Nikolaus Kowall*
Inhalt
Rechtspopulismus als Reaktion auf Marktliberalismus
Bis kürzlich haben wir fast alle politischen Auseinandersetzungen verloren. Meine Generation von linken Ökonom:innen stieg am Tiefpunkt in die Diskussion ein, nämlich während der „Reform“-Hysterie um die Jahrtausendwende. Finanzmärkte wurden in Großbritannien und Deutschland unter sozialdemokratischen Regierungschefs liberalisiert. Es kam zu Steuersenkungen für Reiche und Unternehmen, zu Rentenprivatisierungen und zu jenen Hartz-Reformen, die sich ins kollektive Gedächtnis einbrannten. Viele haben von links gewarnt, dass die Polarisierung der Einkommensverteilung und der Lebenschancen dem Rechtspopulismus Vorschub leisten würde. Doch Verteilungsfragen galten vor der Finanzkrise als ultra-retro und waren nicht einmal Bestandteil offizieller sozialdemokratischer Programmatik. Dafür erreichte der Rechtspopulismus in Frankreich, Italien oder Österreich den Status von Massenparteien, die entweder an der Regierung teilhatten, oder in Stichwahlen um höchste Staatsämter kamen. Dass in Deutschland die Linkspartei einen erheblichen Teil des Frusts abfangen konnte, ist eine unterschätzte Leistung.
Die größte Niederlage war die Eurokrise. Wer es unklug fand, in die Krise hinein zu sparen, wurde während dieser Diskussion als linksradikal verunglimpft. Konservative haben ausschließlich moralisch argumentiert (Schuldensünder etc.) und uns, die ökonomisch dachten, wirtschaftspolitische Ahnungslosigkeit vorgeworfen. Schäubles Diktum vom „Rendez-vous mit der Realität“ war der Gipfel dieser Zumutungen. Ein Finanzminister, mit ausgesprochen schlichtem ökonomischen Verständnis, erklärte der griechischen Regierung, dass deren vernünftige Vorschläge illusorisch seien. Oder anders gesagt: der Politiker, der die Macht hat darüber zu entscheiden, was passiert oder nicht, beschreibt das Abprallen der Forderungen an seiner eigenen Person als objektive Einsicht in die Notwendigkeit. Das war der Höhepunkt deutscher Überheblichkeit. Und alles nur Wochen, bevor Angela Merkel die europäischen Partner in der Flüchtlingskrise dringend gebraucht hätte. Die reagierten dann kühl. Es war Deutschland, das in der Griechenlandkrise viel von jener europäischen Solidarität unterminierte, die wir in drei aufeinanderfolgenden Krisen so dringend gebraucht hätten: Der Flüchtlingsbewegung, der Corona-Pandemie und nun der Energiekrise. Es ist kein Zufall, dass die spanische Energieministerin den ersten Vorschlag des EU-Gas-Notfallplans, von dem Deutschland stark profitieren würde, mit dem Hinweis ablehnte „man habe im Gegensatz zu anderen nicht über seine Verhältnisse gelebt.“ Eine Retourkutsche für die deutsche Rhetorik während der Eurokrise.
Wir haben im Jahr 2016 das Freihandelsabkommen CETA zwischen der EU und Kanada abgelehnt. Das wichtigste sachliche Gegenargument war ökologischer Natur, weil es nicht noch mehr Schweinebäuche braucht, die in schwerölbetriebenen Containerschiffen über den Atlantik geschippert werden. Das wichtigste politische Argument aber war, dass die Leute die Schnauze längst voll hatten von der Globalisierung der Märkte. Ein Investorenschutz, der geeignet ist demokratische Entscheidungen auszuhebeln, zahlte auf diese Skepsis ein. CETA wurde durchgeboxt, im gleichen Jahr erfolgten mit dem Brexit und der Wahl Donald Trumps zwei erhebliche Schritte der Deglobalisierung. Ein Jahr später kamen die Rechtspopulisten in Österreich, noch ein Jahr später in Italien in die Regierung. Die „liberale Mitte“ aber radikalisierte sich in diesem Zeitraum und verunglimpfte alles als populistisch, was nach damaligen Maßstäben nicht exakt “pro-europäisch” war (Chiffre für Austerität + Freihandel + Homosexuellenrechte). In diesen Jahren haben sich viele Linke von der EU, ja sogar von der liberalen Demokratie an sich, abgewandt.
Pfeif auf den Westen!
