2015 soll die Debatte um das neue Parteiprogramm der SPÖ beginnen. In diesem Zusammenhang wird vielleicht die eine oder der andere einen Blick in die letzten beiden Parteiprogramme werfen. Besonders ein Vergleich zwischen dem Parteiprogramm von 1978 und dem von 1998 ist lohnend. Er zeigt nicht nur zwei unterschiedliche ideologische Konzepte, sondern auch zwei verschiedene Haltungen zur Frage, was ein Parteiprogramm überhaupt leisten soll.
von Josef Falkinger*
Inhalt
Teil 1: Das Parteiprogramm von 1998
„Im Parteiprogramm steht niedergeschrieben, welche Schwerpunkte die Partei bei ihrer politischen Tätigkeit durchzuführen gedenkt und welche grundsätzlichen Ziele die Partei anstrebt.“
So wird ein Parteiprogramm im Web-Lexikon www.wissenswertes.at recht gut definiert. Das SPÖ-Programm von 1998 entspricht dieser Definition nicht. Es besteht weniger aus Zielen und Schwerpunkten, die zukünftig politische Praxis werden sollen, sondern ist vielmehr die zum Programm gewordene Politik der SPÖ des Jahrzehnts davor – der 90er Jahre. Das Programm ’98 hält sich durchgehend streng an den Rat von Helmut Schmidt: „Wer Visionen hat, braucht einen Arzt.“ Wenn – was selten der Fall ist – irgendeine Forderung an die Zukunft drinnen steht, so ist sie so schwammig gehalten, dass auch Angela Merkel kein Problem hätte, das Programm zu unterschreiben, wenn sich nicht die völlig deplatziert wirkende Vision von der klassenlosen Gesellschaft doch noch irgendwie in den ersten Absatz hineingeschmuggelt hätte. Statt konkreten gesellschaftsverändernden Zielsetzungen enthält der Text vorwiegend abstrakte Wertvorstellungen. Moralische Maximen drohen aber ohne die Einbettung in klare politische Ziele zu hohlen Phrasen zu verkommen, wie wir es etwa schon vom Christentum und anderen Religionen kennen.
Während es in Bezug auf die hehren Grundsätze im Programm 1998 schier keine Grenze gibt, wird der konkrete Handlungsspielraum der Politik so engmaschig definiert, dass er kaum mehr sichtbar ist. Er lässt sich folgendermaßen zusammenfassen:
Die Globalisierung führt zu verschärftem Wettbewerb. Der Lebensstandard kann unter diesen Bedingungen nur gehalten werden, wenn verstärkt in F&E und Bildung investiert wird. Regulierende Eingriffe in den Markt sind nur auf europäischer Ebene oder gar Weltebene möglich, da sonst das Kapital abwandert.
Das Parteiprogramm von 1998 ist Musterbeispiel für ein politisches Programm im Zeitalter der Postdemokratie.
Umwertung der Werte
Dabei werden auch die bisherigen Werte der Sozialdemokratie umgewertet: Die Entwicklung seit 1978, die durch enorme Machtverschiebungen von Arbeit in Richtung Kapital begleitet war – auch im Programm „Globalisierung“ genannt – wird im Grunde genommen positiv bewertet:
„[…] das Tempo der gesellschaftlichen Veränderungen hat sich nicht verlangsamt, sondern eher beschleunigt. Sozialdemokratisch mitbestimmte Politik hat nicht nur geholfen, das Wohlstandsniveau zu heben, sondern auch, traditionelle Fesseln des Denkens und Handelns zu überwinden.“
Welche traditionellen Fesseln des Denkens und Handelns sind hier gemeint? In der Ära der Regierungen Vranitzky und Klima gab es einen Schwenk von einer austrokeynesianischen zu einer neoliberalen Wirtschaftspolitik. Es kam zu Ausgliederungen, Teilprivatisierungen und einer teilweise unschönen Sozialschmarotzerdiskussion.
„Der internationale Konkurrenzdruck wächst als Ausdruck sich angleichender Verwertungsbedingungen des Kapitals. […] Ein rücksichtsloser Neoliberalismus und ein unsozialer Neokonservativismus versuchen, aus diesen Entwicklungen dauerhafte Vorteile zugunsten der Kapitalinteressen und zu Lasten der arbeitenden Menschen zu ziehen.“
Rücksichtslose Neoliberale versuchen aus dem steigenden Konkurrenzdruck Vorteile zu ziehen. Der steigende Konkurrenzdruck selbst wird aber an sich nicht negativ bewertet. Die Globalisierung hätte vielmehr die Entwicklung der Europäischen Union erst möglich gemacht. Was alten Programmen die Vision der sozialistischen Gesellschaft war, ist dem Programm von 1998 die Vision einer irgendwann abgeschlossenen europäischen Einigung. Die einzige wirkliche Vision des 1998er Programmes ist eine mit den bürgerlichen Parteien geteilte EU-phorie.
