Christopher Berka
Mein Gastkommentar in der Presse vom 23.01.2010 zum Thema Transferkonto lässt viele Fragen und teilweise auch Vorwürfe offen. Leider ergibt ein solcher Rahmen nicht die Möglichkeit alle Punkte in einer ansprechenden Ausführlichkeit zu diskutieren. Dieser Blog-Eintrag legt meine Thesen und Argumente zum tatsächlichen Hintergrund des Transferkontos sowie zur Kritik an der Transferstudie des Grazer Joanneum Research deshalb umfassender dar.
Zur Kritik an der Notwendigkeit und zum Hintergrund eines Transferkontos
Im Gastkommentar der Presse war der Fokus auf die politischen Hintergründe des Transferkontos gerichtet und nicht auf die Kritik der Studie des Grazer Joanneum Research – es handelt sich dabei um einen politischen Kommentar (Die Überschrift wurde von der Presseredaktion von „Zu den wahren Hintergründen des Transferkontos“ auf „Profiteure kommen ungeschoren davon“ geändert).
Die Studie hätte methodisch sauberer durchgeführt werden müssen, worum es aber eigentlich geht sind die Hintergründe. Es ist denkbar, dass die Transferkontostudie völlig unabhängig von Wirtschafts- und Budgetkrise so stark von der ÖVP in die Öffentlichkeit getragen wurde und wird. Es ist legitim zu glauben, dass einige Menschen im Kummer-Institut bzw. innerhalb der ÖVP dieser Studie einen hohen wissenschaftlichen und gesellschaftspolitischen Wert beimessen und sie deshalb so stark befördern. In meiner subjektiven Wahrnehmung (Irrtum ist immer und jederzeit möglich) kann ich diese Story lediglich nicht glauben. Österreich steht vor einer der größten budgetpolitischen Herausforderung der letzten Jahrzehnte. Eine Konsolidierung ab 2011-2012 wird unumgänglich sein. Einsparungen in der öffentlichen Verwaltung werden nicht ausreichen – zusätzliche Leistungskürzungen bzw. Steuererhöhungen werden notwendig sein, um den Staatshaushalt zu konsolidieren, alleine um die Vorgaben des Stabilitätspaktes zu erfüllen.
Die Hartnäckigkeit mit welcher eine inhaltlich und methodisch so fragwürdige Studie in der Öffentlichkeit breit getreten wird, ist für mich ein klares Indiz für eine langfristige Strategie mit einem ganz konkreten Ziel. Der Weg der Argumentation, der hier so konsequent bestritten wird soll dazu dienen die Kürzungen von Sozialausgaben mithilfe einer irreführenden Leistungsgerechtigkeitsdebatte zu legitimieren.
Dabei ist es politisch vollkommen legitim und für eine konservative Partei wie die ÖVP nur konsequent Kürzungen der Staats- bzw. Sozialausgaben zu verlangen, aber dann sollte dies (Transparenz!) seitens der BefürworterInnen auch klar der Bevölkerung mitgeteilt werden.
Transparenz und Schwelleneffekte
Ein „Mehr“ an Transparenz ist zwar nicht immer und zu jedem Preis (Datenschutz), aber in vielen Bereichen prinzipiell wünschenswert (Stichwort: Bankenhilfspaket). Allerdings ergibt sich gerade im Bereich der Sozialleistungen kein großer Spielraum für zusätzliche Durchsichtigkeit. All jene Menschen, die Transferleistungen beziehen, müssen ihr Einkommen und das ihrer Familie vor den zuständigen Behörden ohnedies komplett offenlegen. Die Behörden wissen also welche Familien, welche Transfers in welcher Höhe bekommen. Die verstreuten Informationen müssten lediglich zusammengeführt werden. Die notwendigen Daten sind vorhanden und die Transparenz auf individueller Ebene ist hier im Gegensatz zu anderen Bereichen hoch.
