Mit seiner Zustimmung zu CETA hat Christian Kern hat eine große Chance verpasst, der Sozialdemokratie Glaubwürdigkeit in Wirtschaftsfragen zurückzugeben und damit versäumt, mitten in der rot-blauen Kampfzone zu punkten.
Nikolaus Kowall, Leonhard Dobusch
Der österreichische Bundeskanzler Christian Kern hat seinen Widerstand gegen CETA nicht länger durchgehalten. Begrüßenswert ist, dass er die Beweggründe für diese Entscheidung persönlich und teilweise durchaus nachvollziehbar dargelegt hat. Und aus Kerns Perspektive mag es auch stimmen, dass er das Maximum herausgeholt hat. Es handelt sich dabei aber nur um das Maximum innerhalb einer defensiven Logik die „Schlimmeres verhindert“. Es ist auch okay, wenn die SPÖ unter Kern Schlimmeres besser verhindert als davor, ein Weg aus der Sackgasse der Mitte-Links-Parteien in Österreich und Europa ist das jedoch nicht. Drei inhaltliche Argumente und eine strategische Anmerkung, warum mit der CETA-Zustimmung eine große Chance verpasst wurde.
Das ökonomische Argument
Eine weitere Europäisierung der nationalen Volkswirtschaften innerhalb der EU ist durchaus sinnvoll und kann – allerdings nur bei entsprechender politischer Begleitung – wohlstandsfördernde Effekte haben. Eine weitere Globalisierung um Regulierungsmaßnahmen weltweit zu koordinieren ist ebenfalls sinnvoll, etwa bei der Verfolgung von Steuerhinterziehung oder zur Regulierung der Finanzmärkte. Gleiches gilt natürlich für Abkommen zur Klimapolitik oder zu Menschenrechten, das alles ist Teil einer konstruktiven politische Globalisierung. CETA ist aber gerade kein Klima-, Menschrechts- oder Steuerbetrugsbekämpfungsabkommen. Es ist ein Freihandelsabkommen. Und eine weitere, mit falschen ökonomischen Annahmen begründete Ausweitung von Freihandel zwischen der EU und dem Rest der Welt ist gerade nicht sinnvoll.
Im Jahr 2015 gingen zwei Prozent aller EU-Exporte nach Kanada, das ist weniger als die EU im gleichen Jahr in die Vereinigten arabischen Emirate ausführte. Gemessen am BIP ist die Zahl noch geringer, 0,24 Prozent der gesamten EU-Produktion wurden nach Kanada exportiert. Die geringe Zahl kommt deshalb zustande, weil nur 12 Prozent aller Güter und Dienstleistungen, die in der EU hergestellt werden, überhaupt exportiert werden. Die restlichen 88 Prozent werden in der EU verbraucht – man spricht deshalb von einer relativ geschlossenen Volkswirtschaft. Dementsprechend weisen ÖkonomInnen regelmäßig darauf hin, wie gering die Auswirkungen von Handelsabkommen auf das BIP sind (siehe z.B. Sabine Stephan). Für gewisse Branchen kann der Freihandel jedoch den ohnehin starken Wettbewerbsdruck nochmals verschärfen, was dann weitere Lohnzurückhaltung nach sich ziehen kann. In einer Situation mit ohnehin viel zu geringer Binnennachfrage, wie das in Europa seit langem der Fall ist, kann der Effekt auf das BIP Wachstum im Saldo sogar negativ sein (bei TTIP spürbarer als bei CETA).