Die Umwertung der Werte im Parteiprogramm von 1998 besteht vor allem darin, dass der Kapitalismus, den es in jedem vorherigen Parteiprogramm der SPÖ zu überwinden galt, nun grundsätzlich positiv gesehen wird. Es gelte lediglich gewisse Kontrollen und Regeln aufrechtzuerhalten – das System aber passt.
Neoliberalismus
Unmerklich vollzieht die SPÖ hier auch eine Abkehr von der Ideologie der sozialen Marktwirtschaft, definiert als Mischwirtschaft. Dem Privaten wird in der Frage der Wirtschaftsorganisation jetzt das eindeutige Primat vor dem Staat gegeben. Ein starker staatlicher Sektor als Gegengewicht und Ergänzung zum privaten Sektor ist nicht mehr erwünscht – der Markt soll grundsätzlich die Wirtschaft alleine organisieren.
„Funktionierende Märkte und fairer Wettbewerb leisten einen wichtigen Beitrag zur Förderung des Wohlstands durch ihren Zwang zu effizienter und preiswerter Erbringung von Leistungen und Gütern im Interesse der Verbraucherinnen und Verbraucher. Wir treten daher für offene Märkte und eggen bestehende und neue Monopole mit ihren Nachteilen und Kosten ein. Ein modernes Wirtschafts- und Kartellrecht hat daher die Aufgabe, das Funktionieren des Marktes zu gewährleisten.“
Interessant ist dabei, dass unter den Regeln, die den Markt ordnen sollen, vor allem das Kartellrecht mehrfach betont wird. Wenn der Staat also interveniert, soll es wieder zugunsten des freien Marktes sein. Auch hier fand eine Umwertung vergangener sozialdemokratischer Werte statt. Alle bisherige Programme der Sozialdemokratie sahen in der Bildung von Monopolen eine dem Kapitalismus immanente Tendenz, auf die mit Vergesellschaftung zu reagieren wäre. SozialistInnen der Nachkriegszeit haben in Anlehnung an den österreichischen Ökonomen Joseph Alois Schumpeter immer die Meinung vertreten: Solange Konkurrenz funktioniert → geregelter Markt; sobald sie auf Grund einer fortgeschrittenen Monopolisierung nicht mehr funktioniert → Sozialisierung. Sie wiesen auch darauf hin, dass in gewissen Bereichen (Bankenwesen, Infrastruktur, …) kapitalistische Konkurrenz dem Gemeinwohl aber auch der volkwirtschaftlichen Effizienz widersprechen muss.
In Wirklichkeit richtete sich die liberale Doktrin vom Aufbrechen der Monopole gar nicht so sehr gegen private Monopole, sondern ganz in neoliberaler Manier gegen staatliche Monopole wie die Post und die Telekommunikation – Betriebe, die bereits in der Monarchie mit Erfolg verstaatlicht wurden. Denn gerade diese „Monopole“, wurden in der Ära Viktor Klima teilprivatisiert und der europäischen Konkurrenz ausgeliefert. Hier kommt der neoliberale Charakter des Parteiprogramms von 1998 am klarsten zum Ausdruck. Selbst ordoliberale Wirtschaftstheoretiker würden die Post als natürliches Monopol lieber in staatlichen Händen sehen.
Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang auch ein Artikel von Jakob Kapeller und Jakob Huber, in dem sie die Programme verschiedener sozialdemokratischer Parteien auf ihren neoliberalen Gehalt untersucht haben. (Politische Paradigma und neoliberale Einflüsse am Beispiel von vier sozialdemokratischen Parteien in Europa, ÖZP, 38. Jg.(2009) H.2, 163-192)
Die beiden Autoren kommen zum Schluss, dass sich in den aktuellen Parteiprogrammen von SPÖ, SPD und Labour Party eine Orientierung an den begrifflichen und inhaltlichen Konstanten des Neoliberalismus zeige und dass die Annäherung an den Neoliberalismus umfangreicher erscheine als die verbliebene Distanz.
