlands muss Merkels spätes Bekenntnis zu Juncker als Zeichen der Schwäche wahrgenommen werden. Kurzfristig mag diese unerwartete Absage des gewohnten Brüsseler Machtpokers sogar zu einer Destabilisierung der EU führen. Die über Jahrzehnte eingespielten fragilen Machtgleichgewichte drohen nachhaltig umgeworfen worden zu sein. Bernhard Schinwald geht im European sogar so weit von einem Paradigmenwechsel zu sprechen. Langfristig aber war dies ein längst überfälliger und dringend notwendiger Schritt um in Europa wieder ein Primat der Politik herzustellen, wie es Nikolaus Kowall vor kurzem gefordert hat. Den kritischen Stimmen (Habermas, Döpfner, Krause, Göweil et al.) war es vor allem Anliegen, europäische Politik dem eingespielten Pokerspiel nationaler Egoismen zu entreißen. Europäische SpitzenkandidatInnen mögen da ein kleiner erster Schritt in Richtung einer wahrhaft demokratischen europäischen Union sein, aber es ist aus zwei Gründen ein Schritt in die richtige Richtung. Erstens: Sollte sich das Modell etablieren, wird den EuropäerInnen in den nächsten fünf Jahren deutlich vor Augen geführt, dass jede Stimme zählt und sie die Möglichkeit haben Europa mitzugestalten. Schon jetzt interessieren sich (gefühlt) mehr Menschen für die Europawahlen als noch vor fünf Jahren. Der Machtkampf um Juncker ist sogar einschlägigen Boulevardmedien kurze Notizen wert.  Zweitens, und das ist zum Teil bereits gelungen, bieten die Debatten rund um die SpitzenkandidatInnen sowohl im Vorfeld der Wahlen als auch unmittelbar danach wunderbare Reibflächen für die Medien. Gewiss, die ersten direkten Fernsehkonfrontationen waren noch wenig mitreißend. Nichtsdestotrotz polarisierte die Spitzenkandidatenfrage insbesondere nach der Wahl und löste viele – auch transnationale – Debatten aus.

Realos vs. IdealistInnen:  Muss sich der europäische Rat an die vom Parlament vorgeschlagenen SpitzenkandidatInnen halten?

Aber weg von den direkten Konfrontationen und zurück zum erwähnten Diskurs rund um die SpitzenkandidatInnen: Hier stellt sich nicht die Frage ob jemand Europabefürworterin ist oder Europagegner, nahezu alle EuropakorrespondentInnen und politischen BeobachterInnen die sich zu Europathemen äußern sind von der Idee Europa überzeugt. Trotzdem kann man hier – leicht vereinfachend – zwei ideologische Lager ausmachen: die „Realos“ die nach jahrelanger Erfahrung das bestehende System gut einschätzen können und auch zu schätzen gelernt haben und die „IdealistInnen“ (i.e. die „kritischen Stimmen“ vom ersten Absatz“) die am liebsten sofort eine tiefgehende Demokratisierung Europas sehen würden. Hier zeigt sich ganz klar eine unterbrochene Kommunikation, denn die einen verstehen die anderen nicht mehr. Realisten berufen sich auf den Vertrag von Lissabon und tatsächlich findet sich hier keine rechtliche Notwendigkeit von SpitzenkandidatInnen. In gewisser Weise gaukeln solche den WählerInnen sogar etwas vor, da es keine wirklich europäischen KandidatInnen geben kann und diese im Grunde nur in ihren jeweiligen Herkunftsländern direkt gewählt werden können. Realistische KommentatorInnen wollen das jetzige System bewahren, sie sind zutiefst  von der Rechtmäßigkeit der ausverhandelten Verträge überzeugt  und verstehen nicht ganz die plötzliche Empörung, denn auch die IdealistInnen müssten doch das Machtspiel kennen. (Und tatsächlich haben viele kluge BeobachterInnen wie z.B. Manuel Müller von den europäischen Föderalisten das Machtspiel um den Kommissionspräsidenten schon einen Monat vorher recht genau vorhergesagt.)  Aber es war eben nicht der Soziologe und analytische Wissenschaftler Jürgen Habermas der  in der FAZ ungewohnt scharf reagierte, wenn  er der Kanzlerin Furcht vor einem europäischen Demokratisierungsschub unterstellte, ebenso wenig wie es der erfahrene Journalist Rolf-Dieter Krause war, dem da der Kragen geplatzt war. Beide hatten  aller Voraussicht nach genau gewusst, was passieren würde. Sie hatten aber gespürt, dass jetzt ein Moment gekommen war, der ein kurzes Zeitfenster für einen echten Wandel in Europa bieten würde und sie waren entschlossen dieses Zeitfenster zu nutzen. Ihre Empörung ist nicht Ergebnis einer nüchternen Analyse sondern ein politisches Instrument. Man darf nämlich nicht vergessen, dass auch EuropabeobachterInnen eigene politische Agenden und Visionen haben.  Während RealistInnen den rechtlichen Status Quo zitieren, wünschen sich die IdealistInnen mehr Demokratie. Auch wenn das freie Spiel nationaler Kräfte im Europarat also „rechtens“ ist, so entspricht das nicht unbedingt den Anforderungen eines demokratischen Europas und ist demnach nicht „richtig“ erwidern die IdealistInnen. Der Lissaboner Vertrag war sicherlich ein Fortschritt zu den vorhergehenden EU und EG-Verträgen, aber er ist nicht aller Weisheit Schluss sondern ein Kompromiss. Eine institutionelle Neuordnung  wäre von Nöten. Auch ist es Zeit ein für alle Mal mit dem Argument aufzuräumen, dass die EU alleine deshalb schon jetzt demokratisch wäre, weil der europäische Rat doch nur demokratisch legitimierte Regierungshäupter vereine. Zwar wurden die Regierungshäupter in ihren Ländern demokratisch gewählt und müssen sich dort vor Ihren WählerInnen verantworten, sie müssen sich aber nicht vor einem europäischen Demos verantworten. JedeR kann auf europäischer Ebene so nationalistisch und egoistisch handeln wie er/sie will. Allianzen und Machtpoker sind erlaubt, solange jedeR glaubhaft versichern kann, dass er /sie für seine/ihre Nation alles herausgeholt hat.  Direkte demokratische Kontrollmechanismen greifen hier nicht länger und wie Jürgen Habermas es wortgewandt formuliert hat: „Sie machen die Schotten dicht, um eine übergriffige exekutive Macht, die sie in den Jahren der Krise auf dem Wege undemokratischer Selbstermächtigung ausgebaut haben, gegen die Flut der vermeintlich irrationalen Volkswut abzusichern.“