Mit dem Überfall Russlands auf die Ukraine stehen viele Linke nun ratlos da. Sie sehen das Unrecht, aber sie erwarten nichts mehr von ihrer eigenen Gesellschaft. Wenn sich die Ukraine auf westliche Werte oder europäische Gemeinschaft beruft, dann wissen sie nicht, was gemeint sein soll. Wenn die Kreml-Propaganda die „demokratische Welt“ als verlottert darstellt, dann scheint das vielen nicht unplausibel. Sprengt die Vermögenskonzentration nicht längst alle demokratisch zumutbaren Dimensionen? Liegt die Macht der konventionellen Medien und der sozialen Plattformen nicht in den Händen einer winzigen Vermögenselite? Haben wir nicht selbst eine kranke Oligarchie von Milliardären, die, wie der Deutsch-Amerikaner Peter Thiel, die Demokratie durch Überwachung ablösen wollen? Und arbeitet nicht der ehemalige österreichische Bundeskanzler Sebastian Kurz, der vor wenigen Jahren noch von der deutschen Presse hofiert wurde, nun genau für diesen Peter Thiel?
Hinzu kommt eine republikanische Partei in den USA, die die Lüge kaum weniger unverfroren zu ihrem Vorteil einsetzt als der Kreml und alles daran setzt, Minderheiten und arme Menschen von Wahlen auszuschließen. Abtreibungsverbot, Waffenlobby, Verschwörungstheorien und Geschichtsfälschung rund um den Trump-Putsch: Es ist nicht sicher, ob die USA 2030 überhaupt noch zum Klub der Demokratien gehören. Also, könnte man meinen, was solls? Gebt Putin doch die halbe Ukraine, dann sterben weniger Menschen und ob die 20 Millionen betroffenen Menschen nun russischen oder ukrainisch-westlichen Oligarchen unterworfen sind, ist doch letztlich egal. Und haben die Amerikaner nicht auch einfach angegriffen, wen sie wollten? Pfeif auf den Westen!
Kapitalismus mit und ohne Demokratie
Die Krux ist nur: „Pfeif auf den Westen“ bedeutet auch „Pfeif auf die liberale Demokratie“, weil es die außerhalb des „Westens“ nur rudimentär gibt. Wir wissen aber aus historischer Erfahrung, dass aus Frust, Zynismus und Ohnmacht an der Demokratie zu zündeln keine gute Idee ist. Die antikapitalistische Linke, die vor 100 Jahren – anders als heute – eine bedeutsame politische Kraft war, hat sich in der Zwischenkriegszeit episch verpokert. Der gewünschte Zusammenbruch der liberalen Ordnung kam, nur war das Resultat nicht die sozialistische Revolution, sondern der Höllenschlund der europäischen Geschichte. Die Kommunisten waren mitunter die ersten, die vom NS-Regime systematisch verfolgt wurden. Die klammheimliche Freude vieler (antikapitalistischer) Linker an der globalen Erosion der liberalen Demokratie ist die Wiederholung eines historischen Fehlers. In den 1920er-Jahren gab es zumindest antikapitalistische Massenparteien, die Utopie des Kommunismus hatte sich noch nicht diskreditiert und die Existenz Sowjet-Russlands war eine politische Realität. Heute, 100 Jahre später, gibt es den Antikapitalismus weder als politische Kraft noch als intellektuelles Angebot. Eine „realsozialistische“ Alternative gibt es auch schon lange nicht mehr. Also, was soll folgen? Was passiert, wenn der Westen kollabiert? Die Alternative zur liberalen Demokratie sind Trump, Orbán, Le Pen oder noch Schlimmeres.
Heißt das im Umkehrschluss der „liberalen Mitte“ weiterhin den Lead zu überlassen, sich in eine große Koalition aller Demokrat:innen zur Bekämpfung des Rechtspopulismus einzureihen und eigene Standpunkte bestmöglich abzuschleifen? Keineswegs! Diese Form des „liberalen Antifaschismus“ hat die rechte Flut innerhalb der westlichen Staaten oftmals eher befördert denn aufgehalten. Vielmehr müssen innerhalb des Westens ideologische Konturen sichtbar gemacht werden – es braucht mit Habermas eine demokratische Polarisierung, um die gesellschaftlichen Konflikte offen auszutragen. Deshalb ist es nach innen strategisch kontraproduktiv, ja sogar demokratiegefährdend, wenn die Linke sich mit dem Marktliberalismus gemein macht. Wenn der Rechtspopulismus die einzig verbleibende Opposition ist, dann werden sich alle Unzufriedenen dort sammeln. Eine klare weltanschauliche Unterscheidbarkeit der demokratischen Linken vom Marktliberalismus ist hingegen ein Gewinn für die gesamte Demokratie.
