Solidarität statt Klientelismus

Peter Ulrich Lehner ging auf diesem Blog kürzlich mit dem von Nikolaus Kowall in der Presse publizierten Artikel „Das rote Imperium gibt es nicht mehr“ scharf ins Gericht. Letztlich seien Kowalls Thesen jene eines Wirtschaftsliberalen, so die Essenz von Lehners Text. Eine Replik auf Lehners Replik.

Nikolaus Kowall

Die Reaktion Peter Ulrichs Lehners ist die umfassendste und am besten strukturierte von mehreren Kritiken, die mein Artikel zum „Roten Imperium“ ausgelöst hat. Erst möchte ich ein dazu paar prinzipielle Überlegungen anstellen und dann konkret auf Lehners Kritik eingehen:

  • 1. Klientelismus zerstört Solidarität

Jeglicher Klientelismus ist ein antisolidarisches Gift für die Gesellschaft. Er nützt immer stärker den Konservativen, weil die privilegierte Klientel sich eher mit den Interessen der Eliten als mit jenen der nicht privilegierten sozialen Schichten identifiziert. Denn die privilegierte Klientel hat immer etwas zu verlieren. Außerdem ist zu bedenken, dass je homogener die arbeitsrechtlichen und steuerlichen Bedingungen für die breite Masse sind, desto wahrscheinlicher ist ein solidarisches Verhalten und desto stärker die Position gegenüber den wirklichen gesellschaftlichen Eliten auf der Kapitalseite. Die Homogenität der Bedingungen innerhalb der arbeitenden Menschen ermöglicht erst, dass Gruppen nicht mehr gegeneinander ausgespielt werden können. Gleiche Bedingungen für die Masse macht Verteilungseffekte von politischen Maßnahmen viel transparenter, vereinheitlicht die Interessen dieser Gruppe, vereinheitlicht das was man früher Klassenbewusstsein nannte und erhöhen letztlich die Durchsetzungskraft der Lohnabhängigen.

  • 2. Ressourcen sind knapp

Die Berücksichtigung des Faktums knapper Ressourcen bedeutet konsequent gedacht, dass sich eine Umlegung aller öffentlichen Privilegien auf die gesamte Bevölkerung volkswirtschaftlich nicht ausgeht. Ein einfaches Beispiel illustriert das: Die durchschnittlichen jährlichen Beamtenpensionen sind mit 35.700 Euro weit mehr als doppelt so hoch wie die Durchschnittspensionen der anderen unselbstständig Beschäftigten, die bei 15.500 Euro liegen. Würde der Staat allen 2,2 Millionen Menschen, die 2009 eine Pension kassiert haben, die durchschnittliche Beamtenpension von 35.700 Euro zahlen, ergäbe dies eine Summe von 78,5 Mrd. Euro. Also mehr als doppelt so viel wie jene 35,6 Mrd., die 2009 real für Pensionen ausgegeben wurden. 78,5 Mrd. entspricht 2/3 des gesamten Steuer- und Abgabeneinnahmen von 2009, das nur für Pensionen verwendet worden wäre. Dies würde neue Steuern im Ausmaß von 43 Mrd. Euro erfordern. [1] Die optimistischsten Schätzungen bezüglich der potentiellen Aufkommensstärke zusätzlicher vermögensbezogener Steuern liegen bei fünf Mrd. Euro, ganz abgesehen davon, dass kein vernünftiger Mensch zusätzliche Steuermittel in das Pensionssystem investieren möchte.

Alleine Beamtenpensionen für alle würden bei konstanter Staatsquote eine 30 Prozent höhere Wirtschaftsleistung erfordern. Selbst die Enteignung und Veräußerung allen privaten Stiftungsvermögens könnten Beamtenpensionen (oder gar –Gehälter) für alle nur ein paar Monate finanzieren. Wenn es also unmöglich ist Beamtenpensionen für alle zu finanzieren, dann muss die Rechtmäßigkeit doppelt so hoher Pensionen für Beamte in Frage gestellt werden. Denn es gibt einen Zielkonflikt um volkswirtschaftliche Ressourcen zwischen allen Gruppen der Bevölkerung, nicht nur zwischen Kapital und Arbeit. In unserem Fall interessiert nun der Trade off zwischen öffentlich Bediensteten und der Restbevölkerung. Entweder man schafft für alle (innerhalb ihrer Qualifikation und ihres Alters) ähnliche Bedingungen, oder die einen haben Vorteile auf Kosten der anderen. Die Privilegien der öffentlich Bediensteten bedeuten entweder niedrigere öffentliche Leistungen oder eine höhere Abgabenbelastung für die Allgemeinheit. Die Vorteile der einen sind immer die Kosten der anderen.

