Fall Snowden: Wir brauchen eine zukunftsorientierte Vergangenheitsbewältigung

Moderne Technologie ermöglicht es offenbar, flächendeckend buchstäblich jeden Erdenbewohner zu bespitzeln und das Ergebnis auf lange Zeit zu speichern. Gehen Sie also davon aus, dass Väterchen Staat mithört und –liest, wenn Sie mit Familienmitgliedern, Freunden, Kollegen und Fremden z.B. eine Geburtstagsfeier oder eine Urlaubsreise planen, Interna aus Ihrem Büro besprechen oder politische Fragen diskutieren, über das Internet oder mit Kreditkarte eine elektrische Zahnbürste, einen Gelsenstecker, eine CD oder ein Buch besorgen, sich in die Hände eines Arztes begeben und Medikamente kaufen, ihr Bankkonto abfragen oder bedienen, und und und. Von der Teilnahme an Demonstrationen, Bürger-Initiativen, Unterschriftsaktionen oder Ihrem Wahlverhalten ganz zu schweigen.

Von Gabriele Matzner

„Wen soll das alles interessieren?“ fragen Sie sich vielleicht als „normaler“, unauffälliger und unbedeutender, selbstverständlich unbescholtener und gesetzestreuer Bürger. Und gar die USA oder eine sonstige Großmacht? Und wenn schon, werden Sie denken, sollen sie doch, ich habe ja nichts zu verbergen, bin kein Terrorist. Wahrscheinlich muss das sein, überlegen Sie vielleicht, damit man die Stecknadel Bösewicht im Heu rechtzeitig entdeckt. Dutzende Terroranschläge sollen dank solcher Überwachung schon verhindert worden sein, das Gebot der Geheimhaltung verhindert die Beweisführung, um welche Erfolge es dabei gegangen ist. Aber Sie vertrauen selbstverständlich der höheren Weisheit der Regierenden, auch wenn Sie sonst gerne über diese schimpfen.

Wer sich nichts zu schulden kommen lässt…

Doch Vorsicht: Steinchen für Steinchen, email für email, Telefonat für Telefonat, Reise für Reise, Einkauf für Einkauf, Arztbesuch für Arztbesuch, hinterlassen Sie Spuren, die sich über Jahre zu einem Porträt verdichten können, das Sie verdächtig macht: Sie wären nicht der erste, dem aus für Sie unerklärlichen und unerklärten Gründen ein neuer Handyvertrag, die Miete einer Wohnung, ein Reise-Visum, ein Kredit, eine Anstellung oder Beförderung oder Krankenbehandlung verweigert wird, oder der bei Grenzübertritten unerwartetermaßen einer hochnotpeinlichen Untersuchung unterzogen wird. Von harmlosen Nebenwirkungen wie gezielter und unerwünschter Werbung für Unterwäsche, Wanderschuhe, Marderschrecks, Wellness-Ressorts oder historische Schmöker einmal abgesehen. Denn selbstverständlich sind Sie nicht nur für die Sicherheitsbehörden gläsern, sondern auch für einen fetten Rattenschwanz ko-optierter und kooperierender Firmen.

hat nichts zu befürchten?

Doch Sie bleiben gleichmütig und unbesorgt. Daher teilen sie auch freimütig beispielsweise im internet Ihre Freuden, Ansichten und Sorgen mit „Freunden“. Bis zum Beweis des Gegenteils glauben Sie nicht, dass Sie als unschuldiger, harmloser Bürger eines Tages in den Verdacht des „Terrorismus“ geraten könnten oder dass ein „Gedankenverbrechen“ ihre Existenz gefährden könnte. Sie haben ja keine Feinde, werden nie welche haben und können folglich den Rat des deutschen Philosophen Schopenhauer ignorieren: was dein Feind nicht wissen soll, das sage deinem Freunde nicht. Gegen jede Erfahrung mit der Fehlbarkeit menschengemachter Systeme und Entscheidungen und mit der Droge Macht („Wissen ist Macht“) wiegen Sie sich in Sicherheit. „Gestohlene Identität“, als deren Folge Sie auf breiter Front bestohlen oder verdächtigt werden können, bis zur Verwahrung auf unbestimmte Zeit ohne Erklärung oder Anklage? Das kann Ihnen nicht passieren?

Wir leben ja in einer Demokratie, denken Sie, was kann da schon passieren? Nichts wird so heiß gegessen wie gekocht. Kein Grund zur Sorge oder gar Aktion. Und außerdem: alle bespitzeln, nicht nur die USA, auch „unsere“, oder sie machen mit. Nichts zu machen, werden Sie sagen.

Das Desinteresse der Massen

In seinem ersten Interview aus Hongkong meinte der junge Aufdecker Snowden Anfang Juni 2013 auf Befragen, seine Motivation sei es, eine breite Diskussion darüber anzustoßen, wo aus demokratie-hygienischer Hinsicht die Grenzen der derzeit und fürderhin immer grenzenloseren globalen Datensammlung/Überwachung von allem/allen und jedem außerhalb jedweder demokratisch-politischer Kontrolle gezogen werden sollten. Als seine schlimmste Befürchtung nannte er den Fall, dass das von ihm aufgedeckte Ausmaß der globalen Bespitzelung auf Gleichgültigkeit und Passivität bei den Betroffenen, sprich den berühmten 99%, stößt.

