Die Transformation der roten Wählerschaft in Wien

Die SPÖ wird nicht mehr von den gleichen Menschen gewählt wie vor zehn oder 20 Jahren, das ist allen BeobachterInnen klar. Eine Analyse der SPÖ Stimmen in den einzelnen Bezirken bei allen Wahlen seit 1991 unterstreicht die Richtigkeit dieser Beobachtung. Neben blauen Verlusten in den Flächenbezirken und bürgerlichen Gewinnen in den Innenbezirken gibt es jedoch noch einen stabilen roten Kern. Im Gegensatz zu früher ist die SPÖ heute in allen Bezirken ungefähr gleich stark. 

Nikolaus Kowall

Floridsdorf war schon rot als es noch in Niederösterreich lag und Wien noch schwarz war. Noch vor der Eingemeindung im Jahr 1905 vertrat Karl Seitz Floridsdorf im NÖ Landtag. 1918 wurde Wien rot und Seitz ein paar Jahre später Wiener Bürgermeister. Einige in Floridsdorf meinen deshalb bis heute, eigentlich habe sich Floridsdorf Wien einverleibt, nicht umgekehrt. Seitz war nämlich der rote Wiener Bürgermeister der ersten Republik schlechthin, bis zu seiner Amtsenthebung und Verhaftung im Februar 1934. Im Bürgerkrieg zählte die seinerzeitge Arbeiterhochburg Floridsdorf 71 Tote. Es ist auch der Bezirk, wo der spätere Bürgermeister und Bundespräsident Franz Jonas Bezirksvorsteher war, während Hannes Androsch als Obmann des Verbands sozialistischer Mittelschüler fungierte. Floridsdorf beherbergt zahlreiche Gemeindebauten, darunter traditionelle wie den Karl-Seitz Hof und gigantische wie die Großfeldsiedlung. Kurz, neben Favoriten ist Floridsdorf wohl das Pflaster mit der reichhaltigsten sozialdemokratischen Historie in Wien.

2015 war die SPÖ erstmals nur noch zweite Kraft in Floridsdorf und ist mit 39 Prozent dort heute nicht stärker als in Mariahilf, ein Bezirk der seit 1945 öfters schwarz als rot regiert war. Vergleichbar ist dieser Einbruch der SPÖ mit jenem in der ebenfalls traditionsreichen SPÖ-Hochburg Simmering. Die Partei erreichte in Simmering bei den Gemeinderatswahlen 1991, 1996, 2001 und 2005 ihr jeweils bestes Ergebnis, 2010 immerhin noch ihr zweitbestes. Heute liegt Simmering mit 40,3 Prozent nur noch auf Platz 10 der besten SPÖ-Bezirksergebnisse in Wien, Floridsdorf auf Platz 12. Das führt zur naheliegenden These Nr.1:

  1. Die SPÖ hat in den traditionellen Hochburgen stark eingebüßt

Die Analyse beginnt mit den Gemeinderatswahlen 1991[1]. Die Wahl bedeutete bereits einen merklichen Einbruch für die SPÖ in Wien um sieben Prozentpunkte gegenüber 1987 und den Verlust der absoluten Stimmenmehrheit. 1991 war quasi die erste Wahl, bei der die Nachkriegswelt der SPÖ Wien Risse bekam. Die ÖVP Wien hatte im Gegensatz zur SPÖ bereits 1987 Richtung FPÖ Federn lassen müssen. Fünf Bezirke erreichten 1991 noch ein SPÖ-Ergebnis von über 55 Prozent, nämlich Favoriten, Simmering, die Brigittenau, Floridsdorf und die Donaustadt. Diese Bezirke werden manchmal auch als „Tangente“ bezeichnet.[2] Der SPÖ-Trend in diesen Bezirken war bei allen sechs Wahlen zwischen 1991 und 2015 sehr ähnlich.

Anteil der SPÖ-Stimmen in der Tangente 1991-2015

tangente

 

