In der Serie “Leseliste” werden hier in unregelmäßigen Abständen Bücher vorgestellt. Diesmal: Andrew Glyns „Capitalism Unleashed – Finance, Globalization, and Welfare“
Simon Sturn
Andrew Glyn’s „Capitalism Unleashed“ bietet eine kritische und informative Bestandsaufnahme der ökonomischen Entwicklungen in den letzten vier Dekaden mit Fokus auf die industrialisierten Staaten und einige Schwellenländer. Schwerpunktmäßig behandelt er die Themen Finanzialisierung und Globalisierung, sowie deren Auswirkungen auf die personale und funktionale Einkommensverteilung und Sozialstruktur.
Zentral zur Erklärung der momentanen Verfasstheit des Kapitalismus ist für Glyn die „Neoklassische Konterrevolution“ in den 1970er und 80er Jahren, die den Fordismus ablöste. Glyn beschreibt die politische und ökonomische Stärke, welche die ArbeiterInnenklasse im Fordismus entwickeln konnte, mit entsprechend positiven Auswirkungen auf Lohnentwicklung und Sozialgesetzgebung bei gleichzeitiger Vollbeschäftigung. Der Rückgang der Produktivität, steigende Ölpreise, weiter steigende Löhne, Profitklemme, eine „undisziplinierte“ ArbeiterInnenklasse, und eine geringere Nachfrage infolge der makoökonomischen Unsicherheiten brachten den Fordismus ab Mitte der 1970er Jahre an seine Grenzen. Politische Forderungen mancher Gewerkschaften und ArbeiterInnenparteien, welche die Besitzverhältnisse in Frage zu stellen drohten, machten für die KapitalbesitzerInnen eine grundlegende Neuausrichtung der Wirtschaftspolitik unabdingbar.
Die erfolgreiche Umkehrung der wirtschaftspolitischen Zielsetzungen war gekennzeichnet durch restriktive Geld- und Fiskalpolitik, die mit einer deutlichen Zunahme der Arbeitslosigkeit einherging, und Privatisierungen und Deregulierungen der Arbeitsmärkte, was die Verhandlungsmacht der ArbeiterInnen zusätzlich schwächte. Ausdruck dieser Machtverschiebung zuungunsten der ArbeiterInnen sind die seit drei Jahrzehnten stagnierenden realen Medianlöhne in den USA, und die seither ebenfalls schwache Lohnentwicklung in der (heutigen) EU und Japan. Einher gingen diese Prozesse mit dem politisch geförderten Aufstieg des Finanzsektors, der Shareholder Value-Orientierung des Managements und massiv steigenden Gehältern der CEO’s, wodurch Einkommensungleichheiten weiter zunahmen. Ausführlich warnt Glyn vor den Gefahren dieser Entwicklung: „[C]urrent macroeconomic stability is highly vulnerable to financial crisis.“ (S. 150)
Weitere Kapitel widmet Glyn den internationalen Wirtschaftsbeziehungen, dem Aufstieg und der neuen Rolle Chinas in der Weltwirtschaft, FDI’s, dem US-Wechselkurs und dem US-Außenhandelsdefizit, der Stagnation in Japan, sowie der globalen Produktivitätsentwicklung und Kapitalakkumulation. Glyn interessieren insbesondere auch die Auswirkungen dieser Entwicklungen auf ArbeiterInnen und Niedrigqualifizierte. Dabei diskutiert er auch den verbliebenen Handlungsspielraum der Wirtschafts- und Sozialpolitik zur Beeinflussung der Lohnentwicklung, personalen Einkommensverteilung und Arbeitsbedingungen der Bevölkerung. Er kommt dabei zu dem Schluss, dass die Wohlfahrtssysteme im Zuge der Globalisierung nicht zu einem Modell des reduzierten Wohlfahrtsstaates konvergiert sind. Entsprechende Steuerungsmöglichkeiten der Politik sind demnach weiterhin vorhanden.
Die Ausführungen Gylns sind übersichtlich, knapp, präzise, und mit zahlreichen Quellen und Daten unterlegt. Andrew Glyn unterrichtete Ökonomie an der Oxford University. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählten Wirtschafspolitik, Politische Ökonomie und Arbeitslosigkeit.
Andrew Glyn: Capitalism Unleashed – Finance, Globalization and Welfare. Oxford University Press, 2005, 256 Seiten.
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