Ein Traum in Scherben
Spätestens nach der Wirtschaftskrise von 2009 liegt der Traum von den großen Segnungen des Wettbewerbs und der Privatisierungen in Scherben, genau wie das Märchen vom Aufstieg der marktorientierten Sozialdemokratie. Im Programm von 1998 erlebt dieser Traum seinen österreichischen Zenit:
„Es ist kein Zufall, dass die Sozialdemokratie in den letzten Jahren zur größten politischen Kraft in Europa aufgestiegen ist und dass in vielen Staaten der EU Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten eine führende Rolle spielen, denn die Bürgerinnen und Bürger Europas vertrauen darauf, dass die Sozialdemokratie Reformen durchführt, aber soziale Stabilität bewahrt, dass sie die Kraft zur Veränderung hat, aber das menschliche Maß nicht aus den Augen verliert; […]“
Von welchen Reformen ist hier die Rede? Da sie in Gegensatz zur sozialen Stabilität gebracht werden, können hier nur Reformen in Richtung Entfesselung der Wirtschaft gemeint sein – „Reformen“ die bis heute viele ArbeitnehmerInnen von der Sozialdemokratie entfernt haben. Die Sozialpolitik wird in diesem Passus nur als soziale Stabilität angesprochen, die es zu bewahren gelte. Die Formulierung ist im Grunde sehr ehrlich. Es gelte den Sozialstandard gar nicht unbedingt zu halten. Beim Sozialabbau müsse lediglich auf die soziale Stabilität geachtet werden.
Heute – sechzehn Jahre später – ist in den europäischen Medien die Rede von einer historischen Krise der Sozialdemokratie, nur vergleichbar mit der Krise von 1914 und jener von 1933/34. Katastrophale Wahlergebnisse in Deutschland, Großbritannien, Österreich und Spanien. Eine an der Wahlurne atomisierte Sozialdemokratie in Griechenland. Die niedrigsten Zustimmungsraten für den sozialdemokratischen französischen Präsidenten seit es Aufzeichnungen gibt. Das ist die Bilanz des dritten Weges – jener Politik, die im Parteiprogramm von 1998 zum Ausdruck gebracht wird. Es ist in diesem Zusammenhang erschreckend, dass der Wiener Bürgermeister auch im fünften Jahr der Krise und angesichts der sich zunehmend selbst zerstörenden europäischen Sozialdemokratie keinen Bedarf für ein neues SPÖ-Parteiprogramm sieht.
Teil 2: Das Programm von 1978
Das Programm von 1978 ist alleine schon deshalb bemerkenswert, weil es über die damals vorherrschende sozialdemokratische Tagespolitik hinauswies, anstatt sie unkritisch zu legitimieren. Es reflektiert nicht nur den damals praktizierten Fordismus, sondern auch den heute dominierenden Postfordismus.
„Der Kapitalismus hat sich gewandelt, aber seine entscheidenden Merkmale sind geblieben. Auch in der modernen Industriegesellschaft entscheiden Unternehmer, ob als Eigentümer oder als Manager, über Produktion, die Investitionen und somit über die Arbeitsplätze. Ihre Entscheidungen kommen nicht auf Grund langfristiger gesellschaftlicher Planung zustande, sondern auf Grund von Gewinnerwartungen und Konkurrenzdruck. So kommt es insbesondere in Krisen dazu, dass notwendige Investitionen eingeschränkt oder nur für Rationalisierungsmaßnahmen, die Arbeitsplätze einsparen, eingesetzt werden.“
Der tatsächlich beeindruckende, in der Ära Kreisky und davor errungene Wohlfahrtsstaat, die Vollbeschäftigung und andere Annehmlichkeiten werden nicht als Ende der Geschichte dargestellt. Im Gegenteil: den immer noch kapitalistischen Wohlfahrtsstaat, den Staatskapitalismus, gelte es nunmehr zu ersetzen durch die Organisationsform der sozialen Demokratie. Die Idee von der sozialen Demokratie, die auch dem Staatssozialismus sowjetischen Typs entgegengesetzt wird, durchzieht das ganze Programm.
