Oberflächliche politische Auseinandersetzungen dominieren die aktuelle Tagespolitik. Sie bieten keinen Raum für eine tiefgehende Beschäftigung mit Reformvorschlägen oder alternativen Gesellschaftskonzepten. Dem neoliberalen Mainstream kann so nichts entgegen gehalten werden und die Sozialdemokratie verfehlt damit ihre wichtigste politische Aufgabe. Stattdessen bestimmen Meinungsumfragen, Marketingstrategien und kleine Tauschgeschäfte mit dem Koalitionspartner die aktuelle Positionierung der Parteien. SpitzenfunktionärInnen und (selbsternannte) ExpertInnen legen den politischen Kurs fest. Dem hat sich die Parteibasis anzuschließen. Möglichkeit, Richtung und Geschwindigkeit dieses Kurses zu verändern, gibt es nicht. Apathie der BasisfunktionärInnen, Auseinanderklaffen zwischen Parteiführung und –basis und Entpolitisierung der Bewegung sind die Folge davon. Eine Demokratisierung der vorhandenen Parteistrukturen kann hier gegensteuern. Denn ein Mehr an Demokratie bedeutet, dass Positionen in einem internen Diskurs verhandelt und Argumente geschärft werden müssen: vermeintliche Sachzwanglogiken treten in den Hintergrund.
Aber wie kann so eine Demokratisierung der Partei aussehen? Welche strukturellen und kulturellen Komponenten müssen in den Blick genommen werden, um die Partei nachhaltig zu einem Ort der breiten Diskussion und offenen Beteiligung zu machen? Diesen Fragen will die Sektion 8 im Rahmen des Call for Papers „Sozialdemokratie bewegen, Parteidemokratie verändern“ nachgehen und lädt Interessierte dazu ein, zu den nachfolgenden Themen Vorträge und Thesenpapiere auszuarbeiten, die auf einem gemeinsamen Workshop von 9. bis 11. März 2012 diskutiert werden sollen.
Inhalt
Thema 1: Zugang zur Politik und politische Mitbestimmung
Unsere Gesellschaft hat sich sozial, kulturell und lebensweltlich stark ausdifferenziert. Die politischen Parteien haben diesen Differenzierungsprozess aber nicht mitgemacht, sondern sind nach wie vor an ihrer traditionellen Klientel des 20. Jahrhunderts orientiert. Diese ist größtenteils weiß, männlich und in stabilen Beschäftigungsverhältnissen sozial abgesichert. Das spiegelt sich auch bei den politischen AkteurInnen wieder: sie repräsentieren keinen Querschnitt, sondern einen überschaubaren Ausschnitt der Bevölkerung. Die Parteien sind strukturell gar nicht mehr in der Lage, der gesellschaftlichen Vielfalt Raum für politische Organisation zu geben. Eine politische Praxis, die Pluralität nicht ignoriert sondern bejaht, muss inhaltlich sowie organisatorisch erst entwickelt werden.
- Welche niederschwelligen Beteiligungsmöglichkeiten können breite Gesellschaftsschichten und auch junge Menschen für politisches Engagement motivieren? Und wie kann ein egalitärer Zugang ohne Nachteile aufgrund sozialer Herkunft, Geschlecht, Migration und anderer Ungleichheitsverhältnisse ermöglicht werden?
- Wie können Parteien ihr maskulinistisches Gewand, das sich durch starre Hierarchien, Männerbünde und stilisierte Machtkämpfe auszeichnet, ablegen?
- Welche Identitätspolitik kann eine vielfältige gesellschaftliche Allianz im Kern zusammenzuhalten ohne Unterschiede über einen Kamm zu scheren?
Thema 2: Zivilgesellschaft und politische Parteien
Die Gesellschaft hat sich auch politisch ausdifferenziert. An „großen Erzählungen“ und absoluten Erklärungen besteht nur noch wenig Interesse, denn auch in der Politik haben Arbeitsteilung und Spezialisierung Einzug gehalten. Menschen wollen in Sachfragen überzeugt werden und nicht aufgrund von Labels wie „sozialdemokratisch“ oder „konservativ“ für oder gegen eine politische Maßnahme sein. Viele zivilgesellschaftliche Initiativen greifen dieses Bedürfnis auf, indem sie sich auf ein bestimmtes Thema spezialisieren und dafür Expertise entwickeln. Dadurch wurde ein großer Teil des politischen Lebens aus den Parteien ausgelagert.
- Welche Teile der Zivilgesellschaft sind PartnerInnen für ein progressives Bündnis mit der Politik, das getrennt gehen aber gemeinsam wirken kann?
- In welchem Rahmen können Sozialdemokratie und Zivilgesellschaft interagieren, sodass die Sozialdemokratie frischen Wind abbekommt und die Zivilgesellschaft einen besseren Zugang zu politischen Entscheidungsprozessen findet, ohne dass sich eine Seite übervorteilt oder vereinnahmt fühlt?
- Welche Schritte können dialogbereite Gruppen innerhalb der SPÖ setzen, um einen kontinuierlichen Austausch mit der Zivilgesellschaft zu etablieren? Und wie können umgekehrt AkteurInnen aus der Zivilgesellschaft Annäherungsversuche an den alten roten Tanker wagen?
