Ich bin natürlich gegen Gewalt an Frauen, aber …

Eine Studie, die belegt, dass Gewalt gegen Frauen in Europa ein systematisches Massenphänomen ist, wurde letzte Woche veröffentlicht. Das passt nicht ins Weltbild jener, die eine Diskriminierung von Frauen in unserer Gesellschaft prinzipiell bestreiten. Ihre Gegenstrategie ist eine simple Täter-Opfer-Umkehr.

Nikolaus Kowall

Diese Woche wurde eine interessante und gleichzeitig brisante Studie der europäischen Grundrechte Agentur FRA zu Gewalt gegen Frauen in Europa veröffentlicht. Insgesamt 42.000 Frauen in der EU wurden in 50-minütigen Interviews in Hinblick auf Erfahrungen mit physischer, psychischer und sexueller Gewalt/Belästigung seit ihrer Kindheit befragt. Ein Drittel aller Frauen gab an, schon einmal Opfer einer solchen Form von Gewalt geworden zu sein. Dass Gewalt gegen Frauen ein Massenphänomen ist überrascht wachsame BeobachterInnen wohl wenig. Erstaunlich ist vielmehr die völlig konterintuitive Länderstatistik. Die skandinavischen Staaten und die Niederlande gehören zu den Ländern wo Frauen am meisten Gewalt erlebt haben, Polen, Österreich und Kroatien zu jenen wo Frauen am wenigsten betroffen sind. Eine Mitarbeiterin der Europäischen Grundrechtsagentur begründet diese Resultate auf die.standard.at folgendermaßen:

Erstens die je nach Land andere kulturell bedingte Bereitschaft von Frauen, über Gewalterfahrungen offen zu sprechen. Zweitens das Ausmaß von Gendergerechtigkeit: Je gerechter eine Gesellschaft ist, umso klarer wird Gewalt gegen Frauen als Problem erkannt. Drittens das Ausmaß, in dem Frauen in einem Land Risikosituationen ausgesetzt sind, etwa wenn sie außerhäuslich arbeiten oder ausgehen, oder aber meist daheim sind. Viertens die national unterschiedlichen Kriminalitätsraten sowie, fünftens, die in dem Land herrschenden Trinkgewohnheiten.

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Das heißt die Studie könnte auch genau umgekehrt interpretiert werden: In Gesellschaften mit hoher Frauenerwerbsquote und einem selbstverständlich nicht-häuslichen Lebensstil, kommen Frauen eher in die Situation mit Gewalt konfrontiert zu werden. Wenn es passiert können sie das auch als Gewalt benennen und trauen sich überdies es offen auszusprechen. Das äußert sich in der Statistik so, dass die entsprechenden Länder bei Gewalt gegen Frauen an der Spitze liegen. Umso eher Formen der Gewalt hingegen als selbstverständlich wahrgenommen werden und umso weniger es sich gehört darüber zu sprechen, umso weiter unten, sprich umso besser liegt man in der Statistik. So verstanden wäre die gute Position Österreichs erschreckend. Hierzulande geben 20 Prozent der Frauen an schon einmal Opfer von Gewalt geworden zu sein, das ist vor Kroatien und Zypern der „zweitbeste“ Platz hinter Polen und weit entfernt von Deutschland, das mit 35 Prozent über dem EU-Schnitt liegt. In dieser Lesart wäre das Problembewusstsein am stärksten in Dänemark und Finnland, am schwächsten hingegen in Polen und Österreich.

Es kann natürlich genauso gut sein, dass Gewalt gegen Frauen in Österreich etwas unterdurchschnittlich ist, die Scham darüber zu sprechen etwas überdurchschnittlich, was in Kombination mit der niedrigen Kriminalitätsrate zu dem Spitzenplatz führt. Wir können diese Hintergründe aus der Studie schlicht nicht ablesen, fest steht dass Gewalt gegen Frauen ein systematisches Massenphänomen ist und dass das spezifische Länder-Ranking von vielen als unplausibel empfunden wird. Die Resultate werfen mehr Fragen auf als die Antworten geben und weil darunter viele brisante und spannende Forschungsfragen sind, hat sich die Durchführung dieser Studie absolut ausgezahlt.