Außenpolitisch sieht die Sachlage jedoch gänzlich anders aus. Und dieses Differenzierungsvermögen ist nun der springende Punkt. Jegliche nachhaltige Ausweitung der demokratischen Sphäre auf der Welt ist ein zivilisatorischer Fortschritt. Das gilt nach dem Ende des Realsozialismus umso mehr, weil es außer Kapitalismus auf der Welt nichts mehr gibt. Es gibt nur noch Kapitalismus mit oder ohne Demokratie. Das Modell mit Demokratie ist jenes, das wenigstens ausreichend Raum für den intersektionalen Kampf schafft – vom Recht auf Abtreibung über Antidiskriminierungsgesetze bis zum Recht auf gewerkschaftliche Organisation. Es stimmt, dass die Auseinandersetzung zwischen Demokratie und Kapital über lange Zeit für beendet erklärt wurde und die demokratische Linke eher versuchte gesellschaftspolitisch zu punkten. Aber in den letzten Jahren erhöhte sich die Aufmerksamkeit für soziale Fragen wieder – denken wir an die Einführung des Mindestlohns in Deutschland 2017 und dessen kräftige Erhöhung in diesem Jahr.
Und viele Verbesserungen kommen überhaupt als unscheinbar wirkende Detailfragen daher. Ein Beispiel: In Österreich ist es 2018 gelungen, die Anrechnung des Partnereinkommens bei der Notstandshilfe (entspricht der ehemaligen deutschen Arbeitslosenhilfe) abzuschaffen. Das ist für viele ärmere Frauen ein gewaltiger Schritt und ein intersektionaler politischer Erfolg: Alle Betroffene sind arm, die meisten weiblich, viele migrantisch. Wo, außerhalb liberaler Demokratien, können wir derlei elaborierte sozialstaatliche Fragen überhaupt verhandeln? Und das ist nicht nur eine Frage des Reichtums. Es gibt Golfmonarchien mit höherem Pro-Kopf-Einkommen, aber mit Sicherheit ohne Diskussion über die Anrechnung des Partnereinkommens bei der Notstandshilfe. Ohne Demokratie gibt es nicht nur keine Pressefreiheit, ohne sie gibt es auch keine Aushandlung der „sozialen Frage“. Es war die Kraft der Demokratie, die den Kapitalismus während des 20. Jh. in vielen Staaten gezähmt, ja zivilisiert hat. Es gibt außer der demokratischen Kraft kein probates Mittel, um sozialen Fortschritt zu erwirken.
Fatalismus hingegen ist zwar verlockend aber fatal. Er ist das Resultat von Frustration, ist aber pure Resignation. Die Wahrheit für die Linke ist im Jahr 2022 nämlich so einfach wie ernüchternd: Wir haben nichts als die liberale Demokratie. Wieso? Schlicht deshalb, weil sie das geringste Übel ist. Das geringste Übel birgt deutlich größere Chancen auf zivilisatorischen Fortschritt als das weniger geringe Übel. In der liberalen Demokratie gibt es am meisten Potential für soziale, ökologische, gesellschaftliche und demokratische Fortschrittsexperimente. Diese Erkenntnis muss der Ausgangspunkt für jegliche linke Realpolitik im 21. Jh. sein.
Der Wesenskern des Westens
Viele erachten die kapitalistische Wirtschaftsordnung als ideologischen Wesenskern des Westens. Das ist in angesichts einiger Jahrzehnte marktliberaler Globalisierung nicht von der Hand zu weisen. In Wahrheit aber ist der Westen seit seinem „Sieg“ von 1990 längst nicht mehr der exklusive Vollstrecker kapitalistischer Weltwirtschaftsordnung. Die Ausbreitung kapitalistischer Logik hat sich seither verselbstständigt. China und die Türkei sind Beispiele dafür, dass es größere und kleinere kapitalistische Zentren gibt, die außerhalb des traditionellen geographischen Westens gedeihen konnten.
Viele Beobachter:innen überschätzen die politische und ökonomische Dominanz des Westens erheblich. Gemessen in Kaufkraftparitäten wuchs das Pro-Kopf-Einkommen der drei größten Volkswirtschaften des Jahres 1990 bis zum Jahr 2019 um 28% in Japan, um 47% in Deutschland und um 55% in den USA . Das Pro-Kopf-Einkommen der Welt wuchs aber um 75% (Weltbank). Das heißt, die Pro-Kopf-Einkommen im Rest der Welt sind deutlich stärker gewachsen als in den alten Zentren. Tatsächlich herrscht in der einschlägigen Literatur Konsens, dass wir es in diesem Zeitraum mit einer substantiellen Angleichung der Einkommen zu tun hatten.