Im Jahr 1996 verlor die SPÖ nochmals neun Prozentpunkte (39%). Die Bastion hatte keine Risse mehr sondern war eingerissen, erstmals seit 1945 wurde ein Koalitionspartner notwendig. Die Partei erlangte in keinem Bezirk die absolute Mehrheit, aber die Tangente bildete nach wie vor die Top-5 der besten Bezirksergebnisse. Im Jahr 2001 war bereits die schwarz-blaue Bundesregierung im Amt und Michael Häupl feierte mit der Rückeroberung der absoluten Mandatsmehrheit (47% der Stimmen) seinen größten Triumph. Die TOP-5 Ergebnisse verzeichneten wieder die Bezirke der Tangente, alle mit absoluter Stimmenmehrheit. Im Jahr 2005 konnte die SPÖ Wien mit 49% sogar noch nachlegen. Die Tangente zeichnete wieder für die TOP-5 Ergebnisse verantwortlich, durchgehend mit Ergebnissen über 55 Prozent. Die Wahl 2005 lieferte fast identische Resultate wie 1991, die höchste Stimmabweichung die ein Bezirk zum Resultat von 1991 erreichte beträgt 2,6 Prozentpunkte. 2005 war die alte Bastion mit Rissen wieder hergestellt. Im Jahr 2010 verlor die SPÖ Wien wieder fünf Prozentpunkte und erreichte in keinem einzigen Bezirk die absolute Mehrheit. Am meisten verlor sie in den fünf Tangenten-Bezirken. Floridsdorf flog erstmals aus den TOP-5 der besten Ergebnisse und die Brigittenau schob sich auf Platz 1 vor Simmering. Der wirkliche Umbruch fand aber 2015 statt, als die SPÖ Wien wiederum in den Tangente-Bezirken am meisten verlor: Bis auf die Brigittenau, die ja stärker innerstädtischen Charakter hat als der Rest, flog die gesamte Tangente aus den Top 5. In Simmering ist die SPÖ innerhalb von zehn Jahren von 60,8 auf 40,3 Prozent zurückgefallen.

  1. Die SPÖ hat in den innerstädtischen Bezirken abgeräumt

Die SPÖ hat 2005 ihren Zustand als Bastion mit Rissen restauriert, bis 2015 jedoch wieder zehn Prozentpunkte verloren. Es ist interessant alle Bezirke zu identifizieren, in denen die SPÖ in diesem Zeitraum nicht verloren sondern gewonnen hat. Das sind die Innere Stadt, die Wieden, Mariahilf, Neubau, die Josefstadt, der Alsergrund und Währing[3], also erhebliche Teile des innerstädtischen Zentrums (plus Währing). Im Jahr 1991, als die Grünen noch wenige waren und es weder LIF noch NEOS gab, erreichte die SPÖ in diesen Bezirken 25 bis 35 Prozent. Als Grüne und LIF 1996 als starke Konkurrenz auftauchten, brach der Anteil der SPÖ in den innerstädtischen Bezirken auf unter 30 Prozent ein. In der schwarz-blauen Periode konnte die SPÖ bis 2005 die soliden Ergebnisse von 1991 wieder herstellen. Es wurde bereits angemerkt, dass 1991 und 2005 in allen Bezirken faktisch identische Wahlergebnisse mit sich brachte. Faszinierender Weise setzte sich der positive Trend für die SPÖ in den innerstädtischen Bezirken gegen den wienweiten Trend 2010 fort. Das erste rot-blaue Duell ließ grüßen. Das gleiche Spiel wiederholte sich 2015, die SPÖ legte in den innerstädtischen Bezirken zu oder stagnierte.

SPÖ-Ergebnisse in innerstädtischen Bezirken 1991-2015

innenstadt

 

  1. Die bürgerliche Transformation der roten Wählerschaft

Ein glücklicher Zufall macht die Veränderung der Zusammensetzung des SPÖ-Elektorats besonders anschaulich. Die SPÖ Wien hat 1996 und 2015 fast völlig identische Wahlergebnisse eingefahren (ca. 39%). Man muss also nur die Veränderungen in den einzelnen Bezirken bei diesen Wahlen vergleichen um sich ein Bild über die strukturelle Veränderung der roten Wählerschaft machen zu können. Zwischen 1996 und 2015 verlor die SPÖ in den Außenbezirken und gewann in den Innenbezirken hinzu. Sie hat seit 1996 in der Josefstadt am meisten zugelegt und in Simmering am meisten verloren, die folgende Tabelle gibt einen Überblick über Gewinne und Verluste.

Gewinne und Verluste der SPÖ in den Bezirken 1996-2015

Josefstadt 11,4%
Innere Stadt 11,3%
Mariahilf 10,8%
Alsergrund 9,5%
Wieden 9,3%
Neubau 8,9%
Währing 7,3%
Margareten 6,4%
Landstraße 4,8%
Döbling 3,9%
Leopoldstadt 3,3%
Hernals 3,0%
Rudolfsheim-Fünfhaus 2,9%
Hietzing 0,5%
Penzing 0,5%
Meidling 0,4%
Ottakring -0,8%
Liesing -1,4%
Brigittenau -2,6%
Donaustadt -3,7%
Favoriten -5,1%
Floridsdorf -6,5%
Simmering -8,0%

 

