In die Grassroots-Landschaft der USA kommt wieder Bewegung – Occupy Wall Street wird zu einem relevanten Faktor in der politischen Debatte. Eva Maltschnig* und Oliver Picek* fragen sich, was daraus werden könnte.
New York, Zucotti Park/Liberty Plaza – General Assembly. Ein paar hundert junge Leute versuchen sich basisdemokratisch zu organisieren. Mikrofone sind nicht erlaubt, so behelfen sie sich mit menschlichen Verstärkern (auch Joseph Stiglitz lernte diese Methode bei seiner Stippvisite kennen). Seit dem 17. September ist der Park besetzt, brutales Vorgehen seitens der Polizei und hunderte Verhaftungen friedlicher DemonstrantInnen lenkten Anfang Oktober schließlich doch die öffentliche Aufmerksamkeit auf den Protest. Mit der Berichterstattung wächst das allgemeine Interesse, in vielen Städten bilden sich Spin-Offs, Gewerkschaften unterstützen die Proteste.
Worum gehts?
Natürlich stellt sich die Frage, wer hier eigentlich wofür oder wogegen demonstriert. Spontane, sich ständig weiter entwickelnde und dezentral organisierte Proteste verweigern aber manchmal die Antwort darauf. Die Proteste an der Puerta del Sol in Madrid und die Audimax Besetzung in Wien zeigten das. Eine ungefähre Richtung gibt es aber doch: So wie #unibrennt nicht von ungefähr im Audimax der Uni Wien begann, liegt der Ausgangspunkt der neuen amerikanischen Proteste nicht zufällig an der Wall Street.
Das Wirtschaftssystem ist das wichtigste Thema: Die durchschnittlichen AmerikanerInnen stehen im finanzialisierten Kapitalismus auf der VerliererInnenseite, und die Wall Street ist das Symbol dafür. Der Slogan „we are the 99 percent“ soll offenlegen, was Reichtumsstatistiken seit Jahren zeigen – die ProfiteurInnen des Systems sind tatsächlich happy few. Ihre Privilegien werden politisch geschützt, die Symbiose aus Wirtschaft und Politik und der Klebstoff Wahlkampfspenden sorgen dafür. Den Einfluss der Wirtschaft in der
Politik zu verringern, die Finanzmärkte zu regulieren und den 99 Prozent ein besseres Leben zu ermöglichen, sind Forderungen, die viele teilen. Doch ein single issue Projekt ist Occupy Wall Street nicht, und kann es auch nicht sein, wenn sich breite Bevölkerungsschichten damit identifizieren sollen.
Wer engagiert sich?
Beim Protestmarsch am 6. 10. in New York finden sich tausende TeilnehmerInnen verschiedenster Altersgruppen, nachdem die Bewegung auch die New Yorker Gewerkschaften für den Protest gewinnen konnte. People of color sind allerdings deutlich rarer. In der HuffPo werden fehlende Sensibilität der OrganisatorInnen sowie das höhere Risiko, dem nicht-Weiße durch Polizeiübergriffe ausgesetzt sind, als Gründe dafür genannt.
Der „march“ beginnt um 16:30 am Foley Square und endet um 19:00 am Zuccotti Square. Zuvor haben sich bereits Studierende der NYU und New School am Washington Square (NYU) getroffen, um gemeinsam zum Treffpunkt zu marschieren. Die Demonstation läuft friedlich, sehr fröhlich und vor allem geordnet ab, werden doch die DemonstrantInnen durch Absperrungen nur auf einen Teil der Straße beschränkt, um den Verkehr nicht zu behindern. Nach der offiziellen Demonstration wird auf der Liberty Plaza Essen ausgegeben und TrommlerInnen spielen, aber es gibt keine Schlusskundgebung oder ähnliches – symptomatisch für die Bewegung, die sich wirklich erst von Beginn an organisieren muss. Es zeigt auch, dass die Protestkultur in den USA in den vergangegen Jahrzehnten fast gänzlich verschwunden ist. Viele TeilnehmerInnen verschwinden nach Hause, doch gibt es auch einen Zustrom an neuen Menschen, die erst jetzt von der Arbeit oder Universität kommen konnten.