Um festzustellen, dass das von der ÖVP eingeführte einkommensunabhängige Kinderbetreuungsgeld Schwelleneffekte produziert, muss nicht eine umfassende Studie in Auftrag gegeben werden. Dieser Umstand war immer bekannt.
Dort wo es möglich und sinnvoll ist, sollten Transparenz erhöht sowie Schwelleneffekte beseitigt werden. Am einfachsten wäre Letzteres möglicherweise zu erreichen indem Schritt für Schritt Geldleistungen durch Sachleistungen (gratis Kinderbetreuung) substituiert werden würden. Dies könnte zusätzliche positive Effekte mit sich bringen (bessere Chancengleichheit zwischen Frau und Mann etc.).
In welchen Bereichen es tatsächlich an Transparenz mangelt
Wenn wir in Österreich über Transparenz sprechen wollen, dann sollten wir einen Blick auf die Verteilung der Vermögen werfen. Hier geht die Transparenz, im Gegensatz zu anderen Bereichen, gegen Null. Dazu nur soviel: Neueste Erhebungen der Nationalbank (PDF) haben gezeigt, dass bei Immobilienerbschaften in Österreich ein Gini-Koeffizient von 0,94 vorliegt. Der Gini Koeffizient zeigt bei einem Wert von “0” eine absolut gleichmäßige Verteilung an (jede Person in Österreich würde in diesem Fall in etwa im selben Ausmaß Immobilienvermögen erben), ein Wert von“1” bedeutet hingegen absolute Ungleichheit (Eine Person in Österreich erbt das gesamte Immobilienvermögen, alle anderen erben praktisch nichts).
Alleine dieser Wert ist, im Gegensatz zur Tatsache, dass bei Sozialtransfers mit „Freigrenze“ Schwelleneffekten auftreten, tatsächlich eine neue Erkenntnis. Dort wo es möglich und sinnvoll ist, sollten Transparenz erhöht sowie Schwelleneffekte beseitigt werden (Zuverdienstgrenze beim Kinderbetreuungsgeld) . Dazu benötigen wir aber weder ein Transferkonto noch eine konstruierte Debatte über Leistungs- und Verteilungsgerechtigkeit.
Eine Frage von Kosten und Nutzen
Wenn das Transferkonto kommt, verursacht es Kosten. Die budgetären Mittel, die in die Erstellung eines solchen Kontos fließen würden, könnten (gerade in Zeiten bevorstehender, umfassender Budgetkonsolidierung) besser eingesetzt werden.
Zur Kritik an der Transferstudie des Grazer Joanneum Research
Im Gastkommentar werden drei zentrale Kritikpunkte an der Studie geäußert: Rechenfehler, absurde Annahmen und Schlussfolgerungen. Ich möchte in dieser ausführlicheren Replik zwei Dimensionen hinzufügen: wissenschaftlicher Anspruch und wissenschaftliche Unabhängigkeit. Diese Dimensionen sollen zeigen, warum ich die Studie als „unseriös“ erachte.
Zum wissenschaftlichen Anspruch und zur Unabhängigkeit
Schon seit längerer Zeit ist innerhalb der Wirtschaftswissenschaften der Trend in Richtung Auftragsforschung festzustellen. Viel zu oft lassen die Ergebnisse daraus sehr leicht auf die AuftraggeberInnen schließen. Interessensvertretungen (AK vs. WK) oder parteinahe Institutionen (Kummer vs. Karl-Renner) sind dabei besonders leicht anhand der Forschungsresultate zu identifizieren. Die Ökonomie ist als Sozialwissenschaft ein besonders umkämpftes Feld. Heterodoxe (oft fälschlich pauschal als „Linke“ bezeichnete) ÖkonomInnen können in etwa behaupten, Lohnzurückhaltung (Politik der zurückliegenden Jahrzehnte) sei wachstumshemmend, während ihre Opponentinnen aus dem Mainstream (orthodoxe ÖkonomInnen) schlicht und ergreifend das Gegenteil behaupten können. Beides ist, gegeben bestimmte Annahmen, (auch wissenschaftlich) grundsätzlich vertretbar.