Da in dieser Tabelle quasi schematisch die Innenbezirke am oberen Ende der Skala und die Tangente am unteren Ende steht, ist es verlockend sich der Materie über geclusterte Wahlergebnisse zu nähern. Diese harmonieren natürlich nur unbefriedigend mit den Bezirksgrenzen und wären auf Sprengelebene wesentlich ergibiger, eine Annäherung lässt sich trotzdem auf Bezirksebene kalkulieren. Analog zur Definition der Tangente (=1991>55%) erfolgt eine Zuordnung entlang der Wahlergebnisse: Als „Bürgerlich“ werden jene Bezirke bezeichnet, in denen die SPÖ bei allen Wahlen zwischen 1991 und 2015 niemals mehr als 40 Prozent erreichte. Das sind die Innere Stadt, die Wieden, Mariahilf, Neubau, die Josefstadt, der Alsergrund, Hietzing, Währing und Döbling[4]. Es gibt dort trotzdem eine erhebliche Anzahl von roten WählerInnen die hier – stark verallgemeinert – als „Bohème“ bezeichnet wird. Das tut dem Karl Marx-Hof in Döbling sicher unrecht, aber in Anbetracht dessen, dass die Bohèhme aus der Leopoldsstadt, der Landstraße, Margareten, Ottakring etc. nicht berücksichtigt ist, wird die Dimensionen für Wien insgesamt zumindest nicht überschätzt.

In den restlichen Bezirken hat die SPÖ seit 1991 oftmals die 40-Prozentmarke überschritten, aber niemals die 55 Prozent. Es sind gleichzeitig jene Bezirke in denen die SPÖ 2015 verloren hat, aber nicht so viel wie in der Tangente. Wegen ihres Zwischencharakters werden sie in Folge als „Symmetrie“ bezeichnet. Es handelt sich um die Leopoldsstadt, die Landstraße, Margareten, Meidling, Penzing, Rudolfsheim-Fünfhaus, Ottakring, Hernals und Liesing[5].

Interessant ist dabei die Frage, wie sich der Anteil der drei Bezirkstypen an der SPÖ-Wählerschaft verändert hat. Dazu eignet sich idealerweise ein Vergleich der Jahre 1996 und 2015, weil die SPÖ bei beiden Wahlen wienweit genau gleichstark war.

Anteil der Bezirkstypen an den Gesamtstimmen der SPÖ Wien 1996 und 2015

tranformation

 

Die ersten beiden Säulen zeigen den Anteil der eben definierten Bezirksgruppen an den Gesamtstimmen der SPÖ bei den Wahlen 1996 und 2015. Der Vergleich zeigt, dass die Bohème ihren Anteil zwischen 1996 und 2015 um 2,7 Prozentpunkte steigern konnte, die Symmetrie stagnierte und die Tangente 2,5 Prozentpunkte verlor. Ein Faktor verzerrt diesen Vergleich jedoch erheblich, Wien ist nämlich seit 1996 stark gewachsen und fast das gesamte Wachstum hat sich in den Bezirken der Tangente abgespielt (Floridsdorf und Favoriten um die 20%, Simmering um 35% und die Donaustadt um über 45%). Die Josefstadt oder Hietzing sind in dieser Zeit geschrumpft. Alleine durch dieses Wachstum der Bevölkerung fällt die Tangente stärker ins Gewicht als früher. Möchte man wissen wie sich die Anteile der drei definierten Gruppen entwickelt hätten wenn alle Bezirke genau gleich stark gewachsen wären, muss man um die unterschiedlichen Wachstumsraten der Bevölkerung bereinigen.[6] Säule 3 (ber. für bereinigt) zeigt wie sich die relative Bedeutung der definierten Gruppen verändert hätte, wenn alle Bezirke punkto Bevölkerung proportional gewachsen wären. In diesem Fall hätte das Gewicht der Bohème um sechs Prozentpunkte zugelegt, das Gewicht der Symmetrie um knapp zwei Punkte und die Tangente hätte beinahe acht Punkte an Gewicht verloren. Der einzige Grund weshalb die Symmetrie die Tangente an Relevanz für die SPÖ nicht schon längst eingeholt hat ist also das Bevölkerungswachstum in den Flächenbezirken.

  1. Die SPÖ war 2015 überall ähnlich stark

Der Vergleich von 1996 und 2015 ermöglicht es auch die Angleichung des SPÖ-Stimmenanteils über alle Bezirke hinweg zu beobachten. Der Korridor innerhalb dessen sich die SPÖ-Stimmen bewegten lag 1996 zwischen 22,2 Prozent in der Inneren Stadt und 48,3 Prozent in Simmering. Im Jahr 2015 hingegen lag der Korridor zwischen 32,5 in Hietzing und 43,1 Prozent in der Brigittenau. Wie stark sich der Korridor verändert hat zeigt die folgende Grafik. Man kann heute beinahe schon sagen, die SPÖ ist in jedem Bezirk ungefähr gleich stark.