Thema 3: Parlamentarismus, Gewaltenteilung und Lobbyismus
Der britische Politikwissenschaftler Colin Crouch charakterisiert die derzeitige Demokratie als eine Vorderbühne mit Eventcharakter und eine Hinterbühne, wo die tatsächlichen Entscheidungen gefällt werden. Auf dieser Hinterbühne kommen SpitzenpolitikerInnen, UnternehmerInnen, BeraterInnen, LobbyistInnen und Medienleute zusammen, die einen kleinen intransparenten Machtzirkel bilden. Die Verlagerung von Entscheidungen hinter verschlossene Türen wird durch eine Politik der Auslagerung öffentlicher Aufgabenbereiche und Dienstleistungen an Private verstärkt. Dadurch gehen neben politischen Einflussmöglichkeiten auch Wissen und Kompetenz verloren. Crouch beschreibt diese Situation treffend mit dem Begriff der Postdemokratie. Exemplarisch für den Mangel an Kompetenz, Transparenz und demokratischer Einflussnahme ist in Österreich der eklatant schwache Parlamentarismus. Dieser Mangel an demokratischer Balance zwischen Exekutive und Legislative stärkt den Handlungsspielraum der Machtzirkel rund um die Spitzenpolitik nochmals erheblich.
- Wie sind die österreichischen Machtzirkel aus Spitzenpolitik, Großunternehmen, Medienhäusern, Banken, BeraterInnen, MeinungsforscherInnen und LobbyistInnen beschaffen?
- Was wäre notwendig um den Parlamentarismus in Österreich zu einer ernstzunehmenden politischen Kraft zu machen? Wie kann das Zusammenwirken aus National- und Bundesrat und das dazugehörige Wahlrecht anders gedacht werden?
- Welche rechtlichen, behördlichen und zivilgesellschaftlichen Maßnahmen sind notwendig um Lobbyismus, Korruption und Intransparenz im politischen und politiknahen Bereich den Riegel vorzuschieben?
- Wie gestalten sich die Strukturen im internationalen Bereich? Welche Möglichkeiten der Demokratisierung ergeben sich auf europäischer/internationaler Ebene?
Thema 4: Partei- und Medienöffentlichkeit
Die Kommunikation der Parteien zeichnet sich mehr und mehr durch eine „Marketingisierung“ aus: Inhalte werden mit griffiger Slogans vermarket und die Parteimitgliedschaft durch Vergünstigungen bei befreundeten Firmen schmackhaft gemacht. In den Medien sind Scheinfragen nach Kommunikationsstrategien sowie personalisierte Storys relevant, die wirklich wichtigen Entscheidungen stehen öffentlich aber gar nicht zur Diskussion. Verstärkt wird diese Form des pseudopolitischen Diskurses durch die privaten Massenmedien. Sie begreifen ihre RezipientInnen nicht als StaatsbürgerInnen, sondern als KonsumentInnen, die sich nur für Spektakel begeistern. Die Eigentumskonzentration im Mediensektor trägt dazu bei, dass die stilistisch reißerisch aufbereiteten Inhalte niemals die Interessen großer privater Unternehmen gefährden – ihnen gehören schließlich die großen Medienhäuser. Die jüngere Geschichte der Öffentlichkeitsarbeit der österreichischen Sozialdemokratie mit dem Ende der ArbeiterInnenzeitung vor 20 Jahren bis zur gezielten Kooperation mit dem Boulevard heute ist symptomatisch für die Veränderung der öffentlichen Kommunikation in der Postdemokratie.
- Was sind die Charakteristika des politmedialen Komplexes in Österreich im Allgemeinen und rund um die österreichische Sozialdemokratie im Speziellen? Und wie kann das unterhaltungsfokussierte Tagespolitik-Hick-Hack zu einem öffentlichen Diskurs substanzielle gesellschaftliche Fragen werden?
- Wie kann eine Gegenöffentlichkeit abseits der etablierten Medienhäuser geschaffen werden? Welche Rolle spielen dabei traditionelle Formen der Öffentlichkeitsarbeit und neue Medien?
- Welche sprachlichen Bilder und Botschaften braucht es, um „Geschichten“ zu erzählen, die die Menschen in ihrer Lebenswirklichkeit berühren und sie wieder für Politik interessieren?
Thema 5: Parteidemokratie und -organisation
Zwischen der Stimmabgabe eines einfachen Parteimitglieds und der Wahl des/der Parteivorsitzenden liegen in der SPÖ bis zu elf Ebenen indirekter Entscheidungsprozesse. Eine Person, die sich in einer Sektion oder Ortspartei engagiert, kann etwa einmal im Jahr bei personellen Fragen mitbestimmen – doch das auch nur auf der untersten Ebene der Parteihierarchie. Auch in inhaltlichen Fragen ist die Mitsprachemöglichkeit dürftig: So gab es in der SPÖ etwa noch nie eine Urabstimmung. Wenn Inhalte nicht verhandelt werden müssen sondern nur von wenigen vorgegeben werden, trocknet die politische Diskussion innerhalb einer politischen Bewegung aus. Kreative Ideen und die Freude am Engagement wird so die Grundlage genommen. Gleichzeitig kommt es zu einer Entkoppelung inhaltlicher Entscheidungen von den demokratisch legitimierten Strukturen der Partei, und so entzieht sich der postdemokratische Machtzirkel zentralen Kontrollmechanismen.