  • 3. Konsequent zur Gleichheit stehen

Privilegierte stehen oft unter dem Schutz jener Linken, die meinen, man müsse zumindest im öffentlichen Sektor eine sozialistische Insel schaffen (Unkündbarkeit, hohes Gehalt, kein Wettbewerbsdruck). Dabei verteidigen die „KlassenkämpferInnen“ Privilegien, die gegen das für die Sozialdemokratie elementare egalitäre Prinzip verstoßen. Selbst im aktuell gültigen SPÖ-Parteiprogramm heißt es, dass „unsere politische Arbeit darauf abzielt, eine Gesellschaft ohne Privilegien und Herrschaftsverhältnisse zu schaffen (…).“ Das bedeutet nicht, dass der öffentliche Bereich sich am Einzelhandel orientieren soll, wie das so oft polemisch dargstellt wird. Natürlich steht der Kampf für bessere Löhne und Arbeitsbedingungen in benachteiligten Branchen und bei den prekär Beschäftigten ganz oben auf der Agenda. Wenn aber im Privatsektor seit Jahren reguläre Beschäftigungsverhältnisse verschwinden und der/die „Neue Selbstständige“ für eine ganze Generation schon zur Normalität geworden ist, dann führt der gegenteilige Trend im öffentlichen Sektor zu einer starken Auseinanderentwicklung von Lebensrealitäten in der Arbeitswelt. Eine Entwicklung die reale Kosten hat, weil die Vorrechte der öffentlich Bediensteten über eine höhere Steuerlast oder schlechtere staatliche Leistungen jene mittragen müssen, die ohnehin schon von der Kapitalseite ins Prekariat gezwungen wurden.

Der Rechnungshof hat verglichen, was die in einigen Bundesländern nicht nachvollzogenen Pensionsreformen letztlich bedeuten werden. Heuert eine Person beim Bund als A-Beamte/r an, kann sie mit 65 Jahren in Pension gehen und erhält 2.268 Euro Monatspension. Im SP-regierten Wien kann die Person als A-Beamte/r hingegen mit 3.291 Euro Monatspension rechnen. In Wien wurde überdies mitten in der Krise eine Woche Sonderurlaub für die unkündbaren BeamtInnen beschlossen. Diese Gustostückerl zahlen nämlich die anderen. Jörg Haider freut sich über das gefundene Fressen und lässt Strache aus der Hölle grüßen!

  • 4. Wer ist unsere wichtigste Zielgruppe?

Es mag auf die 1970er-Jahre zutreffen, dass eine Klientelkoalition aus Bediensteten der Verstaatlichten, der Post, der EisenbahnerInnen, der Gemeinde Wien, der Sozialversicherungen, der roten Banken und Versicherungen sowie eines Teils der Beamtenschaft den festen Kern des sozialdemokratischen Elektorats gebildet hat. Ich definiere die Zielgruppe der Sozialdemokratie anders. Mit Abstand an erster Stelle stehen für mich alle unselbstständig Beschäftigten (BankdirektorInnen ausgenommen), sowie die vergleichbaren neuen Selbstständigen. Also die Arbeitskräfte in privatwirtschaftlichen Beschäftigungsverhältnissen. Wieso? Weil dies die am wenigsten privilegierten Gruppen sind. Diese große Mehrheit der Bevölkerung hat weder ein Vermögen das sich ohne zutun von selbst verzinst, noch einen freundlichen Vater Staat als Arbeitgeber. Diese Gruppe spürt den Konflikt zwischen Kapital und Arbeit in den eigenen Lebensbedingungen. Die privat Beschäftigten sind für mich die Norm in einer kapitalistischen Marktwirtschaft, nicht die öffentlich Bediensteten. Wer die Anwältin der ArbeitnehmerInnen im privaten Sektor sein möchte, darf nicht den staatsnahen Angestellten Sonderrechte einräumen.  Insofern empfinde ich es absolut fair, dass die öffentlichen Vertragsbediensteten an das ASVG angepasst wurden. Meiner Ansicht nach sollte die SPÖ dieser Jahre vor allem die ASVG-Partei sein.

