Seit im September 2008 in New York die Großbank Lehmann Brothers Insolvenz anmelden musste, kennt man die EU eigentlich nur noch in Verbindung mit einem Wort: Krise. Auf die Finanzmarktkrise folgte die Wirtschaftskrise folgte die Staatsschuldenkrise folgte die Euro-Krise folgte die Griechenlandkrise, die Ukraine- und schließlich die heutige Flüchtlingskrise. Der Krisenmodus ist scheinbar zum Normalzustand der Europäischen Union geworden. Rudolf Fussi schreibt in dieser Woche angesichts der vielen ungelösten Probleme des Kontinents im Standard „Dieses Europa ist tot.“
David Nestler*
Ungeachtet aller strukturellen Unterschiede, die diesen vielen Krisen zu Grunde liegen, so haben sie doch alle eines gemeinsam: Die Lösungswege führen einzig und allein durch Brüssel. All die globalen Miseren, die in den letzten Jahren die Schlagzeilen dominiert haben sind zu groß, um sie in Wien, ja sogar zu groß, um sie von Berlin aus zu lösen. Manche der genannten Krisen machen strukturelle Defizite der EU deutlich, andere fördern immense kulturelle Unterschiede zwischen Nord- und Süd-, Ost- und Westeuropa zu Tage, und doch gibt es aus allen Beispielen nur die eine Schlussfolgerung: Was, wenn nicht ein geeintes Europa, eine funktionierende EU, soll die Lösung auf die Herausforderungen der Gegenwart und der Zukunft sein?
Die Flüchtlingskrise begann nicht erst 2015
Vor beinahe genau zwei Jahren, im Oktober 2013, trafen sich die EU Staats- und Regierungschefs zu einem Gipfeltreffen in Brüssel. Vorausgegangen waren ihm Katastrophen erschütternden Ausmaßes. Hunderte Flüchtlinge ertranken auf Ihrem Weg über das Mittelmeer. Insgesamt kamen in jenem Sommer an die 30.000 Menschen über das Meer an der europäischen Südgrenze an. Die Zustände in süditalienischen Auffanglagern (Lampedusa) waren erschreckend. Der damalige italienische Ministerpräsident Enrico Letta sowie dessen maltesischer Kollege Joseph Muscat drängten auf eine Änderung oder Abschaffung des Dublin-Verfahrens, da einzelne Mitgliedsstaaten an der Peripherie der Union mit der Situation überfordert wären. Anstelle dessen sollten die Schutzsuchenden nach einem festzulegenden Schlüssel auf alle Mitgliedsstaaten der Union verteilt werden. Der Vorschlag, unterstützt nur von wenigen Europapolitikern wie Werner Faymann, scheiterte am Desinteresse der mittel- und nordeuropäischen Länder (einschließlich Deutschlands), sich der Probleme seiner südlichen Partner anzunehmen. Beschlossen wurden eine Erweiterung der Frontex-Mission und eine Verbesserung der Situation vor Ort. Außerdem wolle man auf eine bessere Zusammenarbeit mit den Herkunfts- und Transitländern hinarbeiten, meinte die deutsche Kanzlerin damals sinngemäß. Die Europäische Kommission wie auch das Europäische Parlament forderten bereits vor dem damaligen Gipfeltreffen die Mitgliedsstaaten dazu auf, mehr Verantwortung zu tragen und die Voraussetzungen für eine Verteilung der Schutzberechtigten über den ganzen EU-Raum zu schaffen.
Der Sommer verging. Es kam der Winter, in dem der Flüchtlingsstrom abflaute, und im Frühjahr 2014 absorbierte bereits der Konflikt zwischen der Ukraine und Russland alle Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit.
Die Geschichte wiederholt sich
Welch Wunder, dass sich die Geschichte im Jahr 2015 wiederholt. Diesmal ist es zuerst der griechische Premier Tsipras, der die EU beinahe mit denselben Worten wie zwei Jahre zuvor Letta zu Hilfe ruft. Wie sich Lava einen Vulkan hinab schiebt, rücken die Hilferufe näher. Mazedonien, Serbien, Ungarn zeigen sich überfordert. Der Rest Europas verweist auf die bestehenden Regeln nach Dublin III. Erst wer direkt von der Glut erfasst wird, wechselt die Seiten. Dort wo die Flüchtlinge ankommen, werden europäische Lösungen eingefordert, wo man die Hoffnung auf eine solche aufgegeben hat, bereits Zäune gebaut. Und wieder reagieren die Länder, die nicht direkt von der Migrationsbewegung betroffen sind, mit kühlem Desinteresse bis Ablehnung. Mit dem Unterschied, dass es nun die mächtige deutsche Kanzlerin ist, die jenen Partnern, denen sie noch vor zwei Jahren zur Seite stand, als es darum ging eine langfristig tragfähige europäische Lösung zu verhindern, eine gerechte Aufteilung der Asylsuchenden schmackhaft machen will. Großbritannien erklärte in einem Anflug von Großmut umgehend 20.000 ausgesuchte Flüchtlinge aufzunehmen. Innerhalb der nächsten 5 Jahre. Damit zeigt es sich ähnlich kurzsichtig wie der österreichische Vizekanzler Spindelegger, der sich im August 2013 dazu bereit erklärte, 500 syrischen Christen Zuflucht zu gewähren.
