Warum wir ein neues Wahlrecht brauchen

In Wien stehen Wahlen an, an denen 24% der Wiener Bevölkerung nicht teilnehmen dürfen. Seit Jahren lähmt der Bund die Stadt mit seiner Untätigkeit, während das Demokratiedefizit beständig wächst.

Die Stadt Wien hat ihrem Namen als Menschenrechtsstadt in den letzten Wochen alle Ehre gemacht und ist kontinuierliche top-Platzierte in vielbeschworenen Rankings zur Lebensqualität. Lediglich ein Problem kann die Stadt nicht allein lösen: rund ein Viertel ihrer Bevölkerung im wahlfähigen Alter ist von den Wahlen zu ihren gesetzgebenden Körperschaften ausgeschlossen. Das liegt daran, dass das Wahlrecht in Österreich an die Staatsbürgerschaft gekoppelt ist und lediglich durch den EU-Beitritt Österreichs leichte Änderungen dahingehend erfahren hat, wen es inkludiert: seither dürfen Staatsangehörige von EU-Mitgliedsländern an den Wahlen zum Europaparlament teilnehmen, darüber hinaus aber lediglich auf Bezirksebene wählen. Ein Anachronismus, wie es scheint, der aber dazu führt, dass in einzelnen Bezirke wie Rudolfsheim-Fünfhaus ein Drittel bei der kollektiven Willensbildung nichts zu melden hat.

Den amtierenden Parteien ist das Problem längst bewusst, aber spätestens seit einem gemeinsamen Vorstoß von Rot-Grün aus 2002, den die ÖVP vor den Verfassungsgerichtshof brachte, ist klar, dass die Materie Bundessache ist: wie vom Volk das Recht auszugehen hat stellt eine Änderung der Verfassung dar. Somit müssten 2/3 der Abgeordneten im Nationalrat den Ländern die Kompetenz geben, selbst zu bestimmen, wer ihr Wahlvolk ausmacht.

Auch andere Städte in Österreich sehen das Auseinanderklaffen von Wahlvolk und Bevölkerung, aber nirgends ist die Lage so eklatant wie in Wien. Wien ist schon jetzt die 7-größte Stadt der EU und wächst beständig, gleichzeitig schrumpft ihr Elektorat. In 20 Jahren werden bereits 36% aller in Wien lebenden Menschen im Ausland geboren sein, schätzt die Statistik-Abteilung der Stadt Wien.. Im europäischen Vergleich ist Österreich bei Partizipationsmöglichkeiten für AusländerInnen gleichzeitig sehr zurückhaltend: Menschen aus Drittstaaten steht nur die Einbürgerung offen.

Dabei gehört es zur Lebensrealität in einer modernen Stadt innerhalb eines Raums mit Personenfreizügigkeit, dass dort viele Menschen unterschiedlicher Staatsangehörigkeit wohnen. Nicht zuletzt ist im Entwurf der Europäischen Union genau diese Mobilität und Arbeitsmigration ein zentraler und gewünschter Faktor. Für Stadtpolitik auf die Staatsangehörigkeit der StadtbewohnerInnen abzustellen wirkt zunehmend anachronistisch.

BürgerIn ist, wer hier ist.

Der Rechtsprofessor Harald Eberhard nennt Österreich daher eine StaatsbürgerInnendemokratie, keine Betroffenendemokratie. Indem unsere Gesetze diese Unterscheidung treffen, spielen sie dem Populismus direkt in die Hände. Erst unser Staatsbürgerschaftsrecht, das die Abstammung von ÖsterreicherInnen an Relevanz noch vor den Ort der Geburt stellt, ermöglicht den Diskurs über In- und AusländerInnen in der Form, wie er von der FPÖ betrieben wird. Hingegen können Personen mit Wahlrecht nicht mehr so leicht angegriffen werden. Mit PensionistInnen und Studierenden kann nicht populistisch Ball gespielt werden, weil man ihre Strafe bei der Wahl zu spüren bekommen würde.

Der moderne Gegenentwurf zur StaatsbürgerInnendemokratie macht den materiellen Lebensmittelpunkt zum Kriterium für den Zugang zu gesellschaftlichen Ressourcen wie dem Wahlrecht. Das demokratische Ideal ist: BürgerIn ist, wer hier ist. Was zählt, ist Citizenship, nicht Staatsbürgerschaft. Nicht nur ist es die Grundidee der Demokratie, dass die, die den Gesetzen unterworfen sind, diese auch mitgestalten dürfen. Das Wahlrecht bildete historisch auch das Faustpfand des Einzelnen gegenüber der Steuerhoheit des Staates: no taxation without representation. Von diesem Ideal sind wir weit entfernt.

Und zu guter Letzt gibt es auch eine weitere strukturelle, höchst bedenkliche Schieflage: während für die Einführung eines Wahlrechts auf Gemeindeebene in Wien eine 2/3-Mehrheit im Nationalrat nötig ist, kann das österreichische Einbürgerungsgesetz mit nur einfacher Mehrheit verschärft oder gelockert werden. Es kann derzeit also eine kleine Gruppe relativ einfach darüber walten, den Pool der WählerInnen und Wähler zu verkleinern, während es großer politischer Mehrheiten braucht, um diesen zu vergrößern.