Die Idee, die Wall Street (eine Straße vom Park entfernt) zu besetzen, kommt auf, doch die Polizei war schneller. Eine Dreierreihe des NYPD hat Absperrungen positioniert und sich am Zugang zur Wall Street verschanzt – dahinter eine Staffel berittener Polizisten auf großen, eleganten Pferden. Die nunmehr fast ausschließlich jungen DemonstrantInnen lassen zunächst nicht locker. „They are bringing in the police buses, so if you don´t wanna get arrested you should probably leave now“, so der Hinweis der WG-Kollegin. Doch die Bewegung marschiert zunächst zurück zur Liberty Plaza, an der zunächst Ratlosigkeit herrscht, bis spontan die Idee aufkommt, nach „Bowling Green“ ganz an den Süden Manhattens zu marschieren. 300-400 Menschen machen sich auf, und sowohl Polizei als auch DemonstrantInnen wissen, was nun folgt. Die Polizei versucht, die sich schnell bewegende Menge einzukesseln. Wer dann nicht nach einer Warnung der Polizei bei drei (oder auch eins) am „public sidewalk“ statt auf der Straße steht, der wird wegen „disorderly conduct“ oder „disrupting traffic“ festgenommen. Dabei wird man zunächst auf den Boden verfrachtet, je nach nach Belieben des Polizisten sanft oder mit übertrieben unnötiger Gewalt. Handschellen werden angelegt, und anschließend geht es in die Polizeibusse, die abfahren, sobald 8-12 Personen drinnen sitzen. Derweil bewegt sich die Menge weiter, und die Polizei riegelt die Straße ab.
Social Media ist überall: Bevor verhaftete Protestierende in die Busse steigen, sind schon drei Personen mit (Handy-)Kameras vor Ort, denen die Verhafteten ihre Namen sagen – zur Sicherheit. In der Tat ist damit die Chance, Polizeigewalt und Menschenrechtsverletzungen festzuhalten, größer als jemals zuvor – wie zum Beispiel jene von Anthony Bologna ein paar Tage zuvor. Doch genau die harsche Polizei – dabei trifft es auch einmal die „Falschen“ – und die vielen Verhaftungen helfen der Bewegung, die, auch wenn sie die besseren Argumente hat, noch immer relativ klein ist.
Soziale Probleme en masse.
Szenenwechsel – Ein Solidaritätsmarsch in New Orleans. Die DemonstrantInnen im Deep South sind mehrheitlich jung und ein wenig zerzaust, doch die Ray Ban Brillen, Birkenstock Sandalen, San Pellegrino Wasserflaschen, 700 Dollar Spiegelreflexkameras und Fjällräven Rucksäcke verraten schnell, dass es sich hier um Studierende handelt. Grund genug, sich zu beschweren, gibt es aber besonders für diese Gruppe. Nach dem Uni-Abschluss stehen junge Menschen in Amerika mit zehntaustenden Dollar Schulden da, immer öfter finden sie aber keinen Job, der ihnen ermöglichen würde, ihre Kredite zurückzuzahlen. Auch sie fühlen sich um den American Dream betrogen – nach jahrelangen Investitionen in ihr Humankapital schaut am Ende nichts raus.
Neben lokalen Anliegen reicht die Forderungspalette in New Orleans von „fair taxation“ zu „end the fed, end big government“. Beim open mic meint eine enthusiastische Demonstrantin, Ron Paul (Rep.) sei als Präsidentschaftskandiat zu unterstützen, weil er versprochen habe, die Fed abzuschaffen. Besonders viel Applaus bekam sie dafür nicht, doch fundamentale Staatskritik taucht immer wieder auf. Viele DemonstrantInnen tragen Anonymous-Masken, AnarchistInnen sind stark vertreten. „austerity measures have never protected women of color“, steht dagegen auf einem anderen Schild.
