All jene, die für die Gründung von „Piratenparteien“ nur ein mildes Lächeln übrig gehabt oder sie für eine lokale, auf Schweden begrenzte Skurrilität gehalten haben, werden derzeit in Deutschland eines besseren belehrt. Beeindruckend sind nicht nur die ersten Mandate für die Piratenpartei in Münster und Aachen im Zuge der jüngsten Landtags- und Kommunalwahlen, sondern mehr noch das Ausmaß an Professionalisierung und vor allem Mobilisierung im Rahmen der Kampagne zur bevorstehenden Bundestagswahl. Eine kleine Übersicht:
- Den hervorragend gemachten Wahlwerbespot der Piraten haben mittlerweile über 240.000 Menschen auf Youtube gesehen. Er ist dabei aber nur einer von zahlreichen Piraten-Wahlaufrufen, die im Rahmen eines Piratenspot-Wettbewerbs entstanden und nun in einem eigenen YouTube-Channel verfügbar sind. Neben dem Webauftritt sind auch die Plakate (siehe rechts) äußerst professionell und kreativ gestaltet.
- Um mit dem Wahlwerbespot auch Nicht-Internetnutzer zu erreichen, läuft unter www.ichbinpirat.de eine sehr professionelle Fundraising-Kampagne. Per Fortschrittsbalken lässt sich dort der aktuelle Spendenstand verfolgen – derzeit steht der Balken bei beachtlichen 50.000 Euro aus Klein(st)spenden. Eine derartige Art der Wahlkampffinanzierung ist im deutschsprachigen Raum meines Wissens nach völlig neu und erinnert stark an US-Verhältnisse.
- Mit mittlerweile über 7.000 Mitgliedern sind die Piraten nach eigenen Angaben („100 neue Mitglieder pro Tag„) Deutschlands mitgliederstärkste Partei, die nicht mit einer Fraktion im Bundestag vertreten ist und haben damit erfreulicherweise die NPD von dieser Position verdrängt. In StudiVZ sind die Piraten überhaupt die mit Abstand mitgliederstärkste Parteigruppe mit über 50.000 UnterstützerInnen.
- Die mediale Aufmerksamkeit bewegt sich dementsprechend auch auf einem konstant hohen Niveau, Spiegel Online widmet den Piraten beispielsweise eine eigene Themenseite.
Was lassen sich daraus für die Sozialdemokratie im Allgemeinen und die SPÖ im speziellen für Schlüsse ziehen? Erstens gilt es, den Anliegen der Piratenpartei nicht länger mit völliger Ignoranz zu begegnen (vgl. einen etwas älteren Aufsatz in der SPW zu diesem parteiübergreifenden Problem). Zweitens darf die Sozialdemokratie – falls es nicht ohnedies bereits zu spät dafür ist – nicht den Fehler wiederholen, der letztlich zur Entstehung der Grünen geführt hat, nämlich berechtigten Anliegen und Problemen pauschal eine Absage zu erteilen. Wie weit die SPÖ davon entfernt ist, zeigte jüngst das (unerklärte) Abstimmungsverhalten der SPÖ-Europaparlamentarier zur Verlängerung urheberrechtlicher Schutzfristen (vgl. „Offener Brief an EU-Abgeordnete Christa Prets“). Denn, drittens, die allermeisten Anliegen der Piratenpartei sind mit den Grundwerten der Sozialdemokratie nicht nur vereinbar, sie folgen aus ihnen. Wie kompatibel sozialdemokratische und „Piraten“-Politik sind, zeigt dabei das Beispiel der jüngst in Münster erfolgreichen Piratenpartei: in deren Wahlprogramm findet sich als erster Punkt die Idee eines „Wissensraums Münster“, der nicht nur dem Namen nach dem Projekt des „Wissenraums Linz“ nachempfunden ist. Letzteres ist aber kein Piratenprojekt, sondern im Umfeld der Linzer Sozialdemokratie entstanden (vgl. auch „Linzer Ideen von Piraten aus Münster gekapert. Gut so.“)
Es stimmt, dass die Piraten teilweise leiwande politische Konzepte zu ihren Kernthemen haben. Diese lassen sich, wie im Artikel ja gesagt, auch aus sozialdemokratischen Grundwerten ableiten.
Von anderen Themen haben die Piraten aber größtenteils 0 Plan (und auch scheinbar kein Interesse). In ihren inhaltlichen Diskussionsforen (wohl zur Entwicklung eines Parteiporgrammes gedacht) haben sich daher auch eine ganze Reihe von Sekten eingenistet (was auch die MItgliederzahlen pusht?):
Zu Wirtschaftspolitik diskutieren, neben mir sympathischen Bauchlinken, die gerne ein bedingsloses Grundeinkommen einführen würden, primär anarchokapitalistische Libertäre (Zentralbanken abschaffen!) mit schrägen Freigeldtheoretikern. Kontrovers wird es aber kaum, da jede Gruppe einfach ihre „eigenen“ Threads aufmacht.
Alles zu Geschlecht/Frauenpolitik wird (diskurstechnisch) von den „Maskulisten“ (ganz schräge sexistische freaks) dominiert, dem Großteil der piraten ist das aber wurscht; die inexistenz einer eigenen position begründet dann (sehr oft, auch bei vernünftigeren diskutantInnen) auch die unwichtigkeit des themas, womit die partei hier rechts von der CSU landet.
Auch bei Kernthemen mangelts: Krude Grundgesetz-Fehlinterpretationen, sinnverdrehte, falsch verstandene Gedanken aus Orwells „1984“… (auch von Piratenpartei-Mitgliedern)
Insgesamt: Ein paar gute Positionen und eine wirklich vorbildliche und sympathische Kampagne. Eine tiefgehendere Recherche führt aber zu systematischen Enttäuschungen; und das regelmäßig.
Spannender Beitrag zum Thema, gerade wenn es um die PiratEn und eine linke Perspektive geht: http://antjeschrupp.com/2009/09/03/kann-eine-feministin-piraten-wahlen/
Das war mir schon klar – und ich finde das auch wunderbar so. Der Beitrag kritisiert ja nicht die Piratenpartei, sondern vielmehr den Mainstream der sozialdemokratischen Parteien, der die Wissensallmende immer noch einzäunen statt gießen möchte.. 😉
Der Wissensraum wurde bewusst kopiert und auf die Linzer Initiative wurde verwiesen. Als ich das Buch „Freie Netze. Freies Wissen“ gelesen habe, habe ich gedacht es „hat wohl ein Pirat“ geschrieben. Letztlich ist auch egal von wem es kommt, es geht um die Sache und nicht um die Partei! Patente auf Ideen (neben Gene, Lebewesen und Software) sind sowieso der größte Schwachsinn. Auf in die Wissensallmende…