Diese Überzeugungs-Eckpfeiler sind die Voraussetzung dafür meine Verteidigung gegen Lehner zu verstehen, der ich mich nun im letzten Teil des Artikels widme:

  • Sowohl Kapitalprivilegien als auch Staatsprivilegien reduzieren

Die Frage ob die Privilegien der Eliten des finanzialisierten Kapitalismus oder jene des öffentlichen Bereichs bekämpft werden sollen, ist im Gegensatz zu Lehners Darstellung kein „entweder oder“ sondern ein „sowohl als auch“. Den Schwerpunkt müssen SozialdemokratInnen selbstverständlich auf ersteres legen; ich halte es aber für falsch zweiteres unberücksichtigt zu lassen. In fast allen Zeitungskommentaren der letzten drei Jahre haben wir als Sektion 8 unseren Fokus auf die Verteilungsgerechtigkeit und die Vermögensbesteuerung gelegt. Wir haben damals als einzige SPÖ-Struktur eine Kampagne gegen die Ausweitung der Stiftungsprivilegien unter Kanzler Gusenbauer gefahren. Man muss also unser gesamtes Wirken beobachten bevor folgender von Lehners Vorwürfen berechtigt erhoben werden kann: „(…) während sie die wirklichen Privilegien der Kapitaleinkünfte (die in der Krise durch Haftungsübernahmen staatlich garantiert worden sind) nicht einmal andenken?

  • funktionelle und personelle Einkommensverteilung verschieben

Zu Lehners Anmerkung, wir würden die funktionelle Einkommensverteilung ignorieren: Erstens sind alle von uns geforderten Vermögenssteuern nachträgliche Korrekturen der schlechten funktionellen Verteilung zwischen Gewinnen und Arbeitnehmereinkommen mittels Steuersystems. Zweitens ist zum Beispiel Till van Treeck vom gewerkschaftsnahen Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der Auffassung, dass die Ungleichheit in der personellen Verteilung in Deutschland bereits so gewaltig ist, dass eine kräftige Verschiebung der funktionellen Einkommensverteilung alleine bei weitem nicht mehr ausreicht, um annähernd zu einer befriedigenden Situation zu kommen. Drittens haben wir uns als Sektion 8 zur Lohnpolitik noch nicht explizit geäußert, aber ich glaube nicht nur für mich zu sprechen, wenn ich staatliche Mindestlöhne befürworte (übrigens ein wesentlicher Grund für die stabile Einkommensverteilung in Frankreich), und wenn ich vor allem im exportorientierten Deutschland und seinen Vasallen (zu denen wir ökonomisch gehören) im Sinne von sozialer Gerechtigkeit, wirtschaftlicher Prosperität und europäischer Koordination Lohnerhöhungen über Inflation und Produktivitätsentwicklung für mehrere Jahre fordere.

  • Privilegien abbauen heißt Kaufkraft stärken

„Wie sollen Volkswirtschaften erblühen, wenn permanent ihre Massenkaufkraft geschmälert wird?“, fragt Lehner mir Besorgnis um die Volkswirtschaft. Ich bin sehr für eine Steigerung der Massenkaufkraft, egal ob in Form von privatem oder von staatlichem Konsum. Ich sehe hier zwei, eine große eine weniger große, Quellen für Massenkaufkraft. Die große Quelle ist die in Österreich geringe Kapitalbesteuerung, die weniger große Quelle sind die Vorrechte der Landesbeamten, die öffentlichen Förderungen, der teure Folklore-Föderalismus sowie die teilweise atemberaubenden bestehenden Pensionen im öffentlichen Sektor: Vor allem letztere  zeichnen sich – der keynesschen Vorstellung eines einkommensabhängigen Sparverhalten folgend – vor allem durch eine Erhöhung der Sparquote, nicht jedoch der effektiven Nachfrage aus.