Verblüffender als die Studie selbst war allerdings ihre Rezeption in den Online-Foren. Eine Armada von meist männlichen Relativierern rückte aus um die Ergebnisse zielsicher zu demontieren. Seriösere Relativierungen machten darauf aufmerksam, dass Bestände wie „Schubsen“ im Katalog physischer Taten enthalten sind (Studie S. 38) und die Abgrenzung von Gewalt bei so einer breiten Definition schwierig wird. Affektivere Reaktionen stellten die Frage wieso Gewalt gegen Männer keine Berücksichtigung fände oder wiesen darauf hin, dass sie als Männer die noch nie gewalttätig waren, nicht unter Generalverdacht gestellt werden wollen. Besonders dumme Poster stellten die Frage, ob die Frauen im Norden etwa mehr Gewalt anziehen würden als Frauen anderswo. Der unausgesprochene Subtext: „Emanzen die sich so aufführen wie in Skandinavien holen sich eben einmal eine g’sunde Watschn ab!“ Die Täter-Opfer Umkehr und die Verklausulierung derselben unter dem Begriff „Gewalt anziehen“ ist schon dreist niederträchtig. Wer ist es denn von dem die Gewalt kommt die angeblich angezogen wird? Das gewalttätige Subjekt erscheint gar nicht, es genießt in dieser Formulierung einen anonymen Schutz. Was Leuten die solche Verklausulierungen verwenden zu denken geben sollte ist der Umstand, dass diese perfide Form der Begriffsbildung eine der Kernstrategien der NS-Kommunikation war. Die eigene Aggression wird als Notwehr dargestellt. Das ist das Letzte!

Ein weiterer Reflex der intendiert Gewalt gegen Frauen als Thema zu delegitimieren ist die Gegenfrage, weshalb nicht auch die Gewalt von Frauen an Männern in der Studie untersucht wurde. Die Antwort auf diese zweite Form der Täter-Opfer Umkehr ist einfach: Weil das die beiden Phänomene als gleichwertige Probleme erscheinen lassen würde. Natürlich erleben Männer viel Gewalt, aber hauptsächlich durch Männer, nur selten durch Frauen. Wer die Dimensionen von männlicher Gewalt an Frauen und von weiblicher Gewalt an Männern als gleich relevant einschätzt, ignoriert seine eigenen Erfahrungen zugunsten eines Reflexes dessen Herkunft im Reich der Psychologie liegen muss. Das glauben Sie nicht? Schließen Sie die Augen und erinnern Sie sich an ihre Kindheit und Jugend. Denken Sie an die Familien ihrer damaligen FreundInnen und SchulkameradInnen ihrer Bekannten, Verwandten oder ihrer ersten Beziehungen. Wie oft gab es männliche Gewalt gegen Frau und Kinder? Und wie oft gab es Gewalt gegen den Herrn des Hauses? Sehen Sie?! Wenn alle Studien Sie nicht überzeugen können, dann womöglich die Erfahrungen ihres eigenen Lebens. Es gibt ein großes gesellschaftliches Problem männlicher Gewalt gegen Frauen und es gibt ein – im konkreten Fall sicher nicht zu verharmlosendes – Randproblem weiblicher Gewalt gegen Männer. Wer Phänomene dermaßen unterschiedlichen Ausmaßes gleichsetzt macht die Diskussion nicht fairer, sondern betreibt Propaganda mithilfe der Ausnahmen die die Regel bestätigt.