Ein Thema hat aber tatsächlich das Potenzial für breite gesellschaftliche Resonanz: Housing. Das Platzen der Immobilienblase führte zu drastischer Entwertung der Häuser, die BesitzerInnen konnten sie also nicht mehr zum Kaufpreis verkaufen. Allerdings erfordert der amerikanische Arbeitsmarkt mobile Arbeitskräfte, und so haben HausbesitzerInnen momentan oft keine andere Wahl, als ein Verlustgeschäft hinzunehmen. Wer wegen Jobverlust oder Krankheit und den damit verbundenen Kosten den Kredit nicht mehr bedienen kann, der/die fliegt sehr schnell aus dem eigenen Haus. Die zwangsgeräumten Häuser finden wiederum aufgrund der prekären Marktsituation keine KäuferInnen, leerstehende Häuser verschlechtern schließlich den Marktwert einer Gegend weiter. Genauso wie beim amerikanischen Arbeitsmarkt keine Erholung in Sicht ist, wird für den Immobilienmarkt bis 2014 kein Aufschwung erwartet. Das sind düstere Aussichten für die USA und ihre BürgerInnen – Grund genug zu protestieren gibt es allemal.
Wohin?
Ob Occupy Wall Street nun den Übergang vom „moment“ zum „movement“ schafft, sehen die AutorInnen dieses Beitrages kritischer als Peter Dreier von der HuffPo. Dreier beschreibt die notwendige Übersetzung der Aktionsformen in Kanäle der Realpolitik als wichtigen Entwicklungsschritt für die Bewegung. Neben Widerstand gegen Zwangsvollstreckungen könnten sich die AktivistInnen in Wahlkämpfe involvieren und so progressiven KandidatInnen und Themen Aufwind verleihen. Auch das Engagement für die Wiederwahl Obamas 2012 fällt für ihn ins Bereich der Möglichkeiten von Occupy Wall Street.
Bloß hat Obama das meiste seiner Strahlkraft, besonders für seine jungen UnterstützerInnen, im letzten Jahr verloren. Die geplante strenge Austeritätspolitik und die Halbherzigkeit, mit der sich der Präsident dagegen wehrte, machen ihn zum Mitverantwortlichen der aktuellen politischen und wirtschaftlichen Krise. Wie viel er nun tatsächlich „dafür kann“ sei hier einmal dahingestellt – aber eine Identifikationsfigur für junge, progressive AmerikanerInnen ist Obama derzeit nicht.
Occupy Wall Street definiert sich als Kontrapunkt zum herrschenden politischen System, ob es sich so schnell in die alten Regeln der Macht eingliedern wird, ist fraglich. Zu wichtig ist die Betonung auf Basisdemokratie und Führungslosigkeit. Der Wunsch, sich vom üblichen Politik-Sumpf abzugrenzen, ist nachvollziehbar. Um den Forderungen nach einem gerechten Wirtschaftssystem eine Chance auf Umsetzung zu geben, müssen sich die AktivistInnen aber überlegen, wie sie bestehende Mechanismen nutzen können. #unibrennt und die Proteste in Madrid sind an dieser Herausforderung gescheitert.
* Eva Maltschnig studiert Doktorat Wirtschafts- und Sozialwissenschaften an der Wirtschaftsuniversität Wien. Momentan arbeitet sie in New Orleans an ihrer Dissertation. Oliver Picek studiert Wirtschaftswissenschaften im PhD Programm der New School, New York.
[…] Beachtung durch die Medien gefunden. Im September 2011 begann die Occupy Wall Street als kleine Protestbewegung, die binnen sechs Wochen eine globale Protestwelle losgetreten hat. In weltweit etwa 1000 Städten […]