Unterschiede zwischen den SPÖ-Bezirksergebnissen 1996 und 2015

korridor

 

  1. Die SPÖ hat einen stabilen Kern

Die aufbereiteten Daten zeigen auch, dass es neben der viel diskutierten Verschiebung von Flächenbezirken zur Innenstadt noch ein Phänomen gibt, das für die SPÖ insgesamt sogar wichtiger ist. Die Partei hat nämlich einen stabilen Kern der durch die Bezirke der Symmetrie repräsentiert wird[7]. Unter die TOP-5 der SPÖ-Ergebnisse 2015 schoben sich vier Bezirke der Symmetrie. Noch wichtiger ist für die SPÖ aber, dass der Abstand zur FPÖ in der Symmetrie beachtlich ist, nämlich fast gleich stark wie bei der Bohème. Bei der Tangente hingegen wäre der Abstand ohne die eher innerstädtische Brigittenau genau Null.

Abstand der SPÖ zur FPÖ 2015[8]

Bohème 16,0
Symmetrie 13,2
Tangente 2,4

Ob das gute Abschneiden bei der Bohème ein temporäreres Phänomen ist, wie viele KommentatorInnen vermuten (Stichwort „Leihstimmen“), wird sich 2020 zeigen – vor allem wenn es nicht wieder zu einer Duell-Zuspitzung kommen sollte. Auf die Bohème-Stimmen hat die SPÖ selbst am wenigsten Einfluss. Ob die FPÖ in den Tangenten-Bezirken mit der SPÖ auf Augenhöhe bleiben kann wenn keine internationale Flüchtlingskrise die Schlagzeilen dominiert, wird sich ebenfalls 2020 zeigen. Hier hat die SPÖ aus eigener Kraft heraus wesentlich mehr Möglichkeit den Lauf der Dinge zu beeinflussen. Am unspektakulärsten aber für die SPÖ vielleicht am wichtigsten wird die Frage, ob die Symmetrie weiterhin der stabile Kern der SPÖ-Wählerschaft bleibt.

[1] leider sind auf Bezirksebene im Netz keine älteren Daten verfügbar

[2] Die Brigittenau ist kein klassischer Außenbezirk und wird in der Regel nicht zur Tangente gerechnet, wegen ihrer Ähnlichkeit beim Trend der SPÖ-Stimmen geschieht das hier jedoch schon.

[3] Natürlich gilt das auch für etliche Sprengel in der Leopoldsstadt, der Landstraße, Margareten und den westlichen Außenbezirken, allerdings nicht im Saldo für die gesamten Bezirke. Eine Analyse auf Sprengelebene dürfte die Trends die hier beschrieben werden nochmals deutlich unterstreichen.

[4] Alle neun als bürgerlich bezeichneten Bezirke liegen auch unter den TOP-10 Bezirken nach Durchschnittseinkommen (Nur der Symmetrie-Bezirk Liesing schiebt sich auf Platz 7). Es handelt sich also um jene Bezirke, wo es die Menschen ökonomisch verhältnismäßig am wenigsten nötig haben SPÖ zu wählen.

[5] Es gibt zwischen der Tangente und der Symmetrie keine ökonomische Unterscheidbarkeit. Floridsdorf und die Donaustadt liegen beispielsweise im Mittelfeld der Durchschnittseinkommen.

[6] Dazu gewichtet man die Stimmen jedes Bezirks von 2015 mit dem Faktor der sich durch die jeweilige Bevölkerungsveränderung ergibt. Für 2015 liegen Bevölkerungszahlen vor, für 1996 wurde Zahlen von 1994 (https://www.wien.gv.at/stadtentwicklung/studien/pdf/b003934.pdf) verwendet.

[7] Nochmals der Hinweis: Symmetrie ist keine Chiffre für ökonomische Mittelschicht. Viele der einkommensschwächsten Bezirke gehören zur Symmetrie

[8] Ungewichteter Schnitt

One Response to Die Transformation der roten Wählerschaft in Wien

  1. Rudolf T.Z. Scheu 27. Oktober 2015 at 08:35 #

    Das wichtigste Thema wird immer sein, wie gut die Wirtschaft funktioniert. Dazu muss die SPOe Antworten geben, was -auch- Beschaeftigung mit der Wissenschaft bedeutet. Interessant: ORF-Innenpolitik-chef Buerger hat Strache zu dieser Frage total in die Enge getrieben (Strache gab nur Belangloses von sich): trotzdem haben so viele FPOe gewaehlt.

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