Die Studie des Grazer Joanneum Research kann und darf daher nicht unabhängig von ihrer Auftraggeberin betrachtet werden. Deshalb richten sich die Vorwürfe auch nicht an eine bestimmte Person.
Wissenschaftlicher Anspruch und Unabhängigkeit sind zwar eng miteinander verbunden, doch ist es möglich, auch in politischer Abhängigkeit Ergebnisse so zu präsentieren, dass sie einem grundlegenden wissenschaftlichen Anspruch genügen und sich zu einem gewissen Grad von den AuftraggeberInnen zu emanzipieren. Genau diese Anforderung kann die Studie aber nicht erfüllen:
1) Eine Verteilungsstudie (und nichts anderes kann eine Transferstudie sein) muss notwendigerweise, zumal sie sich auf Beispiele konzentriert, mit empirischen Daten arbeiten. In der Studie selbst wird der EU SILC Datensatz , welcher sich für die Fragestellungen ausgezeichnet eignen würde, nur kurz verwendet. Statt mit diesen empirischen Daten weiterzuarbeiten, werden anschließend jedoch lieber aus der Luft gegriffene Beispiele konstruiert. Dabei spielt es für die AutorInnen keine Rolle ob diese Konstrukte in der Realität von Relevanz sind. Es wird nicht überprüft ob auch nur eine einzige Familie in der Steiermark bzw. in Österreich existiert, deren Lebenssituation mit einem dieser theoretischen Konstrukte halbwegs übereinstimmt. Hätten die AutorInnen dies gemacht, hätten sie beispielsweise dokumentieren müssen, dass lediglich 40 Kinder in der gesamten Steiermark in einer Kindergrippe untergebracht sind (vgl. Pirklbauer (2009)).
2) Die Präsentation der Ergebnisse sollte – auch wenn dies oft schwierig erscheint – in einer möglichst wertfreien Sprache erfolgen, schließlich handelt es sich um wissenschaftliche Erkenntnisse. Ausdrücke wie „gerecht“ oder „ungerecht“ sollten vorsichtig eingesetzt und möglichst vermieden werden. Denn im Gegensatz zu Begriffen wie „egalitär“ oder „weniger egalitär“ behandeln sie subjektive Eindrücke wie objektive Gegebenheiten. In wissenschaftlichen Studien sind solche Begriffe daher Fehl am Platz. Diese gehören vielmehr in die politische Diskussion, in Kommentare oder Artikel in Zeitungen (Hier kann jede Person für sich entscheiden, was „gerecht“ ist und was nicht). Was das Wort „Sektempfang“ in einer Verteilungsstudie zu suchen hat, bleibt das Geheimnis der AutorInnen. Ein Auszug aus der Kurzfassung der Transferstudie des Grazer Joanneum Research soll dies kurz illustrieren.
„Die Frage „Wozu überhaupt noch arbeiten“ bekommt angesichts dieser Zahlen einen anderen Klang. Es handelt sich dabei nicht mehr nur um das Raunzen von zwei Wohlsituierten, die sich bei einem Sektempfang darüber beklagen, dass sie mit einem zusätzlichen Aufsichtsratsmandat zur Hälfte für den Fiskus arbeiten. Es wird ein ehrlicher Ruf der Verzweiflung von Familien in der Gründungsphase, wenn es finanziell überall am meisten mangelt, es aber aussichtslos erscheint, sich durch eigene Leistung von der derzeitigen Situation zu verbessern. Gerade in der Lebensphase mit einer naturgegeben hohen Leistungsbereitschaft, wird es jungen Familien verunmöglicht, etwas Aufzubauen, stattdessen wird Mehrleistung mit einem Grenzsteuersatz von 100 % bestraft.“ (Prettenthaler (2008))
Zunächst wird hier ein selbst konstruierter (empirisch nicht beobachteter, tatsächlicher) Ausnahmefall generalisiert, womit suggeriert wird, dass ein Großteil der Familien sämtliches Einkommen, das über einen bestimmten Betrag hinausgeht zu 100% wieder abgeben muss, was schlicht und ergreifend falsch ist. Selbst wenn diese Behauptung zutreffend wäre, genügt die Sprache hier wissenschaftlichen Mindeststandards nicht.