Berücksichtigen wir neben dem hohen Einkommenswachstum noch das Bevölkerungswachstum, dann erkennen wir eine erhebliche Verschiebung der globalen politökonomischen Gewichte. Die westlichen Industrieländer, inklusive Japan und der asiatischen „Tiger“ trugen im Jahr 2000 noch 57% zur globalen Wertschöpfung bei. Heute sind es unter 40%. Chinas Anteil am Welt-BIP hat sich im gleichen Zeitraum auf knapp 20 Prozent verdoppelt. Der Bedeutungsverlust des Westens ist spätestens seit der Jahrtausendwende in vollem Gange. Eine Sicht auf die Welt, die den Westen als uneingeschränktes ökonomisches Zentrum erachtet und die USA als einzige globale Supermacht, ist aus der Zeit gefallen. Die unilaterale Welt der 1990er-Jahre ist Geschichte.
Weil der Kapitalismus heute universell ist, ist er dem Westen als ideologischer Wesenskern abhandengekommen. Anders wäre es auch nicht erklärbar, wieso es gerade in den USA starke Kräfte gibt, die marktradikal und antidemokratisch gleichzeitig sind. Eine Melange, die während des Kalten Krieges noch ein Sekten-Dasein fristete. Also wieso steht ein erheblicher Teil der republikanischen Partei mit der liberalen Demokratie heute genauso auf Kriegsfuß, wie der gesamte europäische Rechtspopulismus? Weil der ideologische Kern der liberalen Demokratie nicht mehr der Kapitalismus, sondern die Regenbogenfahne ist. Was die liberale Demokratie vom Autoritarismus unterscheidet, sind hohe demokratische Standards gekoppelt mit einer verhältnismäßig enormen Liberalität.
Es ist auch hier wichtig, die Betrachtung von außen und innen zu unterscheiden. Die Linke bewertet ihren Kampf für Feminismus, Postkolonialismus oder Antirassismus aus der Empörung über ihre unmittelbare Gegenwart. Diese Empörung ist voll und ganz angebracht. Integriert man jedoch Zeit (Geschichte) und Raum (Geographie) in die Betrachtungsmatrix, dann lässt sich der politische Fortschritt vergleichend einordnen. Historisch etwa zum Frauenbild im Jahr 1980, geografisch zur Rolle des Antirassismus im kapitalistischen Megazentrum China. Unter Berücksichtigung dieser beiden Dimensionen sind die liberalen Demokratien verhältnismäßig ultra-progressiv, selbst wenn sie jenen, die den intersektionalen Kampf hier kämpfen, oftmals träge und konservativ vorkommen. Sind Trump, Le Pen und die AFD in Wirklichkeit nicht Reaktionen auf unsere sagenhaften Erfolge? Sind sie nicht „reaktionär“ im klassischen Bedeutungssinn?
Raum oder Ideologie?
Der Westen ist als Raum gedacht also eines von mehreren Zentren in einer politisch und ökonomisch zunehmend multipolaren Welt. Dennoch lässt sich der Westen geografisch schwer fassen und fluktuiert sogar je nach politischer Lage. Die USA, das Kernland des Westens schlechthin, hatte zwischen 2016 und 2020 eine antidemokratische Regierung. Das ist die aktuell größte Schwäche des geografischen Westens: Sein mit Abstand wichtigstes Mitglied ist gleichzeitig das unverlässlichste Glied in der Kette. Weil es in jedem westlichen Land antidemokratische politische Kräfte gibt und gleichzeitig starke demokratische Kräfte in vielen autoritären Ländern existieren, stimmen Raum und Ideologie zunehmend weniger überein. Die liberale Demokratie, nicht als Staatsform sondern als progressive Ideologie gedacht, ist letztlich überall dort vorzufinden, wo es Homosexuellen-Paraden gibt, wo Umweltproteste stattfinden, wo ethnische Minderheiten für ihre Rechte eintreten, wo für das Selbstbestimmungsrecht von Frauen gekämpft wird und wo für Demokratie und Rechtsstaat demonstriert wird. Das kann in Stockholm oder Ottawa der Fall sein, aber auch in Istanbul, Seoul, Budapest oder Rio de Janeiro. Fortschritt ist dort, wo die Regenbogenfahne flattert. Und das tut sie weder in Moskau noch in Peking.