- Welche Chancen und Risiken gehen mit Direktwahlen der ParteifunktionärInnen durch alle Mitglieder einher, und für welche Positionen können diese im Sinne einer offenen und demokratischen Parteistruktur sinnvoll eingesetzt werden? Wie können Vorwahlsysteme für MandartarInnen und SpitzenkandidatInnen aussehen, sodass sie inhaltliche Diskussionen und „Underdogs“ begünstigen anstatt neue Hürden für marginalisierte Gruppen zu bilden? Welche Rolle spielen dabei Quoten oder ähnliche Mechanismen für mehr Geschlechtergerechtigkeit?
- An welche innerparteilichen Personengruppen sollen politische und strategische Alltagsentscheidungen gebunden werden? Wie sollen die Beziehung und Verantwortlichkeit zwischen EntscheidungsträgerInnen und Parteibasis gestaltet werden?
- Wie kann die Teilhabe der Mitglieder an inhaltlichen Fragen gewährleistet werden? Wie muss sie ausgestaltet sein, damit die Partei politisch handlungsfähig bleibt? Mit anderen Worten: Wie wird der Mittelweg partizipativer Führung möglich?
Thema 6: Machtzirkel und Parteikultur
Die formale Beschaffenheit der internen Parteidemokratie ist das Fundament, auf dem eine demokratische und inklusive Kultur entstehen kann. Doch selbst die raffinierteste demokratische Landschaft kann nur funktionieren, wenn eine entsprechende demokratische Kultur gelebt wird. Der Machtzirkel hat prinzipiell Interesse daran, demokratische Institutionen zu leeren Hüllen zu degradieren. Auch parteiinterne und parteinahe Organisationen, Netzwerke und Expertisen werden bei Entscheidungsfindungen kaum berücksichtigt. Das innerparteiliche Leben zeichnet sich derzeit tendenziell durch einen autoritärer Führungsstil gemäß dem Motto „wer nicht für mich ist, ist gegen mich“ aus. Intransparenz aufgrund einer Entscheidungsfindung im kleinsten Kreis, das Spiel mit ökonomischen Abhängigkeiten und eine willfährige Personalpolitik untergraben jede ergebnisoffene demokratische Auseinandersetzung.
- Wieso stoßen die Machtzirkel in der Politik innerhalb ihrer Parteien kaum auf Widerstände, obwohl niemand der handelnden AkteurInnen im Falle eines Widerstandes gegen die Durchsetzung einer Entscheidung in seinen Menschenrechten bedroht ist? Wie kann diese von außen oftmals als „Kultur des Gehorsams“ erscheinende Logik durch eine republikanische Kultur ersetzt werden, die den handelnden Individuen mehr Autonomie und Souveränität einräumt?
- Wie kann ein breiter und partizipativer Meinungsbildungsprozess, der sowohl Mittel zum Zweck (qualitativ hochwertige Ideenproduktion) als auch Zweck an sich ist (Politisierung der Partei durch interne Diskussion) innerhalb von Parteien gestaltet werden?
- Welchen Stellenwert hat Leistung im Erringen von politischen Entscheidungspositionen, welchen soll sie haben? Woran wird Leistung gemessen und wie kann verhindert werden, dass die Definition von Leistung im politischen Zusammenhang herkömmlich diskriminierenden Mustern folgt, die Kreise sozio-kulturell ähnlicher Personen bevorzugen?
Ablauf
- Erstellen einer max. 2-seitigen Kurzzusammenfassung (Abstract) des Themas, das gemeinsam mit einer/einem Co-AutorIn präsentiert werden soll
- Kurzzusammenfassung mit Hinweis auf die im Call vorgegebenen Themen bis 31. Jänner 2012 an sektionacht@reflex.at schicken
- Vortrag und Diskussion des Themas auf dem AutorInnenworkshop von 9. bis 11. März 2012 (außerhalb Wiens, TeilnehmerInnenbeitrag: 40 Euro)
- Der Vortrag sollte folgendermaßen gegliedert sein:
- Einleitung – Problemdefinition – Analyse – Handlungsableitungen/Forderungen – Literatur
- Im Anschluss erfolgt die schriftliche Ausarbeitung der Thesenpapiere, in die die Diskussionspunkte und Anregungen von der AutorInnenkonferenz eingearbeitet werden.
- Geplant ist eine Publikation aus zentralen Beiträgen des Diskursprojekts, die als Argumentationsgrundlage für mehr Demokratie gegenüber SPÖ und Öffentlichkeit dienen soll.
- Wer Fragen zum Prozess hat oder eine/einen Co-AutorIn sucht, kann gerne eine Mail an sektionacht@reflex.at schicken – wir melden uns umgehend!
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