Ein weiteres Beispiel für sprachliche Dramaturgie, statt nüchterner Tatsachenfeststellung findet sich in folgender Passage, die nicht weiter kommentiert werden soll.
„ „Wildwuchs“ ist eine treffende Bezeichnung für diesen wenig wünschenswerten Zustand eines Systems, das sich ständig weiter verzweigt und in dem keine Woche vergeht, in der nicht irgendwelche Zuschüsse, sozial gestaffelte Tarifsenkungen oder ähnliches gefordert und meistens unter völliger Abwesenheit eines analytischen Blicks auf das Gesamtsystem auch implementiert wird. „Wild“ trifft als Bezeichnung für dieses System deshalb zu, weil es völlig unkontrolliert ist, und weil auch keine Institution erkennbar ist, die sich dieses Problems mit steuernder Absicht annimmt. Weiters trifft als Bezeichnung dafür der Begriff „Wuchs“ zu, weil alle Hinzufügungen historisch durchaus nachvollziehbar sind, das Ganze aber mittlerweile eine quantitative Dimension angenommen hat, die auch das ursprüngliche Ziel, mehr soziale Gerechtigkeit herzustellen, aus den Augen verloren hat und mittlerweile für beträchtliche Schwellenphänomene, Armutsfallen und ungerechtfertigte Benachteiligungen verantwortlich ist.“ (Prettenthaler (2008))
3) Zu guter Letzt ist ein zentraler Anspruch jedweder wissenschaftlichen Arbeit die Reduktion von Komplexität bzw. die Aussonderung von Redundanzen, um die wichtigsten Ergebnisse klar und verständlich für eine möglichst große Zahl an Leserinnen und Leser bereitzustellen. Hier liegt ein weiteres Manko der Studie begraben. Der angesprochene „Schwelleneffekt“ (mehr Brutto weniger Netto) wird nämlich tatsächlich, wenn überhaupt, von zwei Transfers verursacht: Wohnbeihilfe und Kinderbetreuungsgeld. Anstatt dieses Ergebnis aber zu dokumentieren wird nicht nur einfach darüber hinweg gegangen, sondern es werden zusätzliche Transfers in die Analyse einbezogen, die quantitativ praktisch unbedeutend sind. So werden beispielsweise „Zuschüsse zu Turnusse der Kindererholung in Ferien“ sowie „Förderung der Kindererholungsaktion“ angegeben. Dieser Betrag ist jährlich in jedem Fall mit 450 Euro gedeckelt. Dieser Zuschuss steigert das monatlich verfügbare Einkommen also um maximal 37,5 Euro (zum Vergleich – das Kinderbetreuungsgeld geht in die Transferbilanz mit 436 Euro im Monat ein). Betrachten wir die „Förderung der Kindererholungsaktion“ isoliert, sprechen wir von einer monatlichen Subvention von maximal 8,33 Euro. Wenn es außerdem darum geht Anreizwirkungen zu untersuchen, ist es fragwürdig ob etwa der Kinderzuschuss wirklich ein Anreizproblem darstellt. Dieser wird für bedürftige Eltern nämlich ausschließlich im ersten Lebensjahr des Kindes bereitgestellt (Näheres dazu unter Annahmen).
Dramatisierende Sprache, Generalisierung von empirisch nicht beobachtbaren Ausnahmefällen sowie mangelnde Fokussierung auf die zentralen Ergebnisse, dokumentieren klar und deutlich die Seriosität dieser Studie.