Den Westen bekämpft Putin aus konventionellen imperialistischen Motiven, aber der Eifer der Auseinandersetzung stammt – wie ein Blick in russische Staatsmedien zeigt – aus der Bekämpfung der progressiven Ideologie, für die der Westen in Putins Vorstellung steht. Er bekämpft den Fortschritt mit Hilfe des großrussischen Ethnonationalismus, mit Hilfe der orthodoxen Kirche, mit Hilfe des fossilen Kapitals, mit Hilfe des gigantischen Sicherheitsapparats, mit Hilfe außenpolitischer Paranoia und militärischer Aggression. Genau gegengleich dazu verläuft der Kampf der grünen Regierungsmitglieder der deutschen Bundesregierung Annalena Baerbock (Außen) und Robert Habeck (Wirtschaft). Sie kämpfen innenpolitisch für eine sozialökologische Transformation sowie den Durchmarsch der Ultra-Liberalität von den urbanen Zentren in die Fläche. Außenpolitisch für jene Spielanordnung, die die innenpolitischen Kämpfe erst ermöglicht: die liberale Demokratie. Primär verteidigen sie nicht den ukrainischen Staat, sondern die liberale Demokratie als progressive Ideologie. Diesen Kampf stellen sie über ihre pazifistische Tradition.
Weil die liberale Demokratie immer mehr zu einem progressiven Instrument wurde, betrachten Baerbock und Habeck sie als „ihre“ liberale Demokratie. Die Grünen verteidigen quasi „ihr“ Deutschland. Das macht beide zu den Gesichtern der aktuellen deutschen republikanischen Identität (was sich in den Umfragen entsprechend auswirkt). Aus den Spontis sind Patriot:innen geworden. Ihr Patriotismus speist sich nicht aus historischen Deutungen oder kulturellen Sentimentalitäten. Nein, sie sind, gar nicht unähnlich wie Putin, der Überzeugung, dass ihr Staat Teil eines ideologischen Projekts ist. Sie erachten Deutschland in der EU und die EU in der Welt als Vorkämpferinnen des Fortschritts. Diese Weltsicht teilen auch die sozialdemokratischen Premierministerinnen von Schweden und Finnland, die mit ihren Ländern nicht nur aus sicherheitspolitischen Motiven der NATO beitreten. Sie sind neben der EU-Kommissionspräsidentein, der estnischen Ministerpräsidentin und der deutschen Außenministerin die wichtigsten weiblichen Gesichter der europäischen Außenpolitik. Die starke Präsenz von Frauen in der Auseinandersetzung mit Putin ist wohl kein Zufall. Der Feminismus als Zersetzer herkömmlicher toxisch-männlicher Rollenbilder ist zunehmend fester ideologischer Bestandteil der liberalen Demokratie. Putin stellt Europa deshalb als verweichlicht und verweiblicht dar, weil der Feminismus politisch nirgends so stark ist wie in der EU.
Systemkonkurrenz
„Mein Gott, wie ich den Kalten Krieg vermisse,“ brach es aus dem Teilnehmer einer Podiumsdiskussion in Los Angeles zum Entsetzen des anwesenden Publikums heraus. So berichtete es Jon Wiener in der Le Monde diplomatique anno 2013. Dann erzählte der Diskutant gemäß Wiener „wie seine Großmutter von Oklahoma nach Kalifornien gekommen war: Sie hatte nur die Grundschule besucht, aber sie fand während des Zweiten Weltkriegs einen Job in einer Flugzeugfabrik, trat der Gewerkschaft bei, war krankenversichert, erwarb Rentenansprüche und brachte es in den Jahren des Kalten Kriegs auf ein anständiges Gehalt. Am Ende besaß sie ein Haus in einem Vorort von Los Angeles und konnte ihre Kinder auf die Universität schicken.“
Da die Welt nach Jahrzehnten der Globalisierung erneut auf eine Blockkonfrontation zusteuert, stellt sich die Frage welchen realen Gehalt diese nostalgische Anekdote in sich trägt. Schon seit Mitte des 19. Jahrhunderts stehen Globalisierung und Geopolitik in einem Wechselspiel zueinander. Die Globalisierung reißt Grenzen ein, vermindert ideologische, religiöse sowie nationale Bindungen und sorgt für die Verbreitung von Gütern, Technologien und Ideen auf der ganzen Welt. Aber obwohl Globalisierung ein politischer Akt ist (Freihandelsabkommen, Kapitalverkehrsliberalisierung etc.) mindert sie die Bedeutung von Politik. Die Entwicklung des Weltgeschehens wird dem Markt übertragen. Das reduziert auch die Bedeutung des Militärs, dem ultimativen Mittel der Politik. Der Kaufmann ist der Held der Globalisierung, nicht der Staatsmann und auch nicht der General. Während einer Phase intensiver Globalisierung wird die nächste geopolitische Konfrontation womöglich schon ausgebrütet. Die Phase selbst ist aber geprägt von Frieden und Stabilität. In einem Setting, in dem Politik wenig Rolle spielt, sind Kapitalinteressen ungebremst und verfügen über eine globale Spielwiese. Die in nationalstaatlichen Schrebergärten organisierten Demokratien müssen sich „marktkonform“ anpassen, wie Angela Merkel es so schön ausdrückte.
