Dieser Text von Lukas Oberndorfer* ist in der Nr. 11 des Prager Frühling erschienen. Eine Langfassung, die auch den jüngst beschlossenen Fiskalpakt kommentiert, erscheint im Sammelband „Die EU in der Krise“.
Der Syntagma-Platz in Athen, die Puerta del Sol in Madrid und der Stadtteil Tottenham in London stehen emblematisch für eine Renaissance der Kämpfe in Europa. Besetzung, Protest, Aufstand – die Gespenster des Politischen scheinen erneut die europäische Bühne betreten zu haben. Die Hegemonie des Neoliberalismus ist brüchig geworden. Das bedeutet nicht, dass die Herrschaft neoliberaler Politik durchbrochen ist – nichts beweist ihre Dominanz anschaulicher als die europaweiten Austeritäts- und Sparprogramme – sondern, dass ihre Durchsetzung immer weniger auf den Konsens der Menschen trifft. Dass die Praxen zur Aufrechterhaltung der Machtverhältnisse neu zusammengesetzt werden, ist nicht nur den Bildern der Aufstandsbekämpfung zu entnehmen. So meinte der britische Premier David Cameron im Anschluss an die Vorfälle in London: „Wir brauchen einen Gegenschlag (…) Was auch immer die Polizei für nötig hält, wird ihr vom Gesetzgeber auch zur Verfügung gestellt.“1 Die hegemoniale Phase des Neoliberalismus scheint nun auch im imperialen Zentrum zu Ende zu gehen2: Zu seiner Aufrechterhaltung soll Zwang die wegbrechende Zustimmung ersetzen.
Autoritäres Wirtschaftsrecht
Dieser Umstand lässt sich nicht nur an den Gewaltmitteln ablesen, die in den Städten gegen Menschen zum Einsatz kamen, sondern auch an Maßnahmen auf höherer Maßstabsebene. Zwar schmiedet das europäische Staatsapparate- und Medienensemble an einer alternativen Erzählung, die aufs Neue den Alltagsverstand erobern soll: Die multiple Krise des neoliberalen Kapitalismus wird als eine der Staatsschulden und der mangelnden Wettbewerbsfähigkeit re-interpretiert. Doch für den Fall, dass das reaktualisierte Narrativ nicht greift, ist in den letzten Monaten eine beachtliche Apparatur an Zwangsmaßnahmen im Feld des europäischen Wirtschaftsrechts in Stellung gebracht worden. Mittels der als Rettungsschirm bekannt gewordenen European Financial Stability Facility (EFSF) stellen die europäischen Regierungen jenen Ländern, deren Re-Finanzierungskosten durch Krise und koordinierte Spekulation explodiert sind, Kredite zur Verfügung. Diese sind jedoch an eine „strikte Konditionalität“ gebunden. Nur gegen Umsetzung der mittlerweile allgegenwärtigen Strukturanpassungsprogramme werden die entsprechenden Geldmittel zu Verfügung gestellt. Nicht die gern bemühte europäische Solidarität treibt die Geberländer dazu an. Vielmehr sollen die Kredite garantieren, dass alte Schulden bezahlt werden – bei Banken der europäischen Exportweltmeister und Mitverursachern der Krise (vor allem Deutschland und Österreich). Allein die deutschen Banken halten griechische Staatsanleihen in der Höhe von mehr als 15 Milliarden Euro. Während sich die „aufgeklärte“ Zivilgesellschaft und ihre Intellektuellen3 noch am Euro-Plus-Pakt abarbeiten, einem unverbindlichen Thesenpapier aller europäischen Staats- und Regierungschefs zur Förderung der „europäischen Wettbewerbsfähigkeit“, hat sich im Code der europäischen Rechtsform, ein beachtliches Paket zur Verschärfung des neoliberalen Konstitutionalismus zusammengeschnürt. Mit dem als „Sixpack“ bezeichneten Bündel aus fünf Verordnungen und einer Richtlinie möchte die Europäische Kommission im Bündnis mit den Staats- und Regierungschefs erstens den 1997 beschlossen Stabilitäts- und Wachstumspakt radikalisieren, zweitens durch ein Verfahren zur „Vermeidung und Korrektur makroökonomischer Ungleichgewichte“ ergänzen und drittens entsprechende Sanktionen verschärfen beziehungsweise einführen. Darüber hinaus wird die Rolle der Kommission in den entsprechenden Verfahren massiv aufgewertet: In Zukunft soll die Brüsseler Exekutive Entscheidungen, insbesondere auch die Verhängung von Sanktionen, de facto alleine treffen („Reverse Majority Rule“).