Zu den absurden Annahmen und den dazugehörigen Schlussfolgerungen
Blenden wir vorübergehend alle oben beschriebenen Probleme aus und widmen uns den Annahmen, die in der Studie offenbar getroffen, aber nie thematisiert werden. Wenn in der ökonomischen Forschung Anreizwirkungen im Zentrum des Interesses stehen ist es notwendig ein Modell zu formulieren. Es muss sich dabei nicht um ein formales Modell handeln, aber ich benötige einen Rahmen, in dem ich mich in meiner Argumentation bewegen kann. Die Joanneum Studie kennt als einzige Anreizwirkung für die Individuen bzw. Familien offenbar das aktuelle (in diesem einem Monat, also „heute“) Nettoeinkommen inkl. Transfers. Damit schreibt sie den Akteuren implizit ganz bestimmte Verhaltensannahmen zu und trifft nebenbei auch Annahmen über das ökonomische Umfeld, in dem sich die Individuen bewegen. Diese Vorgehensweise ist in der Ökonomie geläufig, sie muss aber in jeder Studie dokumentiert und begründet werden. Es folgt nun eine (nicht vollständige) Aufzählung einiger Annahmen, die hier still und heimlich getroffen wurden.
1) Es existiert keine bzw. lediglich friktionelle Arbeitslosigkeit
Ein Individuum kann nicht mehr arbeiten bzw. eine besser bezahlte Stelle annehmen, wenn keine entsprechende Nachfrage dafür existiert. Bei hoher Arbeitslosigkeit sind die Erwerbschancen entsprechend geringer. Viel bedeutender erscheint aber die Tatsache, dass bei hoher Arbeitslosigkeit die Verhandlungsmacht der ArbeitgeberInnenseite grundsätzlich besser ist. Das strategische Verhalten im Hinblick auf die optimale Anpassung von Arbeitszeit und Arbeitslohn (sodass bei möglichst geringem Arbeitseinsatz noch möglichst viel an Transferleistungen aus dem System abgeschöpft werden kann) wird somit stark eingeschränkt. Grundsätzlich unterstellt die Studie ein neoklassisches Arbeitsmarktmodell, mit all den Folgen für die Bestimmung von Wohlstand und Wachstum (die hier aus Platzgründen nicht weiter ausgeführt werden können).
2) Die Individuen sind extrem kurzfristig ausgerichtet (sie kennen kein „Morgen“)
Mit Ausnahme der Wohnbeihilfe, knüpfen viele, als problematisch beschriebene, Transfers an den ersten zwei bis drei Lebensjahren der Kinder an. Für das Kinderbetreuungsgeld wird dabei grundsätzlich die Variante (30+6) gewählt. Warum geht aus dem Text nicht hervor. Der Zuschuss zur Kindergrippe ist ebenfalls beschränkt. Dieser steht, sofern die Einkommensvoraussetzungen erfüllt sind, lediglich bis zum 3. Lebensjahr des Kindes zur Verfügung. Der Kinderzuschuss wird überhaupt bloß im ersten Lebensjahr ausbezahlt. Wir wissen nun aber, dass die Kosten für Kinder mit zunehmendem Lebensalter tendenziell steigen (Schulbildung, Mobilität etc.). Spätestens mit der Vollendung des 3. Lebensjahres fallen die entsprechenden Zuschüsse weg. Bemühen wir an dieser Stelle ausnahmsweise ein populärwissenschaftliches Beispiel zur Verdeutlichung. „Eine vollzeitbeschäftigte Supermarkt Kassiererin bezieht Kinderbetreuungsgeld. Mit einem Bruttogehalt von 1.250 Euro liegt sie knapp unter der jährlichen Zuverdienstgrenze von 16.200 Euro. Zum 2. Geburtstag