Wenn statt Globalisierung Geopolitik dominiert sieht es ganz anders aus: Die Welt ist dann kein Dorf, sondern eine Ansammlung von Festungen. Es kommt zu Blockbildung, Wettrüsten und Systemkonkurrenz. In diesem Setting ist der globale Verkehr von Gütern, Finanzströmen und Arbeitskraft zwischen den Blöcken politisch stark eingeschränkt. Das erfordert Zölle, Importbeschränkungen, Kapitalverkehrskontrollen, Sanktionen und befestigte Grenzen, was den Staat zu einem wichtigen Player macht. Gleichzeitig verändert sich das Verhältnis zwischen Kapital & Arbeit. Die politischen Hindernisse verringern den Bewegungsspielraum der Kapitalseite. Eine drastische Grenze wie ein Eiserner Vorhang behindert die Mobilität von Waren und Arbeitskräften. Der Zugriff (westlicher) Unternehmen auf die relativ günstige Arbeitskraft im Ausland wird eingeschränkt, wie sich derzeit am Krieg zeigt. Das bedeutet volkswirtschaftlich gesehen, Arbeit wird knapp und das führt zu einer Machtverschiebung von Arbeitgeber:innen zu Arbeitnehmer:innen.
Wenn die Arbeitsseite gegenüber der Kapitalseite Oberwasser bekommt und politische Handlungsspielräume durch eine Politisierung des Weltgeschehens gleichzeitig zunehmen, dann entfaltet die Demokratie eine ungleich höhere Wirkmächtigkeit. Es ist kein Zufall, dass der europäische Wohlfahrtsstaat während des Kalten Krieges, also genau unter solchen politischen Bedingungen aufgebaut wurde. Es ist wohl auch kein Zufall, dass Demokratie, Menschenrechte und Rechtsstaat in dieser Epoche Kernbestandteile westlicher Staatswesen wurden. Systemkonkurrenz ist ein politischer Wettbewerb, in dem die Ökonomie eher Mittel zum Zweck ist. Die Blöcke müssen „wettbewerbsfähig“ sein in Bereichen wie Menschenrechten, Wohlstand und Lebensqualität. Diese Indikatoren unterscheiden sich doch erheblich von Lohnstückkosten, Neuverschuldungsquoten und Exportüberschüssen der letzten Jahrzehnte.
Der Harvard-Ökonom Dani Rodrik verwies mit seinem berühmten Trilemma darauf, dass Globalisierung, Demokratie und nationale Souveränität nicht gleichzeitig auftreten. Man könne immer nur zwei von dreien haben. Nahe verwandt damit ist folgendes Dilemma: Globale Offenheit und friedliche internationale Verhältnisse einerseits, sowieso sozialen Fortschritt und Demokratisierung andererseits, bekommt man womöglich schwer gleichzeitig. Eine gewisse ökonomische Abschottung schränkt die Bewegungsfreiheit der Kapitalseite ein und vermindert das ultimative Argument des Standortwettbewerbs. Das befördert die politische Gestaltbarkeit der einzelnen Volkswirtschaft und ermöglicht damit das Primat der Demokratie über Kapitalinteressen. Sozialer und gesellschaftlicher Fortschritt gedeiht unter den Bedingungen geopolitischer Systemkonkurrenz wohl besser. Es sind die beiden Seiten ein und derselben Medaille: Man kann den starken Staat womöglich nicht ohne den General haben.
Um den glimpflichen Ausgang des Kalten Krieges wissend war es natürlich leicht, im Jahr 2013 im Rahmen einer Podiumsdiskussion in Los Angeles auf die gute alte Zeit zurückzuschauen. Jetzt, wo es wieder nach Systemkonkurrenz, Blockkonfrontation, Aufrüstung und Kaltem Krieg riecht, stellt sich die Sache anders dar. Die kürzliche globale Einigung auf eine Mindest-Unternehmenssteuer wäre erfreulicher, wenn sie nicht durch eine – wenngleich minimale – Gefahr eines Atomkriegs übertüncht wäre. Was eine latente existentielle Bedrohung wirklich bedeutet, wird für die nach 1980 geborenen Kohorten erst seit dem 24. Februar 2022 wirklich greifbar.
