Die letzte Woche war turbulent – dementsprechend viel zu lesen gibt es im Internet. Viel zu Griechenland: wie es sich als Griechenland-Gläubigerin lebt, eine Innenansicht von Syriza und Meinungen von Piketty und Habermas. Auch zum Patt in der Flüchtlingspolitik: Zahlen zu den österreichischen Gemeinden und Meinungen zur Bestattung ertrunkener Flüchtlinge vor dem Kanzleramt in Berlin.
Über die Zukunft der Arbeit in der Cloud, über Vorurteile gegenüber Frauen in der Arbeitswelt und Belästigung von Frauen im Internet. Außerdem ein Populismus-Forscher im Interview und neue empirische Ergebnisse von Maria Mazzucato über die Mär vom nutzlosen Staat, und und und.
Inhalt
Griechenland & Eurogruppe
Corinna Milborn hat sich 2011 auf die Suche nach griechischen Staatsanleihen gemacht, weil sie wissen wollte, wovon sie spricht und schreibt. Wie es ihr als Gläubigerin ergangen ist, beschreibt sie ausführlich in der Wiener Zeitung.
„Nicht Banken, sondern Bürger müssen über Europa entscheiden!“ Jürgen Habermas erklärt in der Süddeutschen Zeitung die Fehler der Merkelschen Europapolitik und zieht dabei auch mit der (deutschen) Presse hart ins Gericht: „Das jüngste Urteil des Europäischen Gerichtshofes wirft ein grelles Licht auf die Fehlkonstruktion einer Währungsgemeinschaft ohne politische Union.“
Inside Syriza: im Falter gibt es ‚Innenansichten eines waghalsigen Projektes‘ – Robert Misik war in Griechenland und berichtet aus erster Hand.
Einen erschreckenden Bericht über den Zustand der griechischen Gesellschaft gibt’s in der Zeit.
Der Ökonom Piketty fordert bereits länger eine große Schuldenkonferenz für Europa. Und seine Recherchen zeigen fast Vergessenes zum Umgang mit öffentlicher Verschuldung allein im letzten Jahrhundert: „Schauen Sie sich die Geschichte der öffentlichen Schulden an: Großbritannien, Deutschland und Frankreich waren alle schon in der Situation des Griechenlands von heute, litten sogar unter noch höheren Schulden. Die erste Lektion, die man deshalb aus der Geschichte der Staatsschulden ziehen kann, lautet, dass wir nicht vor neuen Problemen stehen. Es gab immer viele Möglichkeiten, die Schulden zu tilgen. Und nie nur eine, wie Berlin und Paris den Griechen weismachen wollen. (…) Deutschland ist wirklich das Vorzeigebeispiel für ein Land, das in der Geschichte nie seine öffentlichen Schulden zurückgezahlt hat. Weder nach dem Ersten noch nach dem Zweiten Weltkrieg. Dafür ließ es andere zahlen, etwa nach dem deutsch-französischen Krieg von 1870, als es eine hohe Zahlung von Frankreich forderte und sie auch bekam. Dafür litt der französische Staat anschließend jahrzehntelang unter den Schulden. Tatsächlich ist die Geschichte der öffentlichen Verschuldung voller Ironie. Sie folgt selten unseren Vorstellungen von Ordnung und Gerechtigkeit.“ Im Interview in der Zeit.
Larry Elliot fragt im Guardian, ob am Wochenende ein Sarajevo-Moment erreicht wurde; eine Entscheidung von weit größerem Ausmaß, als den handelnden Personen im Augenblick bewußt war.
Das Scheitern der Eurozone trifft ArbeiternehmerInnen weit über die Grenzen Griechenlands hinaus. Über die ökonomischen Effekte im restlichen Euroraum schreibt Aditya Chakrabortty im Guardian.
Und zu guter Letzt: Wo war Angela Merkel, als es wichtig wurde? Die deutschen Wirtschaftsnachrichten wissen es.