Hegemonie und Rechtsform
Dass die europäische Integrationsweise durch den Einbau von autoritären Regierungstechnologien von ihrem hegemonialen Pfad abkommt, lässt sich auch anhand der Art und Weise zeigen, wie die neuen Maßnahmen eingeführt werden sollen. Diese verstößt nämlich gegen zentrale Kategorien der europäischen Rechtsform. Unter bürgerlich demokratischen Betriebstemperaturen werden gesellschaftliche Kräfteverhältnisse in den Verfahren der Rechtsform in juristische übersetzt und hegemonial eingebunden. Die juridischen Intellektuellen, etwa des Europäischen Gerichtshofs, werden so zu Organisator_innen eines feingliedrigen rechtsförmigen Konsenses, der aufeinandertreffende Interessen in Form von Durchbrüchen und darauf folgende Zugeständnisse in einem langwierigen Prozess zu einem hegemonialen Projekt zusammenfügt. Eine der zentralen Charakteristika der Rechtsform ist daher, dass sie Hegemonie durch die Beachtung von Verfahren herstellt. Genau dies ist bei den „Gesetzen“, mit denen die europäischen Regierungen den neoliberalen Konstitutionalismus verschärfen wollen, nicht der Fall. So verstößt das „Economic Governance Paket“ gegen die europäischen Verträge, da die Kompetenzgrundlage4 auf welche die Kommission ihre Vorschläge gestützt hat, weder die neuen Sanktionen noch die Reverse Majority Rule vorsehen5. Während der Vertrag von Maastricht Anfang der 1990er noch die Mehrheiten für eine Wirtschafts- und Währungsunion erreichen konnte, die er auf die Einhaltung der Grundsätze „stabile Preise, gesunde öffentliche Finanzen und monetäre Rahmenbedingungen sowie eine dauerhaft finanzierbare Zahlungsbilanz“6 festlegte, ist die neoliberale Hegemonie heute brüchig: Für eine entsprechende Vertragsänderung sind die Mehrheiten nicht gesichert – daher wird sie umgangen.
Gespenster des Politischen
Die Neuzusammensetzung der Praxen zur Aufrechterhaltung der Machtverhältnisse hat durch die Dynamik der Krise und die Renaissance der Kämpfe an Geschwindigkeit gewonnen. Der Umstand, dass die autoritäre Wende des neoliberalen Projektes auch auf dem europäischen Terrain und unter Einsatz von rechtsförmigen Attrappen vollzogen wird, fordert die Gespenster des Politischen heraus. Wollen die Bewegungen nicht Gefahr laufen, dass sich nationalistische Kräfte in sie einschreiben und dadurch ihr Einbau in eine autoritäre Wettbewerbsstaatlichkeit erleichtert wird, brauchen sie auch ein transnationales Programm der Transformation. Die drei zentralen Projekte des Neoliberalismus sollten dabei im Fokus stehen: Entdemokratisierung, Um-Verteilung und Konstitutionalisierung eines unbeschränkten Eigentumsrechts. Ein Bruch mit der verfassungsrechtlichen Immunisierung der Politik des absoluten Eigentums hätte die Streichung der Grundsätze (siehe oben) und Zielregime (Maastricht-Kriterien; Indikatoren der Economic Governance) der Wirtschafts- und Währungsunion zur Voraussetzung. Die sogenannten Marktfreiheiten (für Waren, Dienstleistungen, Kapital und Arbeit) müssten von einem System, das ihre Beschränkung verbietet, zu Ansprüchen gegen Diskriminierung umgebaut werden. Die Neuerfindung des Öffentlichen durch eine gesellschaftlich verwaltetete „Infrastruktur des guten Lebens aller“ sollte von allen Blockaden des Wirtschaftsrechts (insbesondere des Vergabe- und Beihilfenrechts) befreit werden. Die durch den Steuerwettbewerb in Europa befeuerte Umverteilung, die etwa dazu geführt hat, dass Unternehmen im Schnitt weniger als 10% Steuern zahlen, gilt es durch einheitliche Steuern für Finanzmärkte (Finanztransaktionssteuer, Bankenabgabe etc), Unternehmen (Körperschaftssteuer) und Vermögen (Kapitalertragsteuer) zu beenden. Allein die Hebung der europäischen Demokratie auf bürgerliches Niveau (eine umfassende europäische Legislative bestimmt eine entsprechende Exekutive und kann eine Änderung „der Verfassung“ beschließen) hätte den Effekt, dass die Konstitution der Menschen zum Wettbewerbs-„Volk als Nation“ („wir Deutsche“) durch nationalstaatliche Politiker_innen erschwert wäre und sich gleichzeitig ein transnationaler Resonanzraum für weitergehende Forderungen der Bewegungen konstituieren würde. Syntagma, Puerta del Sol, Tottenham haben das Politische zurück auf die Plätze und Viertel der Städte gebracht – nach Praxen und Transformationsperspektiven zum Spuk auf europäischer Maßstabsebene muss noch gesucht werden.
*Lukas Oberndorfer arbeitet zu einer kritischen Theorie & Empirie der europäischen Integration und des Europarechts. Er ist Redaktionsmitglied des juridikum (zeitschrift für kritik|recht|gesellschaft) und Kuratoriumsmitglied des Institut Solidarische Moderne.
1 Spiegel-Online, Krawalle in England – Cameron droht Randalierern mit Gegenschlag, 10.08.2011
2 Anschaulich wird dies am bürgerlichen Selbstzweifel mit dem Neoliberalismus auf das falsche Pferd gesetzt zu haben. Siehe dazu Schirrmacher, „Ich beginne zu glauben, dass die Linke recht hat“, FAZ, 15.8.2011.
3 Habermas, Ein Pakt für oder gegen Europa?, Vortrag zur Diskussion am 6. April 2011, European Council on Foreign Realtions
4 Art. 121, 126 und 136 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV)
5 Siehe für eine detaillierte Darstellung Oberndorfer, Eine Krisenerzählung ohne Kompetenz – Economic Governance rechtswidrig?, infobrief eu & international 3/2011
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