  • Gewerkschaften sind nicht heilig

Bei aller Solidarität mit den EisenbahnerInnen der ersten Republik, die Lehner anführt: Im geschützten Bereich, mit Generationen von roten Verkehrsministern und GdE-Vorsitzenden im Nationalrat als Stütze ließ es sich in der zweiten Republik leicht eine starke Eisenbahnergewerkschaft sein. Ebenso als perfekt organisierte und dominante Kraft im schwarzen ÖAAB wenn es um die Gewerkschaft öffentlicher Dienst geht. Vor allem letztere hat nicht Rechte erkämpft sondern Vorrechte erstritten, die sie sich auf Grund ihrer Unkündbarkeit und ihrer soziokulturellen Nähe zu den Machtzentren der politischen Verwaltung leisten können. Auch die von Lehner gelobten 17 Monatsgehälter und die Quasi-Pragmatisierung, die der „Verein der Versicherungsangestellten“ einst für seine Angestellten durchsetzen konnte, kann ich nicht goutieren. Die Gehälter dieser Leute schmälern nämlich nicht die Profite der wettbewerbsarmen Banken- und Versicherungsbranche, sondern erhöhen die Kosten für die KonsumentInnen, verschlechtern die reale Kaufkraft und drücken auf die personelle Einkommensverteilung. Das steht in Widerspruch zu Lehners euphemistischem Blick, der auf vernünftige Dachgewerkschaften zutreffen mag, nicht jedoch automatisch auf Branchengewerkschaften:  „Gewerkschaftliche Vertreter/innen suchen unter Bedachtnahme auf gesamtgesellschaftliche Gesichtspunkte den Beschäftigten ihrer Branchen einen möglichst hohen Anteil an den von diesen selbst geschaffenen volkswirtschaftlichen Werten zu sichern.“ Obwohl ich Rosa Luxemburg nur selten zustimme, sehe ich bei ihrer Kritik an jenen Gewerkschaften die Partikularinteressen verfolgen einen wahren Kern und dieser trifft im Falle der einzelgewerkschaftlichen Logik von Beamten oder Bank- und Versicherungsangestellten durchaus zu: „Denn worauf reduziert sich notwendigerweise die aktive Teilnahme der Gewerkschaft an der Bestimmung des Umfangs und der Preise der Warenproduktion? Auf ein Kartell der Arbeiter mit den Unternehmern gegen den Konsumenten, und zwar unter Gebrauch von Zwangsmaßregeln gegen konkurrierende Unternehmer, die den Methoden der regelrechten Unternehmerverbände in nichts nachstehen. Es ist dies im Grunde genommen kein Kampf zwischen Arbeit und Kapital mehr, sondern ein solidarischer Kampf des Kapitals und der Arbeitskraft gegen die konsumierende Gesellschaft.“

  • Die „Vorreiterthese“ ist brüchig

Die Vorreiterrolle gewerkschaftlich gut organisierter Branchen, die Lehner so hervorhebt, muss also auch historisch durchaus mit Skepsis betrachtet werden, weil die „Errungenschaften“ von staatlichen Branchen und jenen mit geringem Wettbewerbsdruck schon früher nicht immer zum Standard für alle Beschäftigten wurden. Spätestens seit den 1980er-Jahren liegt aber völlig auf der Hand, dass den privat Beschäftigten ein neuer, kalter Wind um die Ohren bläst (Lohnsteigerungen unter der Inflation, Flexibilisierung, Konkurrenz durch Leiharbeit, Prekarisierung etc.), während der staatliche Sektor lange Zeit munter weiterhin „soziale Errungenschaften“ ausbauen konnte, wie ein Blick auf den Einkommensbericht des Rechnungshofs eindeutig zeigt: „Während die Einkommen der ArbeiterInnen 2009 nur mehr 91% des Einkommens des Jahres 1998 betrugen, erzielten BeamtInnen in diesem Zeitraum eine Steigerung ihrer mittleren Einkommen um 26%.“ Bei den ÖBB und den neu eingestellten BundesbeamtInnen wurden diese Zustände kontinuierlich reduziert, die alte Beamtenschaft und die Landesbeamten leben aber nach wie vor im kuscheligen Zeitalter des Austrokeyensianismus, während der Privatsektor seit 25 Jahren in der harten Realität des Neoliberalismus ist. Zwischen diesen beiden Welten hat sich in den letzten Dekaden ein Gap geöffnet, der alle traurigen Geschichten über die kargen Beamtengehälter der 1960er-Jahre endgültig zum Mythos macht (wir ein Blick auf die Statistik Austria eindrucksvoll beweist). Es mag Zeiten gegeben haben in denen staatsnahe Bereiche eine Vorreiterrolle für alle ArbeitnehmerInnen gespielt haben und die Arbeiterbewegung stärkten. Der Gap der sich heute zwischen dem öffentlichem Dienst und den normalen ArbeitnehmerInnen aufgetan hat,  bedeute oftmals eine berechtigte Verletzung des Gerechtigkeitsgefühls der privatwirtschaftlich Beschäftigten, ein weniger an Solidarität und somit eine Schwächung der Bewegung. Heute würde ein Abbau von Privilegien den Zusammenhalt in der Arbeiterbewegung stärken und ihre Aufmerksamkeit nach langen Jahren vielleicht endlich wieder einmal auf die Kapitalseite richten.


[1] Alle Daten entstammen dem Einkommensbericht des Rechnungshofes

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One Response to Solidarität statt Klientelismus

  1. Thomas Moldaschl 22. Januar 2011 at 14:04 #

    Hi,

    unter http://moldaschl.wordpress.com/2011/01/22/kampf-der-privilegienwirtschaft/ habe ich einen längeren Kommentar veröffentlicht, um meine Meinung zu dieser Debatte Kund zu tun.

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