Das Problem in der hysterischen Debatte rund um Wikileaks beginnt im deutschen Sprachraum schon damit, dass uns eine akkurate Übersetzung des Begriffs „Whistleblower“ fehlt. Im englischen wird damit jemand bezeichnet, der Geheimnisse – oftmals unter großem persönlichen Risiko – zum Wohl der Allgemeinheit verrät. Er schlägt quasi Alarm und der Begriff ist positiv besetzt. Solche Whistleblower zu unterstützen war und ist das erklärte Ziel der Plattform Wikileaks. Im Grunde genommen verfolgt Wikileaks damit nichts anderes als einen alternativen Ansatz für Enthüllungsjournalismus – und wird genau dafür verfolgt. Wie kann das sein?
Inzwischen wurde und wird soviel über Wikileaks geschrieben, dass es eigentlich schon reichen würde, auf die besten Quellen zu Wikileaks zu verweisen. Am kurzweiligsten ist sicherlich der aktuelle Videocast von Robert Misik zum Thema. Am umfassendsten und fundiertesten sind wohl die FAQs am Blog von Harvard-Internetrechtsexperten Jonathan Zittrain.
Anlass für diesen Blogeintrag ist, dass ich heute die Gelegenheit haben werde, mit dem ehemaligen deutschen Botschafter in den USA und dem Vereinigten Königreich sowie aktuellen Vorsitzenden der Münchner Sicherheitskonferenz, Wolfgang Ischinger, zu dem Thema zu diskutieren. Ischinger hatte Anfang Dezember in der New York Times einen Gastbeitrag unter dem Titel „The End of Diplomacy as We Know it?“ veröffentlicht und dabei vor den Gefahren durch Wikileaks gewarnt. Die folgenden Fragen & Antworten, bei denen es nicht nur um bloße Fakten sondern vor allem um politische Einschätzungen geht, habe ich in Vorbereitung zu dieser Diskussion der Stiftung Neue Verantwortung verfasst. Sie gliedern sich in einen allgemeinen Teil und einen, der spezifisch auf den Bereich diplomatischer Dokumente eingeht.
Allgemeines zu Wikileaks
Was ist Wikileaks und was hat es mit Wikipedia zu tun?
Wikileaks beschreibt sich selbst als „not-for-profit media organisation“, die Originaldokumente im Internet öffentlich und unter Wahrung der Anonymität der Quelle zugänglich machen möchte. Mit Wikipedia hat Wikileaks erstmal überhaupt nichts zu tun, abgesehen vom gemeinsamen Gedanken, kollaborativ Wissen zusammenzutragen und zu teilen. Eine gute Beschreibung von Wikileaks liefert Wikipedia allerdings klarerweise schon.
Was hat Wikileaks eigentlich verbrochen, dass Unternehmen wie Amazon, PayPal, Visa, Mastercard oder diverse Internet-Provider derart hart gegen es vorgehen?
Das ist wirklich die entscheidende Frage. Denn bislang liegen keine Anzeigen gegen Wikileaks vor, sondern nur persönliche, mit Wikileaks in keinem Zusammenhang stehende, Anzeigen gegen Wikileaks-Gründer Julian Assange. Der SPIEGEL schreibt demnach auch schon von der „Peinliche(n) Suche nach der richtigen Klage„. In diesem Zusammenhang offenbart sich das groteske Ausmaß an Willkür von Konzernen, in vorauseilendem Gehorsam alleine auf politischen Zuruf und ohne richterlichen Befehl Zugang zu und Finanzierung der Plattform behindern. Das führt zu der bereits vielzitierten Absurdität, dass sich via Kreditkarte zwar für den rassistischen KuKluxKlan spenden lässt, nicht aber für Wikileaks.
Was wäre, wenn die Dokumente nicht zuerst an Wikileaks, sondern direkt Medien wie dem Spiegel oder den New York Times übergeben worden wären?
Klarerweise ist diese Frage spekulativ, aber es spricht sehr viel dafür, dass es keine in Ansätzen vergleichbare Aufregung geben würde. Jedenfalls aber würde gegen herkömmliche Medienorganisationen nicht mit dieser Brutalität vorgegangen werden. Bis zu einem gewissen Grad scheint die Vorgehensweise gegen Wikileaks vergleichbar mit der SPIEGEL-Affäre in Deutschland 1962.
Wird Wikileaks paradoxerweise zu mehr anstatt zu weniger Offenheit führen, weil jetzt weniger verschriftlicht und auch hinter verschlossenen Türen weniger offen gesprochen wird?
Kurzfristig vielleicht, langfristig ist das äußerst zweifelhaft. Denn mit der Zeit wird sich wohl die Erkenntnis durchsetzen, dass Wikileaks auch nur eine weitere Enthüllungsplattform ist. So gibt es seit Beginn dieser Woche bereits eine neue Online-Whistleblowing-Webseite der WAZ-Gruppe, andere Anbieter werden wohl folgen.