ihres Kindes bekommt sie einen Job als Filialleiterin mit einem monatlichen Salär von 1.800 Euro Brutto angeboten. Sie würde einen (großen Teil) des zusätzlichen Einkommens abgeben, da sie die Zuverdienstgrenze für das Kinderbetreuungsgeld überschreitet. Die Studie suggeriert, dass sie diesen Job nicht annehmen wird. Sie muss mehr arbeiten, das verfügbare Einkommen steigt jedoch nicht oder nur sehr gering (im theoretischen Extremfall könnte es sogar leicht zurückgehen). Was nun aber passiert am 3. Geburtstag des Kindes? Das Kinderbetreuungsgeld ist weg und sie ist hat noch immer den schlechter bezahlten Job, die Stelle an der Filialleitung hat mittlerweile eine andere Person angenommen. Ihre Chefin ist nicht gerade gut auf sie zu sprechen, weil sie vor einem Jahr von ihr im Stich gelassen wurde. Mit einer Beförderung könnte es auf Zeit womöglich nicht mehr wirklich gut aussehen. Dies ist unangenehm, da gerade in den nächsten Jahren die Kosten für das Kind eher ansteigen werden.“
Sobald Familien über einen längeren Zyklus (bis zum 15-18 Geburtstag des Kindes/der Kinder) verglichen werden, spielen die oben beschriebenen Effekte praktisch keinerlei Rolle mehr. Ich würde hier die Annahme treffen, dass Familien nicht nur bis zum 3. Lebensjahr des Kindes/der Kinder sondern eben darüber hinaus denken. In meiner Vorstellung (Modell) würden die Schwelleneffekte daher kaum eine Rolle spielen – wie bereits gesagt, alles eine Frage der Annahmen. Welche „plausibler“ sind, muss jede Person für sich selbst bewerten, sofern es nicht durch Befragung der Familien zu ermitteln wäre.
3) Eltern (insb. Mütter) sind indifferent zwischen höheren Markteinkommen und einem „Mehr“ an Kindern (und somit einem „Mehr“ an Transfers)
Gehen wir noch mal zurück zu unserer Supermarkt Kassiererin, zu jenem Augenblick an dem sie sich entscheiden muss zwischen besser bezahltem Job und weniger Arbeit, dafür mehr Transfers. Neben dem kurzfristigen Horizont, wäre auch eine andere Annahme denkbar. Insbesondere Mütter sind möglicherweise indifferent zwischen einem höheren Markteinkommen und einem „Mehr“ an Kindern und somit auch an Transfers. Statt den besser bezahlten Job anzunehmen, entscheiden sich Menschen mit niedrigem Einkommen systematisch dafür Kinder „zu produzieren“. Dies wird in der Joanneum Studie tatsächlich als Problem identifiziert (Anm.: Ein Blick in Guger (2009) wäre ausreichend gewesen, um festzustellen, dass die Anzahl der Kinder mit steigendem Haushaltseinkommen zu- und nicht abnimmt). Über die tatsächlichen Kosten (über den Lebenszyklus) eines zusätzlichen Kindes machen sich die Eltern keine Gedanken. Sie beziehen lediglich die Zuschüsse, die großteils innerhalb der ersten 3 Lebensjahre des jeweiligen Kindes anfallen, in ihre Maximierungsüberlegungen ein. 2 Jahre nach der Geburt des Kindes, wird eine neue Entscheidung zwischen mehr oder besser bezahlter Arbeit (sofern es der Arbeitsmarkt überhaupt zulässt – mit steigendem Alter, steigen die Chancen am Arbeitsmarkt ja nicht gerade an) oder aber einer neuerlichen Schwangerschaft (diese dauert in der Regel 9 Monate) fällig.