„Die soziale Demokratie wird verwirklicht, indem immer neue Bereiche der Gesellschaft mit den Ideen der Demokratie durchdrungen werden. […] Dazu muss die auf ökonomischer oder bürokratischer Macht beruhende Herrschaft über Menschen durch solidarische und kooperative Beziehungen zwischen den Menschen ersetzt werden. Frei von Ausbeutung und Zwang soll eine Vielfalt von Lebens- und Arbeitsformen entstehen.“
Wohlfahrtsstaat und soziale Demokratie
Die Weiterentwicklung des Wohlfahrtsstaat zur Demokratie, das Ersetzen obrigkeitsstaatlicher Strukturen und kapitalistischer Eigentumsformen durch die Selbstverwaltung wurde nicht als hehres Ziel verstanden, sondern als Gebot der Stunde, um den Wohlfahrtsstaat gegen den aufkeimenden Neoliberalismus zu verteidigen:
„Aber der Wohlfahrtsstaat ist durch die Krisenanfälligkeit der kapitalistischen Wirtschaftsordnung bedroht. Seine Errungenschaften werden von Wirtschaftskrisen in Frage gestellt. Die sozialdemokratische Politik kann sich daher nicht allein auf die Verteidigung bestehender politischer Rechte und sozialer Errungenschaften beschränken, sondern muss eine grundlegende Umgestaltung der gegenwärtigen Wirtschaftsordnung in eine gerechtere und weniger krisenanfällige zum Ziele haben.“
Weiter heißt es:
„Die Sozialisten lehnen es mit Entschiedenheit ab, diese Entwicklung tatenlos hinzunehmen. […] Deshalb treten die Sozialisten für die Reform der Entscheidungs- und Eigentumsverhältnisse ein […]“
„Die effiziente Bereitstellung von erwünschten Gütern und Leistungen ist nur dann gewährleistet, wenn der wirtschaftliche Prozess durch die planende Gesellschaft demokratisch bestimmt wird. […] Überbetriebliche Planung soll sicherstellen, dass die Produktion an Wohlfahrtskriterien ausgerichtet wird, nicht nur an Wachstum und Gewinn. Sozialisten gehen davon aus, dass die Grundrechte der sozialen Demokratie – das Recht auf Arbeit, das Recht auf humane Umwelt, Mitbestimmung und Mitverwaltung – sowie die Ziele Vollbeschäftigung, stetiges qualitatives Wachstum, außenwirtschaftliches Gleichgewicht, gleichmäßige Einkommensverteilung und Preisstabilität nur dann erreicht werden können, wenn die Entscheidungsverhältnisse grundlegend verändert werden.“
Keynes und Marx
Hier ist klar ersichtlich, wie das Programm von 1978 den damals vorherrschenden Fordismus transzendiert. Auch der den Fordismus prägende Keynes verlangte nach einer Sozialisierung der Investitionsentscheidung, wollte aber die Intervention des Staates auf das Schaffen von effektiver Nachfrage und Geldpolitik beschränkt wissen. Das Programm von 1978 geht über Keynes hinaus, weil es die Frage der Entscheidungen und der Eigentumsverhältnisse und die direkte Entscheidung über Produktion und Investitionen ins Zentrum der Diskussion rückt. Dieser Gedanke ist eher auf Marx zurückzuführen als auf Keynes. Der folgende Absatz bringt dies klar zum Ausdruck:
„Sozialistische Wirtschaftspolitik beschränkt sich nicht darauf, Fehlentwicklungen der Marktwirtschaft jeweils im Nachhinein zu korrigieren. Wo Produktions- und Investitionsentscheidungen vor allem am erwarteten Gewinn ausgerichtet sind, werden immer wieder Arbeitslosigkeit, Inflation und Stagnation auftreten. Sozialistische Wirtschaftspolitik sieht im Markt keinen Wert an sich, sondern ein Organisationsprinzip, das neben anderen Steuerungsformen der Wirtschaft gesellschaftlich bestimmte Aufgaben erfüllen kann. Die Alternative, vor die sich jede Wirtschaftspolitik gestellt sieht, heißt: Freiheit vernichtende und Regionen verödende Wirtschaftskrisen oder eine demokratisch planende Gesellschaft.“
Dieser Absatz liest sich heute fast prophetisch. Er nimmt dabei Ideen vorweg, die heute zum Beispiel von Wolfgang Streeck vertreten werden. Der Direktor des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung in Köln vertritt in seinem Buch Gekaufte Zeit – die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus die These, dass Demokratie und Kapitalismus unvereinbar sind. Er geht davon aus, dass die Eigentümer der Produktionsmittel in den 1970er-Jahren durch eine Art Investitionsstreik die Wende zum Neoliberalismus erzwungen haben und heute drohen, die Demokratie an sich zu beseitigen. Das Programm von 1978 zeigt sich hier erstaunlich zeitgemäß.