Der Kampf ist geopolitisch und international gleichzeitig
Der Westen schlittert derzeit in einen Kalten Krieg. Womöglich mit Russland, falls das Putin-Regime nicht zwischendurch kollabiert, wahrscheinlich mit China. Diese geopolitische Konstellation ist gruselig genug, nur ist der Gegner im Inneren mindestens so bedrohlich wie der Gegner im Äußeren. Die US-amerikanische Demokratie steht buchstäblich auf der Kippe. Die Situation in der EU scheint stabiler, wenngleich der Rechtspopulismus auch hier eine erhebliche politische Kraft darstellt. Die politische Auseinandersetzung hat also eine externe (geopolitische), sowie eine interne (internationale) Dimension. Die interne Dimension rührt daher, dass der Kampf zwischen Demokratie und Autoritarismus international, also innerhalb aller Gesellschaften stattfindet. Es gibt ein internationales demokratisches und ein internationales autoritäres Lager. Damit werden russische Oppositionelle zu politischen Verbündeten und Trumpisten in den USA zu politischen Gegner:innen. Diese internen Auseinandersetzungen geschehen parallel zur geopolitischen Blockbildung. Die wirkliche Gefahr für die liberale Demokratie besteht darin, zwischen inneren Kulturkämpfen und geopolitischen Konflikten aufgerieben zu werden. Jeder Sieg für den Autoritarismus im Inneren stärkt Moskau und Peking und jeder Sieg Moskaus und Pekings stärkt den Autoritarismus im Inneren.
Europa wird in den russischen Staatsmedien als dekadent (gemeint ist tolerant) dargestellt, als Ort wo durch Feminismus und „Homopropaganda“ die Kleinfamilie zerstört werde. Europa sei „verweichlicht” (sprich unmännlich), vegan und komplett „überfremdet”. Dichter Viktor Jerofejew persifliert es so aus: Europa sei zu weibisch, zu schwul, zu multikulturell. Russland hingegen sei wirklich europäisch (sprich slawisch-weiß), stehe auf einer soliden Wertebasis (Erz-Konservatismus), sei straff geführt, männlich entschlossen und stets handlungsfähig. Putin ist im Prinzip der Stichwortgeber für die weltanschauliche Auseinandersetzung zwischen Demokratie und Autoritarismus. In diesem Sinne wird Putin jede geopolitische Schwäche der EU als Beleg für die ideologische Unterlegenheit der liberalen Demokratie ausschlachten. Das globale Lager der Demokrat:innen verliert, wenn die EU als stärkste Bastion dieses Lagers geschwächt wird. Es ist kontraproduktiv, wenn die demokratische Linke die geopolitische Dimension dieses Kampfes ignoriert oder verweigert.
Die demokratische Linke muss sich sowohl in der internationalen, als auch in der geopolitischen Auseinandersetzung an der Seite der liberalen Demokratie einreihen. Es geht dabei um keinen imperialistischen Wettstreit zwischen der EU und Russland oder zwischen den USA und China, wer den besseren geopolitischen Platz an der Sonne ergattert. Es geht um den Kampf für Demokratie in der EU, in den USA, in Russland und in China. Aber natürlich auch in der Türkei, in Ägypten, im Iran und in Myanmar. Dieser Kampf, und das ist die intellektuelle Ambivalenz, ist international und geopolitisch gleichzeitig. Er geschieht innerhalb von Gesellschaften, braucht aber auch den Rückhalt von Staaten, die gefestigte liberale Demokratien sind.
Es verlangt aber niemand von der demokratischen Linken, die geopolitische Dimension der Auseinandersetzung ins Zentrum ihres Handelns zu rücken. Der internationale Kampf für die Demokratie innerhalb jeder Gesellschaft bedarf mindestens der gleichen Beachtung und dieser Kampf ist die historische Stärke der demokratischen Linken. Sie weiß, dass Demokratie sich nicht auf Gewaltenteilung und Pressefreiheit beschränkt, sondern ebenso die Durchsetzung demokratischer Handlungsfähigkeit gegenüber konzentriertem Vermögen und Konzern-Lobbymacht umfasst.
Dies führt zur wichtigsten Erkenntnis für die geopolitische Systemkonkurrenz: Wie in jedem Wettbewerb ist das nachhaltigste Mittel nicht das Zeigen auf andere, sondern die eigene Leistung. Wenn die liberale Demokratie das bessere System sein will, dann muss sie das glaubwürdig repräsentieren. Damit ergeben sich für die demokratische Linke sowohl ungeahnte Spielräume, als auch eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Im Prinzip ist es eine ähnliche Aufgabe wie im letzten Kalten Krieg: Die Systemkonkurrenz nützen, um den Kapitalismus zu zivilisieren und damit die Demokratie zu retten. Indem die Linke demokratische Kräfte freisetzt rüstet der Westen moralisch auf – ein Kollateralnutzen sozusagen.