Die Reaktion, dass friedfertige Männer sich bei Diskussionen über Gewalt gegen Frauen unter Generalverdacht gestellt fühlen ist affektiv im ersten Moment nachvollziehbar. Beim zweiten Hinschauen fällt aber auf, dass viele denkende Männer in dieser Frage weniger Abstraktionsvermögen an den Tag zu legen bereit sind als in anderen Diskussionen, in denen ihr Urteil genau durch diese Fähigkeit an Präzision gewinnt. Statt zu abstrahieren fühlen sie sich persönlich angegriffen was nicht unlogisch ist in Anbetracht der Tatsache, dass die große Mehrheit der Männer mit Frauen in Beziehungen sind, waren oder bald wieder sein wollen. Von dieser kleinen Egozentrik muss Mann sich aber in dieser Diskussion verabschieden, es geht nämlich genau nicht um den friedfertigen Mann. Bei etlichen anderen Fragen fällt diese Abstraktionsfähigkeit ganz leicht. Viele Männer sind keine Rassisten, keine Antisemiten und nicht homophob. Bei Studien über Rassismus, Antisemitismus oder Homophobie in Österreich würden diese Männer im Leben nicht auf die Idee kommen diese Ressentiments auf sich zu beziehen, sondern würden sorgenvoll auf den Gemütszustand des Landes blicken dessen Probleme sie erkennen. Die Frage ist, weshalb erkennen sie ein Problem nicht an, das ein Massenphänomen unserer Gesellschaft ist und zig Millionen Frauen in der Europäischen Union betrifft? Wir wissen, dass die Formulierung: „Ich bin ja kein Ausländerfeind, aber…“ unweigerlich ausländerfeindlich enden wird. Aber ist es nicht das gleiche wenn hunderte Forumseinträge so beginnen: „Ich bin natürlich gegen jede Form von Gewalt an Frauen aber….“

Weil viele Leute prinzipiell nicht daran glauben dass Frauen diskriminiert werden, korrespondiert auch das Massenphänomen systematischer Gewalt gegen Frauen nicht mit ihrem Weltbild. Zwar bestreiten sie Gewalt gegen Frauen in Einzelfällen nicht, die systematische Gewalt halten sie jedoch für eine Erfindung des Feminismus. Viele reagieren in Folge aggressiv auf feministische Aktivität und interpretieren den Einsatz der Frauenbewegung für Gleichheit als Wunsch nach weiblicher Dominanz in der Gesellschaft. Daraufhin stilisieren sich viele Männer als Opfer und reagieren mit einer antifeministischen Rhetorik. Nur wo ist der qualitative Unterschied zwischen latentem Rassismus und Aversion gegenüber jeglicher Form von Feminismus? Geht es nicht bei beiden darum einer gesellschaftlichen Gruppe Eigenschaften, Merkmale und Charakteristika anzudichten und ihnen die eigene Definitionshoheit über dieselben nicht zuzugestehen? Ist der Anti-Feminismus nicht der Rassismus der Frauen-Verachter?

4 Responses to Ich bin natürlich gegen Gewalt an Frauen, aber …

  1. Heinrich Elsigan 25. März 2014 at 05:52 #

    Ich glaube, Autorinnen könnten diese Reaktions-Automatissmus aufheben, indem sie weniger häufig von Gewalt gegen Frauen schrieben, sondern die Gewalt gegen Frauen näher kategorisieren würden.

    Bei konkreteren Artikeln und Einschränkungen würde die Reaktion der Männer, so denke ich, weniger reflexartig ausfallen.
    Ein par Beispiele:
    Gewalt gegen Frauen am Arbeitsplatz
    Gewalt gegen Frauen im öffentlichen Raum
    Gewalt gegen Frauen in der Familie
    Gewalt gegen Frauen im Strafvollzug
    Gewalr gegen Frauen in Verkehrsmitteln
    Gewalt gegen Frauen in den Medien (mediale Gewalt, meta-Gewalt)
    Gewalt gegen Frauen in der Schule/auf der Universität
    Gewalt gegen Frauen innerhalb der Zeugen Jehovas
    Gewalt gegen migrantische weibliche Pflegekräfte
    […]

  2. rot 11. März 2014 at 17:09 #

    Lieber Nikolaus Kowall,

    ich stimme diesem Artikel überall zu.