Es enthält etwa ein klares Bekenntnis zur Verstaatlichung der Großbanken und der Grundstoffindustrie. Zur Überwindung von spekulativen Störungen wird als Hauptinstrument das öffentliche Eigentum im Kreditsektor genannt. Weitere interessante Maßnahmen werden gefordert, etwa „die volle Nutzung wissenschaftlicher Planungsmethoden und der Ausbau geeigneter Planungs- und Forschungsstellen, die allen Betroffenen offenstehen“ oder der „Zugang jedes Beschäftigten zu allen Informationen, die ihn betreffen“, die unmittelbare Beteiligung der ArbeitnehmerInnen an Entscheidungen, die ihren Arbeitsplatz und die Organisation des Arbeitsprozesses betreffen oder die Einführung paritätischer Mitbestimmung durch eine grundlegende Reform des Gesellschaftsrechtes.
Auch die These, dass eine Demokratie, die sich rein als Gewährleistung freier Wahlen versteht und nicht in die Gestaltung aller Lebensbereiche vordringt, in ein autoritäres System zurückzufallen droht, ist aktuell. Sie wird unter anderem vom schottischen Soziologen Colin Crouch in seinem Buch Postdemokratie vertreten.
Die Reform von politischer Demokratie und Verwaltung
In Bezug auf die Vertiefung der politischen Demokratie gibt es weitere spannende Ideen, die lange Zeit aus der politischen Diskussion verschwunden sind. Spätestens mit den Protesten 2011/12 der indignados (=Empörten) von Griechenland bis Spanien und ihrer Forderung nach democracia real (=wirklicher Demokratie) sind sie aber wieder aktuell.
So sind im Parteiprogramm 1978 folgende Forderungen zu lesen:
„Für die Beseitigung obrigkeitsstaatlicher Bürokratie. In der Demokratie sind alle Einrichtungen so zu gestalten, dass sie für die Bevölkerung überschaubar und für die Volksvertreter kontrollierbar sind.“
„Für die Schaffung offener Strukturen und für die Übertragung möglichst vieler Entscheidungs-, Mitwirkungs- und Kontrollrechte auf kleinere demokratisch organisierte Gemeinschaften, um die Entscheidungsprozesse überschaubarer zu machen und die Eigenverantwortlichkeit des einzelnen zu stärken.“
„Für eine Stärkung und Ausweitung der demokratischen Kontrolleinrichtungen, die die Tätigkeit der öffentlichen Verwaltung nicht nur im Hinblick auf ihre Wirtschaftlichkeit, sondern auch auf die Erfüllung ihrer Leistungs- und Planungsverpflichtungen für die Bevölkerung prüfen. Diese Kontrolleinrichtungen sollen im Auftrag gewählter Organe tätig werden und sich nicht nur aus Beamten zusammensetzen.“
„Für eine demokratische Kontrolle der Justiz wie aller anderen gesellschaftlichen Einrichtungen durch die Öffentlichkeit unter Wahrung der richterlichen Unabhängigkeit.“
Diese Passagen reflektieren die alte Sozialdemokratische Forderung, dass auch zumindest die höheren Beamten absetzbar sein müssen. Denn nichts anderes kann echte Kontrolle bedeuten. Heute wird unter Verwaltungsreform ausschließlich ein Sparpaket verstanden. Das Programm von 1978 hatte noch eine ganz andere Verwaltungsreform im Sinn:
„Die große Mehrheit der öffentlich Bediensteten verrichtet ihre Arbeit in sachlich nicht begründbarer und deshalb überflüssiger hierarchischer Abhängigkeit. Diese Fremdbestimmtheit hindert sie oft daran, ihre Tätigkeit als Dienst im Interesse der Bevölkerung, vor allem der sozial Schwächeren, zu erfüllen.“
Die Verfasser traten unter anderem ein „für eine dezentralisierte Verwaltung im Rahmen einer sinnvollen Verteilung der Aufgaben zwischen Bund, Ländern und Gemeinden, wobei der Föderalismus nicht bei den Ländern enden darf.“
Darüber hinaus forderte das Programm den Ausbau von Elementen des Persönlichkeitswahlrechtes und der innerparteilichen Demokratie sowie eine Demokratisierung des Auswahlverfahrens von Mandataren.