Moralisches Aufrüsten
Der Westen ist ein geographischer Raum, der aus historischen Gründen von einer hierarchischen Weltordnung mit ungleichen globalen Handelsbeziehungen profitiert. Die Rechnung dafür ist u. A. die Teilnahmslosigkeit, mit der Indien, Lateinamerika und andere auf den russischen Krieg in der Ukraine blicken. Obwohl die Ukraine gerade selbst Opfer einer historischen Kolonialmacht wird, verweigern die ehemaligen Kolonialreiche westlicher Länder die Solidarität mit der vom Westen unterstützten Ukraine. Darum sollte der Westen, wenn die liberale Demokratie ideologisch überleben soll, den Widerspruch zwischen progressiver Avantgarde (Ultra-Liberalität) und imperialistischen Wirtschaftsbeziehungen sukzessive auflösen.
Zuallererst müssen die Handelsbeziehungen politisiert werden. Freihandel muss durch zivilisierten Handel ersetzt werden. Freihandelsabkommen müssen künftig so gestaltet werden, dass soziale und ökologische Aspekte Berücksichtigung finden. Dafür sind beispielsweise Lieferketten-Gesetze geeignete Instrumente. Es wäre daher spätestens jetzt an der Zeit, dass die Demokratien solche Maßnahmen auch gegen die unsägliche Lobbyaktivität gewisser Wirtschaftskreise durchsetzen.
China wird den Westen fordern, als Gesellschaftsmodell wettbewerbsfähig zu sein. Seit 40 Jahren prosperiert der Kapitalismus dort ohne Demokratie aber dafür mit erheblichem staatlichem Einfluss. Das Schienennetz für Hochgeschwindigkeitszüge ist in China viermal so groß wie in der EU. Ein Drittel der globalen Stromerzeugung aus Solarenergie stammt aus China, das Land produziert mehr Windkraftanlagen als die EU und die USA zusammen. Die Ungleichheit in der Einkommensverteilung ist seit 2010 rückläufig und bewegt sich von US- Richtung EU-Niveau. Die chinesische Führung und die Staatsmedien suchen gleichzeitig verbal den Wettbewerb mit dem Westen. Das ist nicht nur bedrohlich, sondern auch eine Chance für Veränderung bei uns.
Das wichtigste sozioökonomische Projekt unserer Zeit ist zweifellos die Ökologisierung der Wirtschaft. Diese Transformation wird im Westen nur erfolgreich sein, wenn sich etliche Gewohnheiten ändern. Das wird unter zwei Bedingungen demokratieverträglich umgesetzt werden können. Erstens, wenn nicht die Armen sondern die Reichen die ersten sind, die ihren Verbrauch verändern müssen. Zweitens muss der Prozess anderswo mit einem deutlichen Anstieg der Lebensqualität einhergehen. Das bedeutet für die unteren Einkommensgruppen Umverteilung und Ausbau der öffentlichen Güter – für die Mittelschicht Lebensqualität, Arbeitszeitverkürzung und Work-Life-Balance. Diese Agenda wird sich angesichts der aktuellen politischen Machtverteilung zwischen Demokratie und Kapital noch nicht durchsetzen lassen. Nicht nur deshalb muss das Mobilisieren demokratischer Power das zentrale Operationsfeld der demokratischen Linken sein. Und hier gibt es einiges zu tun.
Die groteske Vermögenskonzentration ballt viel zu viel politische Macht in wenigen Händen und das ist mittlerweile eine interne Bedrohung für die Demokratie. Der mögliche Verkauf von Twitter an Elon Musk ist ein Beispiel dafür, wie Überreichtum die demokratische Öffentlichkeit zerstört. Die „Dollar-Votes“ müssen gegenüber den „Man-Votes“ auf allen Ebenen drastisch eingehegt werden. Das Zurückdrängen der Lobbys, das Unterbinden gekaufter Politik, ein Stopp für die Drehtür zwischen Spitzenpolitik und Konzernzentralen, die Herstellung demokratischer Öffentlichkeit abseits von Medienzaren – all das sind Fragen, auf die es nachhaltige Antworten braucht. Unsere Demokratie zeigt schon erhebliche Abnutzungserscheinungen, obwohl sie gerade jetzt einen Qualitätssprung brauchen würde, um nach innen und außen wieder an Glaubwürdigkeit zu gewinnen.
Das Aufgabenfeld für die demokratische Linke wird unter den Bedingungen von Systemkonkurrenz und ökologischer Wende mit Sicherheit nicht weniger. Wenn irgendwer eine moralische Wiederaufrichtung der Demokratie nach innen und nach außen erreichen kann, dann sie. Nicht weniger ist die Voraussetzung dafür, dass die Demokratie weiterhin Bestand hat.
*Nikolaus Kowall ist Inhaber einer Stiftungsprofessur für Internationale Makroökonomie an der FH des BFI in Wien und Vize-Parteichef der SPÖ Wien Alsergrund. Auf seinem Videoblog hat er sich im März ausführlich mit dem russischen Angriffskrieg beschäftigt.
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