4) Die Menschen kennen sämtliche Transfers und nehmen diese auch in Anspruch
Damit Anreizeffekte überhaupt eine Rolle spielen können, müssen die Individuen die entsprechenden Möglichkeiten überhaupt erst kennen. Einerseits wird nun aber in der Studie behauptet, dass System sei intransparent und kompliziert und selbst „eine Dissertantin, ihre halbe Dissertationszeit benötigt, um das System halbwegs zu durchschauen“ (vgl. Prettentaler im Standardkommentar vom 22.10.09), andererseits gehen die AutorInnen dennoch a priori davon aus, dass
a) Alle Individuen sämtliche Transfers kennen und auch in Anspruch nehmen
b) Die budgetären Mitteln auf den jeweiligen Ebenen ausreichen um all die Anträge zu befriedigen
Ich möchte diese Kritik nicht falsch verstanden wissen. Intransparenz im Angebot von Sozialleistungen kann ökonomisch unmöglich gewünscht sein. Aber strategisches Verhalten (wie es in der Studie unterstellt wird) bedingt ein gewisses Ausmaß an Wissen. Es ist logisch unmöglich, dass die Menschen das System nicht „kennen“, sich aber trotzdem strategisch so verhalten, also ob sie es „kennen würden“.
Wenn die AutorInnen feststellen, dass es aufgrund der zahlreichen Transfers, der komplizierten Berechnungsmethoden für die Anspruchsberechtigung usw. zu Unklarheiten kommt, so wäre es wiederum von ökonomischen Interesse gewesen, wie viele Menschen tatsächlich auf eine bestimmte Leistung Anspruch hätten, diese aber eben nicht geltend machen. Ähnliche Phänomene sehen wir ja bei der Negativsteuer, wo beinahe 50 % der Anspruchsberechtigten keinen Antrag stellen (siehe Daten zur ANV in der Lohnsteuerstatistik 2005).
Zu der wissenschaftlichen Notwendigkeit von Annahmen in der Ökonomie
Wie ich zu zeigen versuchte, beruht die Studie auf sehr speziellen – eigentlich„absurden“ – Annahmen. Es existieren bedeutendere ökonomische Untersuchungen, die Annahmen verwenden, welche Viele als nicht minder „absurd“ bezeichnen würden. In qualitativ hochwertigen, seriösen Studien werden diese Annahmen jedoch klar und deutliche dargelegt und erörtert. Verschiedene Leute können dann anderer Auffassung sein, die Annahmen kritisieren und einen Gegenvorschlag erarbeiten. Sie aber ex ante nicht darzulegen, ist sowohl aus wissenschaftlicher als auch aus ethischer Perspektive grob fahrlässig.
Zu den Schlussfolgerungen
Die Schlussfolgerungen ergeben sich in der Studie von Prettenthaler et al. nicht aus empirischen Untersuchungen sondern direkt aus den getroffenen Annahmen. Die AutorInnen versuchen in ihrem Resümee, folgende Fragen zu beantworten.
Respektiert es (das (Transfer)System) die Leistungsanreize der Individuen und erlaubt somit eine ausreichende Produktion von Wohlstand, der umverteilt werden kann?
Hier wird ernsthaft behauptet, dass diese Frage eindeutig mit „Nein“ zu beantworten ist, mit der Begründung, dass sich Schwellenphänomene für viele Familientypen ergeben. Dass diese großteils von Kinderbetreuungsgeld und Wohnbeihilfe erzeugt werden, wird genauso verschwiegen, wie die sehr speziellen Annahmen (siehe oben), die hier implizit über die Verhaltensweise der Individuen getroffen wurden.
Gibt es einzelne Gruppen, deren Klage, im System ungerecht behandelt zu werden, durch objektive Fakten belegbar ist?
Hier möchte ich den Schlusssatz der Studie zitieren: „Die dritte Frage [Anm.: obige Frage] ist eindeutig mit Ja zu beantworten.“ (Prettenthaler (2009)). Auch hier glauben die AutorInnen offensichtlich eine eindeutige Antwort gefunden zu haben. Ich darf an dieser Stelle nochmals in Erinnerung rufen: Es ist weder bekannt noch wurde überprüft, ob es in der Steiermark (bzw. Österreich) auch nur eine einzige Familie gibt, deren Lebensrealität mit jener von den konstruierten Pseudofamilien halbwegs übereinstimmt. Es wurde in keiner Familie nachgefragt, ob beispielsweise die Mutter schon einmal einen besseren Job ausgeschlagen hat, weil sie dadurch kurzfristig Transfereinbußen beim Kinderbetreuungsgeld hätte hinnehmen müssen.