Das ökologische Argument
Aber auch jenseits von Fragen rund um BIP und steigenden Druck auf die Löhne konterkarieren Freihandelsabkommen auch noch so zarte Versuche, dem Klimawandel Einhalt zu gebieten und den ökologischen Fußabdruck Europas zu verringern. Freihandel steht demnach in Konflikt mit der ökologisch und entwicklungspolitisch motivierten Einschränkung überflüssiger internationaler Transportaktivitäten und der kolonialen Nutzung landwirtschaftlicher Flächen in Ländern des Südens, sowie – damit verwandt – der Regionalisierung der Landwirtschaft. Für diese sprechen neben ökologischen und ernährungstechnischen Argumenten in Bezug auf Europa auch noch entwicklungspolitische Aspekte (kein Export subventionierter europäischer Lebensmittel nach Afrika mit desaströsen Folgen vor Ort, die wieder mit den Fluchtursachen in vielen Regionen zusammenhängen etc.). Fast jeder staatliche Eingriff kann unter dem Banner des Freihandels als Handelshemmnis interpretiert werden – in Kombination mit Schiedsgerichten ein fataler Schritt in die falsche Richtung. Oder, in den Worten von Christian Kern: „Wenn man in ein Freihandelsabkommen erst Selbstverständlichkeiten hineinreklamieren muss, die mit Handel wenig bis gar nichts zu tun haben, zeigt das, welche Probleme diese Handelsabkommen ‚neuen Typs’ schaffen.“
Das demokratische Argument
Um sich die in der öffentlichen Wahrnehmung ohnehin diskredidierte Parteipolitik ebenso vom Leib zu halten wie die Zivilgesellschaft, werden Abkommen wie CETA in elitären Zirkel unter erheblicher Mitwirkung von Konzernlobbys auf den Weg gebracht. Erst die fertigen Dokumente werden den Parlamenten zur Abstimmung vorgelegt und durch die Macht des Faktischen ein erheblicher Druck ausgeübt, wie Christian Kern ihn soeben zu spüren bekam. Ein Freihandelsabkommen das sich wie CETA gegen jegliche politische Maßnahme richten kann ist damit ein Paradebeispiel für Colin Crouchs Postdemokratie, derzufolge die wichtigen Entscheidungen in Hinterzimmern getroffen werden, während die Parteipolitik als Vorderbühne der Unterhaltung dient.
Darüber hinaus vermindert eine Zunahme der Außenhandelsverflechtung den demokratischen Handlungsspielraum, weil nationale und europäische Initiativen von Ökologie über Steuergerechtigkeit bis hin zu Arbeitszeitverkürzung und Lebensqualität, mit dem Standortargument neutralisiert werden. Schon jetzt sind Standort und Wettbewerbsfähigkeit die wichtigste rhetorische Figur der Marktliberalen um objektive Sachzwänge gegen eine politisch-demokratische Gestaltung unserer Lebensrealität ins treffen zu führen (siehe hierzu Rodrik). Selbst große und schon nur mittelbar demokratisch legitimierte Körperschaften wie die EU werden dadurch zu einer Filiale der internationalen Industrie degradiert. Die EU-28 sind, wie zuvor erwähnt, eine relativ geschlossene Volkswirtschaft. Ihr Offenheitsgrad sollte nicht durch politisch organisierte Globalisierung – wie sie bei den Markliberalen gerade auf der Agenda steht – erhöht werden, weil damit die politische Autonomie europäischer politischer Entscheidungen ähnlich stark eingeschränkt wird, wie das jetzt schon bei den einzelnen Nationalstaaten der Fall ist. Diesen Verlust demokratischer Souveränität kritisieren – wenn auch mit anderer Akzentuierung – derzeit fast exklusiv die Rechtspopulisten.
Die aktuelle CETA-Diskussion
Es ist vielen zivilgesellschaftlichen und parteipolitischen AkteurInnen zu verdanken, dass Vertragsbestandteile von CETA, allen voran die Schiedsgerichte, profund und eindrücklich kritisiert wurden (z.B. hier bei Folke Deters). Aus sozialdemokratischer Perspektive lässt sich CETA jedoch nicht durch ein paar Korrekturen im Text zähmen, weil die Intention in die prinzipiell falsche Richtung geht. Aus ökonomischer Sicht stellt sich die Frage, wieso man mit CETA, bei minimalen ökonomischen Effekten, eine Blaupause und eine Einfallstor für weitere Handelsabkommen riskieren sollte? Aus ökologischer Sicht sollte der Überseehandel mit Staaten die grosso modo das gleiche herstellen können wie die EU nicht weiter forciert werden. Am wichtigsten ist jedoch das demokratische Argument. Von liberaler Seite wird oftmals die Frage aufgeworfen, wie wir als EU denn überhaupt Handel mit der Welt treiben möchten wenn wir schon an Kanada scheitern, das Europa so ähnlich ist. Diese Frage beruht auf der normativen Grundlage, dass eine Ausweitung des Freihandels immer gut ist. Die Idee, als EU mehr Handel mit dem Rest der Welt zu treiben als bisher, ist das falsche Ziel. Es geht nicht um mehr und freieren, es geht um faireren, nachhaltigeren, sozialeren Handel. Was wir brauchen ist eine Entschleunigung wirtschaftlicher Globalisierung – zumindest, bis auch die ordnungspolitischen, ökologischen und sozialen Rahmenbedingungen eine weitere Ausdehnung von Handelsströmen möglich machen.