Frauen
Bridget Christie nimmt im Guardian Stereotype über FeministInnen aufs Korn: „All feminists do all day is burn bras. Twenty-four hours a day, seven days a week, without eating, sleeping or taking toilet breaks. A feminist would rather wet herself than leave a bra unburned.“
John Oliver hat in Last Week Tonight Online Harassment zum Thema gemacht, weil es eine ordentliche Gender-Schlagseite aufweist. Für wen das ein Novum ist, dem richtet John Oliver aus: „Congratulations on your white penis.“
Carsten Matthäus schreibt in der Zeit als Mann, der Chefinnen hatte. Über diese Chefinnen sagt er: „Diese haben ihre Mitarbeiter besser geführt als ihre Kollegen. Und sie haben gegen genau diese Kollegen ihre entscheidenden Machtkämpfe verloren. Das ist Alltag in deutschen Unternehmen, tausendfach durch Beispiele und Statistiken belegt. Frauen bringen keine schlechteren Leistungen als Männer, sie kommen aber im Wettbewerb um höhere Positionen schlechter bis gar nicht voran. Denn unbewusste Vorurteile begleiten sie bei jedem Schritt ihres Berufslebens.“
In diesem Interview spricht die beeindruckende Adina Bar Shalom, Tochter des ehem. Israelischen Oberrabbiners, über die Situation und Rolle der Haredi in der israelischen Gesellschaft und Politik, Zionismus, Lösungsansätze für den Israel/Palästina Konflikt, Settlements sowie über ihre eigenen Initiativen:
Arbeit
Ein sehr interessanter Report über die Zukunft der Arbeit widmet sich insbesondere dem IBM Cloudworking-System. Ein Video von der deutschen Gewerkschaft Verdi vermittelt ebenfalls kompakt, worum es beim Arbeiten in der Wolke geht.
Unter https://spielraum.xing.com/ stößt man auf eine Fundgrube von Allem rund ums Thema ‚Neue Arbeitswelt‘ – mit Zahlen und Fakten, Ratgebern und best practice Beispielen.
Über Indien wird viel zu wenig berichtet: auf Catchnews gibt es eine fundierte Einschätzung von den den Arbeitsmarkt liberalisierenden projektierten Reformen zum Arbeitsrecht.
Flüchtlingspolitik
„Die Asylkonferenz ist gescheitert, Flüchtlinge werden in Österreich weiter ungleich verteilt: Mehr als zwei Drittel der Gemeinden haben keinen einzigen Asylwerber im Ort. Wenn es um deren Aufnahme geht, mangelt es vielerorts an politischem Willen. Auch der ist ungleich verteilt. Und fehlt vor allem der Volkspartei. Sieben von zehn Gemeinden mit ÖVP-Bürgermeister nehmen keine Flüchtlinge auf. Die Bilanz der SPÖ fällt besser aus.“ Eine übersichtliche Reportage der NZZ.
Die letzte Aktion des Zentrums für politische Schönheit hat die Medienlandschaft gespalten: ist es schändlich und gehört verboten, oder ist es großartig? Der künstlerische Leiter sagt dazu: Kunst ist dazu da, die Wirklichkeit erträglich zu machen. Und die Wirklichkeit ist derzeit unerträglich. Um zu erklären, was sie beabsichtigen, haben die AktivistInnen einen Aufsatz geschrieben, den man hier nachlesen kann. Der wirft „einen Blick auf die geistigen Grundlagen, aus deren Erosion das Zentrum für Politische Schönheit entstanden ist und an deren Wiederherstellung es arbeitet.“ Unter den vielen positiven Reaktionen auf die Aktion waren zb die Heinrich – Böll – Stiftung und das VICE Magazin. Man kann weiterhin hier Geld spenden und damit die Bestattung weiterer im Mittelmeer ertrunkener Menschen bewirken.
Politik & Parteien
„Rechtspopulisten und Rechtsradikale definieren den Menschen ethnisch und Linkspopulisten und Linksradikale nicht. Sozioökonomisch gesehen unterscheiden sie sich aber nicht groß voneinander. Manche Positionen der französischen Front National könnte man auch als mittelinks einordnen. Sie möchten unter anderem, dass die Wirtschaft den Interessen der Menschen dient. Aber eben nur dem Wohl des eigenen Volkes. Das ist der nativistische Aspekt dabei.“ Der Populismus-Forscher Cas Mudde im Interview in der Zeit.