In der idealistischen Logik ist es nicht von Belang ob Jean-Claude Juncker der „beste Mann“ für diesen Posten ist, es geht um demokratische Grundprinzipien und die Souveränität der europäischen WählerInnen. Es geht um politische Verbindlichkeit. Wahlen müssen auch eine Bedeutung haben und den WählerInnen muss schon vor der Wahl eindeutig bewusst gemacht werden, was ihre Entscheidung bewirken kann/soll.  Auch im nationalen Rahmen wird nicht darüber debattiert ob nicht doch andere KandidatInnen, die eben keine Mehrheit bekommen haben, bessere Regierungshäupter wären. Demokratie heißt das Recht der Mehrheit respektieren, auch wenn man selbst der Überzeugung ist, dass es bessere KandidatInnen gäbe.

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2 Responses to VIE-BXL (19): Die Kommissionspräsidenten-Debatte – Was rechtens ist muss nicht unbedingt richtig sein…

  1. Sandra Fiene 29. Juni 2014 at 10:46 #

    Lieben Dank für die Erwähnung. Interessante Ansichten.

    Und das hat mich darauf aufmerksam gemacht, dass es tatsächlich so ist: Sehr wenige Frauen, mit denen ich z.B. auf Twitter über Europa diskutiere. Sehr schade.
    Viele Grüße aus Mainz
    Sandra Fiene

    • Eugen Pfister 1. Juli 2014 at 08:54 #

      Gern geschehen! Es freut mich besonders, dass wir auch LeserInnen aus Deutschland haben. Vielleicht sollten wir im Anschluß gleich etwas zu bloggenden & tweetenden Europäerinnen schreiben. Es stimmt schon: Oft werde ich darauf angesprochen, dass die EU weiterhin ein so genanntes „Buben-Thema“ ist. Daran sind vermutlich vor allem die sehr exklusiven Europäer-Netzwerke Schuld. Auf der anderen Seite vermehren sich in den letzten Jahren aber – zumindest gefühlt – auch die Bloggerinnen und Aktivistinnen. Sie und Sonja Ablinger sind da ein gutes Beispiel, aber auch Cerstin Gammelin, Margaretha Kopeinig, Susanne Schnabel, Michaela Kauner, Mayte Peters, u.v.m. wären noch zu nennen. Ich hoffe ich bin da nicht zu optimistisch, aber ich habe das Gefühl das Thema Europa ist somit nicht länger ein Hobby alter Herren.

      Herzliche Grüße aus Wien
      Eugen Pfister

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