Das demokratische Argument lässt sich noch unter einem anderen Blickwinkel betrachten. Die rechtspopulistische Parteien kritisieren öffentlichkeitswirksam und nicht zu Unrecht die Aushebelung nationaler Demokratie durch europäische Entschlüsse und internationale Verträge. Sie betonen den Souveränitätsverlust der Bevölkerung gegenüber Mächten, die sich nicht demokratisch rechtfertigen müssen. Während die demokratische Linke eine ähnliche Kritik in akademischer Form vorbringt, erscheint sie bei den Rechtspopulisten im nationalistischen oder xenophoben Gewande und ist in ihrer Schlichtheit bzw. Vulgarität allgemein verständlich. Natürlich sind die rechtspopulistischen Ableitungen falsch, weil selbst große Nationalstaaten wie z.B. Frankreich völlig in die europäische Wirtschaft eingebettet und damit letztlich nicht autonom sind. Wer in der EU demokratische Souveränität – sei es wirtschaftspolitisch, ökologisch, außenpolitisch etc. – herstellen möchte, muss für eine Stärkung des europäischen Parlaments als Bühne der europäischen Demokratie eintreten. Dieser Verzicht auf nationale demokratische Souveränität zur Erlangung von mehr europäischer demokratischer Souveränität ist vermeintlich paradox und nicht so einfach zu vermitteln wie nationale Gefühle. Dennoch wäre es eine Chance für Mitte-Links-Parteien, eine europäische Sozialunion und einen sozialen Binnenmarkt als Schutzwall gegen die schicksalhaften und unberechenbaren Kräfte der Globalisierung zu positionieren. CETA bringt uns diesen Zielen aber nicht näher, sondern macht es noch schwerer, sie zu erreichen.
Die rot-blaue Kampfzone
Für die österreichische Sozialdemokratie ist CETA so gesehen kein Problem, sondern ein Geschenk. Das Thema eröffnet in idealer Weise die Möglichkeit, der FPÖ das Wasser abzugraben. Es ist völlig unerheblich wie liberale Qualitätsmedien und ÖkonomInnen reagieren, weil es ohnedies an der Zeit ist, mit diesen Gruppen die öffentliche Auseinandersetzung zu suchen. Die 2-3 Prozent liberalen Rot-WählerInnen, die daraufhin zu Grünen oder NEOS wechseln, sind völlig vernachlässigbar im Vergleich zu den über 30 Prozent, die laut Umfragen derzeit für die FPÖ votieren möchten. Die österreichische Sozialdemokratie ist gut beraten, die vermeintliche „Mitte“ aus neoliberalen AntifaschistInnen sich selbst zu überlassen und sich auf die rot-blaue Kampfzone zu konzentrieren. Es ist auch tendenziell unerheblich, wenn Österreich im Konzert der europäischen Regierungschefs mit seiner CETA-Ablehnung erstmals alleine dasteht. Seit Einführung des Euro haben es nur rechtspopulistische und anti-europäische Regierungen gewagt, bei wichtigen Fragen auszuscheren.
Ein Veto in der Frage von CETA wäre aber keine Schwächung, sondern eine Stärkung der EU. Und sie wäre der Versuch, einer sozial-ökologischen Wende in Europa. Diese Wende muss nur jemand beginnen, irgendwer muss den Mut haben das erste Loch in die Mauer zu schießen. Christian Kern hatte dazu eine einzigartige Gelegenheit. Vielleicht bekommt er noch eine zweite Chance.
Ihr könntet auch die anderen Freihandelsabkommen, die die EU mit Afrika schließt, beleuchten. Diese stehen ja nicht so sehr in der Öffentlichkeit. http://www.swr.de/report/ruecksichtsloses-abkommen-wie-die-eu-ihre-wirtschaftlichen-interessen-gegenueber-afrika-durchsetzt/-/id=233454/did=14245872/nid=233454/qzsp1f/