Mit der Verleihung des Wahlrechts würde man Wiens MigrantInnen zum Wahlvolk machen, zur Bevölkerung gehören sie längst. Sie sind den österreichischen ArbeiterInnen in die Fußstapfen gefolgt oder zum Studieren oder Arbeiten nach Wien gekommen, leisten ihren Beitrag zum Wirtschaftsprodukt, und ohne ihre Kinder wird unser Pensionssystem erst gar nicht mehr zu finanzieren sein.

Ein neues Wahlrecht ist eine Frage der Haltung.

Das Wissen und die Besorgnis um den Zustand ist in der Wiener SPÖ auch vorhanden, die Forderung nach einem Ausländerwahlrecht wurde bereits 1995 zur Parteibeschlusslage gemacht. Seit der Aufhebung des letzten rot-grünen Vorstoßes durch den Verfassungsgerichtshof ist aber nichts mehr geschehen.

Geschenkt, die 2/3-Mehrheit im Nationalrat, die es dafür braucht, liegt nicht herum. Aber seit es mit den NEOS eine liberale Partei gibt, haben sich die Voraussetzungen für ein neues kommunales Wahlrecht verbessert. Denn innerhalb der ÖVP gab und gibt es BefürworterInnen, denen klar ist, dass die derzeitige Regelung die demokratische Legitimation der politischen Institutionen und ihre VertreterInnen auf kurz oder lang in untragbare Bedrängnis bringen wird. Die Mitterlehner-ÖVP ist im gesellschaftspolitischen Bereich schon bei der künstlichen Befruchtung für lesbische Paare durch mehr Liberalismus als ihre Vorgänger aufgefallen, Mitterlehner selbst hat keine Einwände gegen die Verpartnerung von homosexuellen Paaren und sogar den Islam als Teil unserer Gesellschaft ausgerufen. So groß war die gesellschaftspolitische Diskrepanz zwischen der auf Gebührenbelastung und Erschwernissen für AutofahrerInnen setzenden Wiener ÖVP und ihrer nationalen Mutterpartei schon länger nicht mehr.

Aber das Fenster könnte kurz sein: die nachrückende, junge ÖVP aus Sebastian Kurz und Marcus Figl, der Ursula Stenzel im ersten Bezirk ersetzt hat, ist gesellschaftspolitisch wesentlich konservativer aufgestellt. Kurz hat in seiner Zeit als Integrationsminister das Wahlrecht sogar als ‚Goodie‘ bezeichnet, also als Zuckerl, das man bekommt, wenn man sich gut integriert hat. Wie so oft bei konservativen politischen Entwürfen macht es auch im von Kurz für gut empfundenen Modell einen großen Unterschied, wieviel man im Börserl hat. Wenn der Zugang zum Wahlrecht so wie derzeit über die Staatsbürgerschaft geregelt ist, und man für die auch noch Geld braucht, ist das ein verdecktes Zensuswahlrecht. Aber die derzeitige Regelung diskriminiert nicht nur nach Einkommen, sondern auch vor allem die Jungen, denn die Bevölkerung ohne Staatsbürgerschaft ist wesentlich jünger als der österreichische Durchschnitt.

Die Integrationsstadträtin Sandra Frauenberger hat es richtigerweise als Haltungsfrage bezeichnet, das Wahlrecht auch auf Nicht-EU-BürgerInnen zu erweitern. Die Wiener SPÖ begreift die Klassenebenen, die sich im Wahlrecht abspielen. Immerhin stand der Kampf um das allgemeine, gleiche, geheime und direkte Wahlrecht auch traditionell im Zentrum der politischen Aktivitäten der Sozialdemokratie. Daher hat sie auch das Wissen, dass neuen Gruppen ein Wahlrecht zu geben in der Geschichte noch nie kampflos funktioniert hat. Die SPÖ muss die Angelegenheit wieder als eine ureigene begreifen und ihr ganzes Gewicht in den Ring werfen. Denn unabhängig davon, wer in Wien an der Macht ist: am Wahlrecht wird ohne den Bund keine Stadtregierung etwas ändern können.

24 aus 24%

Wir möchten die Nichtwahlberechtigten in Wien mit einer neuen Kampagne sichtbar machen. 24 Menschen aus diesen 24% sollen zu Wort kommen. Sie alle haben ihren Lebensmittelpunkt in Wien, sie alle haben am 11. Oktober kein Stimmrecht. Ihre Biografien sind so unterschiedlich wie vorbildlich europäisch: sie sind dorthin gezogen, wo es Arbeit und Studienplätze gab und das Leben hat sie zu Wienern und Wienerinnen gemacht. An den letzten 24 Tagen vor der Wahl werden jeden Tag WienerInnen und Wiener ein neues Wahlrecht für alle, die in Wien leben, fordern. Das ist auch im demokratischen Interesse all jener, die in Wien schon jetzt und schon immer wählen durften: wer in einer Demokratie leben will, muss immer wieder beim Wahlrecht anfangen.

One Response to Warum wir ein neues Wahlrecht brauchen

  1. punto 23. September 2015 at 13:37 #

    @: “ ich entscheide wo mein zu Hause ist!“

    Das sehe ich nicht so. ich möchte als autochthoner Österreicher bestimmen, mit wem ich meine Heimat teile.

    Integration fordert das eindeutige Bemühen des Neuen, aber sie findet nur dort statt, wo die Einheimischen bereit sind, einen Neuen aufzunehmen. Das ist eine ganz einfache Erfahrung aus der Gruppendynamik.

    Diese Tatsache gilt auch für männliche Professorinnen und wenn sie noch so schön gendern.

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