    Es ist nach wie vor ein großes Problem unserer Gesellschaft, dass Gewaltopfern die (Mit-)Schuld gegeben wird.

    Ich möchte aber sagen, dass auch die SPÖ gewalttätig ist: Ihre Politik ist Gewalt gegenüber Arbeitslosen, Armen und Obdachlosen. Die Sektion 8 unterstützt die Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik der SPÖ – wahrscheinlich im Unwissen, dass diese Politik Gewalt gegen diese Gruppen ist.

    Arbeitslose, Arme und Obdachlose sind der schlimmsten strukturellen Gewalt in Österreich ausgesetzt. Viele von ihnen erleiden auch (schwere) individuelle Gewalt, nicht wenige von ihnen werden sogar ermordet.

    Mittlerweise kritisiert sogar die UNO die österr. Arbeitslosenpolitik: http://www.aktive-arbeitslose.at/news/20131209_uno-kritisiert_oesterreich_wegen_verletzung_sozialer_menschenrechte_ams-bezugssperren_mindestsicherung.html

    Es ist gut, dass ihr gegen Gewalt gegen Frauen und Homosexuelle kämpft. Ich möchte aber, dass ihr gegen jede Gewalt, also auch gegen Gewalt gegen Obdachlose, Arbeitslose und Arme, kämpft. Da hört man von euch gar nichts. Das verletzt mich als Betroffener.

  3. Abe 10. März 2014 at 14:28 #

    @ Andreas,
    aber wo, WO denn bitte werden Männer „pauschal schlechtgeredet“? Wie wäre es, wenn Sie einige fragliche Artikel nochmal kritischen Auges daraufhin durchsehen?
    Mir ist diese oft beklagte Pauschalität weder hier noch anderswo jemals untergekommen, wohl aber immer wieder solche Kommentare wie der Ihre. Ich frage mich (ernsthaft!), wie es dazu kommen kann, dass geschriebene Sätze so verschieden wahrgenommen werden.

    Wenn nun eine Studie deutlich macht, dass ein paar Prozent aller Männer ein Gewaltproblem verursachen und die Gesellschaft bisher die Augen davor verschließt: wo sehen Sie da die Pauschalisierung, was genau daran macht Sie wütend, und wo entdecken Sie einen Keil?

  4. Andreas 9. März 2014 at 12:51 #

    Ich soll als Mann also nicht ang’rührt sein, wenn z.B. pauschal über Männer negativ gesprochen wird weil ich ja weiß dass ich nicht so bin wie die Männer, die Grund dafür sind. Und Benachteiligungen („positive“ Diskriminierung) soll ich gut finden, weil es dem Ausgleich von Ungerechtigkeiten dient, die ich weder gutheiße, noch deren Nutznießer ich jemals war. Okay, kein Problem – lassen wir das mal so stehen – aber widerspricht das nicht der Philosophie, dass man das Opfer bestimmen lässt, ob es sich schlecht behandelt fühlt oder nicht? Wenn ich nämlich sagen würde, dass sich z.B. dunkelhäutige Menschen durch „Negerkuss“, Meinl-Mohr, Blackfacing etc. nicht angesprochen fühlen sollen, weil sie ja nicht gemeint sind, sieht die Sache wieder anders aus. Oder gilt das nur bei Minderheiten? Nun ja, ich beginne mich langsam als Minderheit zu fühlen, denn was ich über die Medien erfahren ist, dass scheinbar der Großteil der Männer Frauen belästigt, demütigt, ausnützt, quält oder missbraucht.

    Ich begrüße jede Maßnahme um Ungerechtigkeiten zwischen der Behandlung der Geschlechter auszuräumen. Aber ich denke, wir müssen das gemeinsam in die Hand nehmen und nicht einen Keil zwischen die Geschlechter treiben und Männer pauschal schlechtzureden. Das führt dann nämlich zu einer unnötigen solidarisierung genau der Gruppe Männer, die tatsächlich etwas dazuzulernen hätten.

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