Zu den Rechenfehlern
Oftmals ist es populär eine Studie schlicht und ergreifend aufgrund von einfachen Rechenfehlern anzugreifen. Dies ist aber an dieser Stelle nicht mein Ziel. Rechenfehler können immer vorkommen. Angesichts der haarsträubenden Annahmen, Schlussfolgerungen sowie der mangelhaften Präsentation, nehmen sie höchstens eine Nebenrolle ein. Nichtsdestotrotz werden in der Studie einige Fehler gemacht, von welchen einige kurz aufgezeigt werden sollen.
Die Studie liegt in einer Kurz- sowie einer Langfassung vor (Prettenthaler (2008), Prettenthaler (2009)). Nach ausführlicher Kritik der Berechnungen in der Kurzfassung haben die AutorInnen offenbar den Versuch unternommen, diese zu verbessern. Besonders eklatant Unterschiede ergeben sich bereits im zentralen 3-Familien-Beispiel der Studie zwischen Kurz- und Langfassung.
Es ergeben sich Differenzen in den Berechnungen für ein und denselben Sachverhalt von über 21%! Eine Klarstellung wie diese eklatanten Unterschiede entstehen können, fehlt in der Langfassung genauso wie eine exakte Dokumentation der Berechnung.
Außerdem werden die Steuerreform 2009, die 13. Familienbeihilfe sowie der AlleinverdienerInnenabsetzbetrag in den Berechnungen nicht berücksichtigt.
Der „Trick“ mit dem 13. und 14. Gehalt
Eine wichtige Erkenntnis einer Sozialtransferstudie, wird normalerweise aus dem Verhältnis von Markteinkommen zu Transferleistungen gewonnen. Guger (2009) berechnet beispielsweise den Anteil der Sozialtransfers am verfügbaren Einkommen nach unterschiedlichen Einkommensklassen. Die Joanneum Studie nimmt als Basis Bruttomonatseinkommen, was prinzipiell für externes Publikum anschaulicher sein mag, im speziellen Fall von Österreich aufgrund der begünstigten Besteuerung des 13. und 14. Gehalts aber irreführend ist. Die wichtigsten Transfers (Kinderbetreuungsgeld, Wohnbeihilfe etc.), mit Ausnahme der 13. Familienbeihilfe – die aber in der Studie ohnehin nicht berücksichtigt wird – werden nämlich monatlich ausbezahlt. Das verfügbare monatliche Einkommen muss daher das 13. und 14. Gehalt aliquot beinhalten, um einen sinnvollen Vergleich mit den Transferleistungen anstellen zu können. Außerdem sollte es klar sein, dass durch eine solche Darstellung, 1/7 (2/14) des tatsächlichen Jahresgehalts ausgeblendet wird. Dies lässt die Unterschiede in den (vermeintlichen) monatlich verfügbaren Nettoeinkommen inkl. Transfers absolut dementsprechend „kleiner aussehen“, als sie tatsächlich sind (um etwa 14 %).
Außerdem spielt auch die Milderung der Progression bei den hohen Einkommen eine zentrale Rolle. Der effektive Spitzensteuersatz liegt in Österreich bei 43,7 % und nicht bei 50 %. Nachdem die Schwelleneffekte (ausgelöst durch Wohnbeihilfe und Kinderbetreuungsgeld) aber deutlich tiefer liegen, macht es für eine reine Betrachtung von eben diesen, keine großen Unterschied – wohl aber für die Analyse des Gesamtsystems.
[…] Infos in der Blogosphäre ► Ein umfangreicher und detaillierter Blogartikel zum fragwürdigen “Transferkonto” und zur ebenfalls fragwürdigen Wissenschaftlichkeit der Joanneum Research Studie. Zu finden am […]