Mit Parolen wie „Weniger Staat, mehr Privat“ wird der Staat seit Jahren schlecht geredet. Dabei ist er der wichtigste Motor für Innovation und ökonomische Wettbewerbsfähigkeit.“ Robert Misik stellt Marianna Mazzucatos Arbeiten zum „nützlichen Staat“ entgegen des neoliberalen Mainstreams vor.
Alt-Kanzler Franz Vranitzky und Ex-EU-Kommissar Franz Fischler diskutierten in der Wiener Zeitung „Rezepte“ gegen die FPÖ. „(…) Entgegen der Meinung vieler Spin-Doktoren urteilen beide, dass Inhalte wieder eine größere Rolle spielen müssen. Dazu braucht es zwingend auch „Courage der Politiker, wieder klare Positionen zu beziehen.“
Maxim Loick schreibt nach dem Scheitern von Anträgen gegen die anlasslose Vorratsdatenspeicherung am SPD-Parteikonvent über „blutige Nasen“ und warum er weiter in der SPD bleibt. Sein Fazit: „Ich für meinen Teil werde die SPD erst dann verlassen, wenn die alles macht, wie ich es will. Erst dann braucht’s mich dort nicht mehr.“
Julia Herr hat auf ihrem Blog über ihre Sicht auf die Krise der SPÖ geschrieben.
Transparency International bemüht sich mitzuzählen, wen die Kommissare wie oft treffen: Günter Öttinger’s Büro steht dabei für Lobbyismus von Telekommunikationsunternehmen am weitesten offen. Im EU Integrity Watch kann man nachlesen, dass hingegen nur 11% aller Meetings des Kommissars oder sechs seiner Angestellten die in der Studie auch berücksichtigt wurden, mit VertreterInnen von NGOs, Think Tanks und GemeindevertreterInnen abgehalten wurden.
Der Publizist Mark Terkessidis entwirft eine positive Philosophie der Zusammenarbeit. Sein Zugang: Mehr Kollaboration als Weg zur Demokratisierung der Gesellschaft. Die Doppeldeutigkeit des Begriffs Kollaboration ist dabei bewußt: „Auf der einen Seite sind wir Kollaborateure, weil wir oft auf eine ohnmächtige und grollende Weise viele Kompromisse machen mit kapitalistischen Auswüchsen und demokratischen Mangelerscheinungen. Auf der anderen Seite sehe ich aber viele positive Formen von Kollaboration: Wikipedia, Shareconomy, Citizen Science, Bürgerbeteiligung, Kunstprojekte et cetera. Der Vorschlag lautet also, Kollaboration zu einem ethischen Leitprinzip zu machen. Systematisch geförderte und umgesetzte Kollaboration könnte Zusammenhalt stiften in Zeiten, in denen die repräsentative Demokratie zerfleddert wirkt, weil viele Leute sich nicht mehr gut oder gar nicht mehr vertreten fühlen.“ In der taz!
Flüchtlingspolitik.
Je eher wir einsehen, dass wir Flüchtlinge, die an einem sicheren Drittland „vorbeigeflüchtet“ sind, kurzfristig
– also ohne monate- oder jahrelange Prüfungsverfahren, die nur Fakten ermitteln, die neben der Drittland-Klausel unwesentlich sind –
und konsequent zurückweisen müssen, desto besser für uns UND für jene Menschen, die wir aufnehmen.
Und für jene, die noch in Österreich sind, obwohl wir sie schon unwiderruflich zurückgewiesen haben – das sind inzwischen ein paar Tausend – brauchen wir auch eine Lösung, mit der wir die österreichische Rechtssprechung durchsetzen.
Das jüngste Urteil des Europäischen Gerichtshofes wirft ein grelles Licht auf die Fehlkonstruktion einer Währungsgemeinschaft ohne politische Union?
Nein, wirklich nicht.
Die Fehlkonstruktion ist die Struktur der Entscheidungsfindung und -umsetzung in Brüssel. Richtig wäre die Festlegung auf eine Entscheidungsinstanz und das kann nur der Rat sein.
Demnach wäre die Kommission ausschließlich für die Umsetzung der Rats-Beschlüsse zuständig und das Parlament wird nicht mehr benötigt.