Die Reform der Arbeitsverhältnisse
Die Sozialdemokratie übernahm in den 1990er-Jahren mehr und mehr den kapitalistischen Leistungs- und Arbeitsbegriff – es sei nur an Gusenbauers Diktum von der solidarischen Hochleistungsgesellschaft erinnert. Aufgabe der Sozialdemokratie sei es lediglich, sich für Chancengleichheit einzusetzen, anstatt das Verhältnis des Menschen zu seiner Arbeit an sich zu überdenken. Das Programm von 1978 hingegen trägt noch immer den Marxschen Traum von der Aufhebung der entfremdeten Lohnarbeit und der verdummenden Arbeitsteilung in sich. So heißt es:
„Für die Überwindung des kapitalistischen Leistungsbegriffes durch eine neue ‚Wertigkeit der Arbeit‘, die diese als einen Teil der Selbstverwirklichung der Menschen ansieht. Für die Entwicklung und den Einsatz von Technologien, die sich an den Bedürfnissen der Menschen und nicht an Profitinteressen orientieren.“
„Für eine Produktion, in der jeder Arbeitnehmer an der Gestaltung seines Arbeitsplatzes teilnehmen kann. Voraussetzung dafür ist die Verringerung der Arbeitsteilung und der Abbau der hierarchischen Entscheidungsstrukturen.“
Arbeit wird als grundlegendes menschliches Bedürfnis nach Selbstverwirklichung angesehen. Nach dieser Philosophie ist Arbeitsunlust lediglich die Unlust gegenüber einer entfremdeten, hierarchischen Arbeit. In diesem Zusammenhang ist es nur folgerichtig, dass das Programm jeglichen Zwang zur Arbeit ablehnt und sich eine Vielheit an Arbeitsformen wünscht. Selbstverständlich gehörte auch die Forderung nach einer Verkürzung der Arbeitszeit noch dazu.
Was hat uns bloß so ruiniert?
Liest man das Parteiprogramm von 1978, so bekommt man einen plastischen Eindruck vom Niedergang der Sozialdemokratie der letzten 30 Jahre. Interessant ist, dass viele den Beginn dieses Niederganges ebenfalls Ende der 1970er-Jahre ansetzen. Es ist absolut nicht gelungen, die Vorhaben des 1978er-Programmes auch nur ansatzweise umzusetzen. Im Gegenteil: Kaum war es erschienen, begann die SPÖ-Führung immer schneller einen dem Programm völlig entgegengesetzten Kurs einzuschlagen. Sie versuchte nicht den Wohlfahrtsstaat in eine soziale Demokratie umzuwandeln, sondern begann eine rein defensive Politik zu verfolgen. Unter den Bedingungen eines immer schwierigeren weltpolitischen Umfelds galt es nunmehr lediglich, den erreichten Lebensstandard zu verteidigen. Ab Mitte der 1980er-Jahre begann die SPÖ dann auch immer mehr Bestandteile des institutionellen Rahmens der Nachkriegszeit zu hinterfragen, die noch in den 1970er-Jahren als zentrale Elemente des Wohlfahrtsstaates definiert worden waren – so zum Beispiel das weitgehend öffentliche Bankensystem, die staatliche Kontrolle über die Schlüsselindustrien, Vollbeschäftigung, den weiteren Bau von Gemeindebauten in Wien oder Preisstabilität bei Lebensmitteln und beim Wohnen, um nur einige zu nennen. Seitdem ist es in der Sozialdemokratie zu einer zunehmenden ideologischen Verwirrung gekommen, der all jene, die der Bewegung nicht enttäuscht den Rücken kehrten, mit einer Flucht in den Pragmatismus begegneten, einer Entideologisierung.
Die Wirtschaftskrise von 2008 hat nun diese Verwirrung und Konzeptlosigkeit offensichtlich gemacht. Es ist an der Zeit, die programmatischen Grundlagen und den Handlungsspielraum sozialdemokratischer Politik neu zu diskutieren. Das Programm von 1978 mag in diesem Diskussionsprozess die eine oder andere Idee liefern.
*Josef Falkinger ist Mitglied der SPÖ Alsergrund
Links:
[…] Tony Blair und Gerhard Schröder gesehen wird. Oder zumindest als Schritt in die falsche Richtung (hier ein kritischer Vergleich der Programme von 1978 und 1998). Insofern ist es ein programmatisches Statement, wenn die SPÖ dort anknüpft, wo sie nach Meinung […]
[…] [3] For a comparison of the two manifestos see Josef Falkinger, Zwei Parteiprogramme: 1978 und 1998, http://blog.sektionacht.at/2014/03/zwei-parteiprogramme-1978-und-1998/ […]
[…] bis Ende der 1970er Jahren zum Standardrepertoire sozialdemokratischer und gewerkschaftlicher Programme […]