Machen Online-Whistleblowing-Netzwerke wie Wikileaks dann überhaupt einen Unterschied?
Ja, aber anders, als die meisten Leute im derzeitigen Hype glauben. Wikileaks und ähnliche dezentral-neue Whistleblowing-Netzwerke erlauben es erstmals, Whistleblowing auch abseits großer Medienhäuser und abseits großer Skandale zu betreiben. Mit anderen Worten: Wikileaks – oder besser: die ursprüngliche Idee hinter Wikileaks – erlaubt es auch im kleineren Maßstab, beispielsweise für Blogs, Whistleblowing zu betreiben. Bleibt zu hoffen, dass nach dem Hype diese Idee von Wikileaks oder anderen wieder weiterverfolgt wird.
Aber können solche Leaks nicht Menschenleben gefährden?
Investigativer Journalismus riskiert immer Menschenleben. Das zeigt auch das Beispiel der Veröffentlichung der Folter-Protokolle von Abu Ghraib durch die Zeitschrift New Yorker. Wie Robert Misik in seinem Videocast argumentiert haben diese Folter-Protokolle Wut in der arabischen Welt angestachelt und irakischen Widerstand angefeuert. Und dennoch gilt: Die Veröffentlichung war richtig. Sie hat gezeigt, dass in Demokratien Folter nicht toleriert werden kann. Wenn aber der New Yorker von der Pressefreiheit geschützt wird, warum dann nicht auch Wikileaks? Denn auch wenn der/die Wistleblower/in mit der Herausgabe von Informationen Gesetze verletzt, Medien sind bei der Veröffentlichung dieser Informationen durch die Pressefreiheit geschützt.
Konkret zu den geleakten Diplomatenberichten:
Aber ist nicht das meiste, das hier veröffentlicht wurde, trivial und unwichtig?
Das mag sein, hierfür ist aber noch weniger Wikileaks verantwortlich zu machen. Vielmehr stellt sich die Frage, warum dann nicht vor allem Kritik an der Boulevardisierung der Leaks durch Zeitschriften wie den SPIEGEL gibt. Niemand hat den SPIEGEL gezwungen, als erste Titelgeschichte nur PolitikerInnen-Gossip zu veröffentlichen und wirklich wichtige Punkte, wie den geheimen und illegalen Anti-Terror-Krieg im Jemen, irgendwo im Heft zu verstecken.
Ist es umgekehrt nicht so, dass gerade in der Diplomatie Menschenleben gefährdet oder sogar Kriege ausgelöst werden können durch die Veröffentlichung geheimer Dokumente?
Erstens gilt, wie oben bereits angeführt, dass investigativer Journalismus immer auch Menschenleben gefährden kann. Leaks können harmlos oder tödlich sein und möglicherweise sogar Kriege auslösen; das Gegenteil ist aber auch war: Geheimdiplomatie kann harmlos, tödlich oder der Grund für Kriege sein. Die Frage, ob Geheimhaltung in der Diplomatie für die Allgemeinheit von Vor- oder von Nachteil ist, lässt sich nicht abstrakt und für alle Fälle beantworten. Sie ist eine empirisch-konkrete. Und in der Tendenz halte ich es sogar für möglich, dass im Rahmen von Geheimverhandlungen – zum Beispiel im Vorfeld von internationalen Verträgen wie dem TRIPS- oder jüngst dem ACTA-Abkommen – die Interessen der Allgemeinheit und schwächerer AkteurInnen wie beispielsweise Entwicklungsländer häufiger unter die Räder kommen als in offenen Verhandlungen.
Gefährden solche Leaks nicht letztlich die Demokratie?
In einer Demokratie sind Leaks immer zugleich Test und Beweis der Stärke: eben weil in Demokratien Presse- und Meinungsfreiheit geschützt sind, sind sie autoritären Regimes überlegen. Gleichzeitig werden diese Freiheiten an konkreten Leaks erprobt und getestet.
Aber werden hier nicht Informationen über andere Länder geteilt?
Fakt ist, das nationale Grenzen nicht erst seit dem Internet in vielerlei Hinsicht zwar von großer Bedeutung, aber keineswegs unüberwindbar sind. Im Gegenteil: vieles, was in anderen Ländern vorgeht, ist für das eigene Land von zentraler Bedeutung. Als Beispiele ließen sich hierfür Atomkraftwerke, der Klimawandel und das Internet selbst anführen. Presse- und Meinungsfreiheit durften nie bei Informationen aus dem eigenen Land halt machen, globale Probleme und globale Kommunikationsarchitektur machen das nur noch einmal besonders deutlich.
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