Ich befürchte, Snowdens Befürchtung besteht zu Recht, wenngleich Umfragen in den USA signalisieren, dass seine Enthüllungen ein leichtes Ausschlagen des Meinungspendels Richtung Ablehnung der Orwells’ Alpträume übertreffenden Überwachung bewirken – momentan. Bei den USA-„befreundeten“ Regierungen des „Westens“ blieb der Sturm der Entrüstung über die Bespitzelung, wenig überraschend, schaumgebremst und seltsam verdrückt. Ihr vom seinerzeitigen US-amerikanischen Sicherheitsberater (1977-81) Zbigniew Brzezinski diagnostizierter Vasallenstatus gegenüber den USA hat sich wohl mittlerweile verfestigt. Der Verdacht liegt nahe, dass die „Empörung“ einiger regierender europäischer Politiker Teil des bewährten Pingpongspiels mit den periodisch erregten Medien ist und dass bestenfalls das Ausmaß und die Tatsache, dass nicht nur ihre Bürger, sondern auch sie selbst bespitzelt werden, diese „befreundeten“ Regierenden überrascht.

Die in den Medien verkörperte und formierte „öffentliche“ Entrüstung über „Prism“ und andere Spitzelaktionen machte – im Stil von Wildwestfilmen – bald der Verfolgung der Jagd nach dem Aufdecker und seinem aktuellen und allfällig zukünftigen Zufluchtsort Platz. Statt einer Auseinandersetzung über den ethischen oder politischen Wert und Unwert globaler Bespitzelung und/oder der Aufdeckung derselben lenkten (auch) unsere Medien, inklusive des der Bildung verpflichteten ORF, die „Debatte“ auf die möglichen Hintergründe der Strandung des bolivianischen Präsidentenflugzeugs in Wien und Snowdens in Moskau.

Zukunftsorientierte Vergangenheitsbewältigung

Dabei wäre ein solche Auseinandersetzung „aus gegebenen Anlass“ dringend geboten und sollte integrierender Teil einer zukunftsorientierten „Vergangenheitsbewältigung“ werden, wie sie in Forschungsprojekten, Publikationen, Unterricht, öffentlichen Ansprachen etc. seit nunmehr Jahrzehnten betrieben wird und das Versprechen „Nie wieder“ (Massenmord, v.a. an „jüdischen Mitbürgern“) einlösen soll. Mittlerweile weiß jeder, außer jenen, die es nie wissen werden wollen, was geschehen ist, und dass es großteils ungesühnte Verbrechen waren. Und gewiss müssen diese Informationen über die Vergangenheit auch dann weiter gegeben werden, wenn durch den Tod der letzten Zeitzeugen das Massenverbrechen in den Schatten des Historischen verblasst.

Aber wissen die solcherart Belehrten auch genug darüber, wie es soweit kommen konnte? Und zu solchem – wichtigen – Wissen gehört nicht nur das um die Dummheit und Verwerflichkeit von Vorurteilen und um die Ungeheuerlichkeit des systematischen Massenmordes. Mindestens ebenso wichtig wäre meines Erachtens eine Sensibilisierung gegen die – zumeist schleichende – Erosion demokratischer Fundamente. Auch das nationalsozialistische System wurde nicht über Nacht durchgesetzt, sondern tastend, Schritt für Schritt. Die judenfeindlichen „Nürnberger Gesetze“ traten beispielsweise erst zwei Jahre nach der Übergabe der Regierungsmacht an die NSDAP durch deutsche bürgerlich-nationale Politiker in Kraft. Schritt für Schritt, es regte sich kaum Widerstand, und mangels Widerstand auf breiter Front, konnten die gesammelten oder vereinzelten politisch Andersdenkenden leicht ausgeschaltet werden. Wer kennt nicht das „Testament“ des kurz vor Kriegsende hingerichteten protestantischen Theologen Dietrich Bonhoeffer, in dem er bekennt, wie er sich nicht gefährdet fühlte, solange es gegen „andere“ ging, Kommunisten, Sozialisten etc., bis sozusagen niemand mehr da war, mit dem er sich hätte solidarisieren können, der ihm hätte helfen können, als er selbst ins Visier der staatlich bevollmächtigten Mörder geriet.

„Vergangenheitsbewältigung“ bleibt auch bei uns Stückwerk, wenn die Thematik nicht beständig aus „aktuellem Anlass“ neu durchdacht wird. „Wehret den Anfängen“ darf sich nicht auf die Bekämpfung von Vorurteilen und gesetzlichen oder tatsächlichen Misshandlungen von Minderheiten, Migranten, Andersdenkenden, Asylbewerbern etc. beschränken, so wichtig und löblich das ist.

Eine essentielle Lehre aus der Vergangenheit ist meiner Meinung nach auch, den Anfängen staatlicher, staatsnaher aber auch groß-wirtschaftlicher, meist mit staatlicher liierter Macht zu wehren, bzw. diese unter effektiver demokratischer-zivilgesellschaftlicher Kontrolle zu halten. In diese Richtung sollten jene führen, die schon bisher gegen die NS-Verbrechen und ihre Nachwirkungen sensibilisieren.

Daher schlage ich vor, dass unsere verdienstvollen Vergangenheitsbewältiger aus Medien, Academia und Politik den „Fall“ Snowden zum Anlass nehmen, die Erosion demokratischer Grundfesten in ihr Aufklärungsprogramm aufzunehmen, die Wehrkraft dagegen zu stärken und den durch „entertainment“ abgestumpften „One-Dimensional Man“ (Herbert Marcuse) aufzurütteln.

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