Über 700 000 Flüchtlinge wurden bis September im Jahr 2015 in der EU registriert. Die überwältigende Mehrzahl davon gelangte über Griechenland und die Balkanroute ins Herz des Kontinents. Die griechischen Behörden befürchten bis zu 3,7 Millionen weitere Ankünfte. Diese Schätzung mag übertrieben sein, aber Griechenland wird mit diesen Zahlen nicht fertig werden. Serbien wird sie nicht verkraften können, Ungarn nicht, Kroatien nicht, Slowenien nicht, Österreich nicht… und auch Deutschland wird es nicht schaffen, Millionen Menschen in kurzer Zeit menschenwürdig unterzubringen. 700 000 Menschen, eine Stadt von der Größe Frankfurt/Main ist nicht von heute auf morgen erbaut, auch nicht in Deutschland. Und man stelle sich vor, ein Land wie Österreich wäre mit dieser Zahl alleingelassen. Es ist unbestritten, dass eine Eindämmung der Flüchtlingsströme nur durch eine Verbesserung der Lage in den Krisengebieten erreicht werden kann. Und auch dann sollte es nicht darum gehen, Asylsuchende wieder los zu werden, sondern darum, Stabilität und Frieden für möglichst viele Teile der Erde zu gewährleisten. Egal, wie man es dreht oder wendet: Die Lösung kann nur Europa heißen.
Welche EU wird denn gerufen?
Allein, es besteht ein fundamentales Missverständnis, wenn nach der EU gerufen wird. Der Ruf ergeht wie in den Fällen von Letta und Tsipras in der Flüchtlingskrise an eine fiktive europäische Solidargemeinschaft (- die AkteurInnen und Krisen sind allerdings auswechselbar: die Balten und Polen in der Ukraine-Krise, die PIIGs in der Schuldenkrise, Irland in der Bankenkrise etc.). Aufgenommen wird er aber von 28 NATIONAL-Politikerinnen und -Politikern. Die EU könnte all diese Probleme lösen, gäbe es sie in der Form, in der sie in Krisenzeiten propagiert wird. Ein kleines Gedankenexperiment: Stellen Sie sich vor, wir hätten die Vereinigten Staaten von Europa nach dem Vorbild der USA. Wo läge das Problem? Selbst wenn 3 Millionen Menschen binnen eines Jahres nach Europa strömten? Könnte man sich vorstellen, dass Oregon angesichts eines Flüchtlingsstroms nach Arizona eine Lösung verhindert, weil es der Meinung ist, es ginge Oregon nichts an? Könnte man sich vorstellen, dass Nevada einen Grenzzaun zu Arizona baute?
Das Subsidiaritätsprinzip ist das Problem. Es liegt zu viel Macht bei den Mitgliedsstaaten, die sich dann unter Umständen im wahrsten Sinne des Wortes einmauern, da die nationale Agenda über der Europäischen steht! In den bedeutenden Fragen wird unter 28 Nationalinteressen niemals Einstimmigkeit herrschen. Und hier liegt in Wahrheit auch das Demokratiedefizit der EU begraben, denn Demokratie fußt nicht auf Einstimmigkeit wie der europäische Rat.
Viele Kluften durchziehen Europa. Auch was die Einstellung gegenüber Asylsuchenden und die Emanzipation von einem ethnozentrierten Nationalismus angeht. Die baltischen, wie auch die Visegrad-Staaten, beäugen die EU misstrauisch. Zu tief sitzt noch das nicht aufgearbeitete Sowjettrauma. Nationalistische Strömungen bringen aber auch die alten Demokratien des Kontinents unter Druck. Trotzdem gibt es zur EU keine Alternative.
Wenn Europa tot wäre, wie Fussi schreibt, dann hätten wir kapituliert. Aber Kapitulation ist keine Option. Europa ist nicht tot. Europa steht auf dem Kopf. Die EU benötigt europäische Bürgerinnen und Bürger, die mit Herz und Hirn die Überzeugung vertreten, dass wir sie auf die Beine stellen müssen, wenn die Politik weiterhin in der Lage sein soll dicke Bretter zu bohren.
*David Nestler ist Mitglied der PES Activists Vienna. Er studierte Slawistik und Politikwissenschaft an der Universität Wien und lebt in Wien.
1. Die EU ist nicht Europa. Sie ist nur ein Teil (!) Westeuropas.
2. Die EU ist nicht tot.
Der einzige sinnvolle Bereich der EU, der gemeinsame Markt, funktioniert klaglos.
Was derzeit in arge Bedrängnis geraten ist, sind die politischen Ambitionen Brüssels.
Die derzeitigen Ereignisse könnten sogar dazu beitragen,
– die Sinnlosigkeit des Europäischen Parlamentes und
– die Kontraproduktivität ständig miteinander konkurierender Entscheidungsinstanzen
(Rat und Kommission)
bewusst zu machen und dann hätte das Dilemma sogar etwas Gutes.