Nikolaus Kowall*
Als jemand, der gerade in Österreich einen Vorzugsstimmenwahlkampf bestreitet, bin ich direkt mit den Herausforderungen des österreichischen Wahlrechts konfrontiert. Die größte Baustelle scheint mir dabei der geringe Einfluss des Wahlvolkes auf die personelle Zusammensetzung des Nationalrats. Um dies herauszuarbeiten, beginnen wir mit zwei Gegenbeispielen:
In Großbritannien gibt es pro Wahlkreis eine/n Abgeordneten. Um Kandidat:in zu werden, muss man sich innerhalb der lokalen Parteistruktur durchsetzen. Die Person steht am Stimmzettel, die Partei steht „nur“ zur Orientierung unter (!) dem Namen. Der/Die Kandidat:in, die dann bei der Wahl die relativ meisten Stimmen erringt, erhält das Mandat. Das ist gut, weil die Person damit ein Selbstverständnis als demokratisch zweifelsfrei legitimiertes Mitglied der Legislative mitbringt. Ob die persönlich gewählte Abgeordnete nach der Wahl dem Parteimainstream auf nationaler Ebene folgt oder nicht, ist vollkommen offen.
Der Nachteil besteht darin, dass sie sich stark als Lobbyistin für ihren Wahlkreis versteht, was dem großen Ganzen, um das es im britischen Unterhaus gehen sollte, zuwiderläuft. Solche Modelle tendieren dazu, dass Abgeordnete das Parlament als Versammlung von Bürgermeister:innen betrachten. Hinzu kommt, dass eine Partei mit nur 34 Prozent der Stimmen eine deutliche absolute Mehrheit im Parlament erreichen kann, wie das derzeit bei der Labourparty der Fall ist. Eine, aus unserer Verhältnis-Wahlrecht-Sicht, schwache Repräsentation.
Das Gegenmodell ist die Slowakei. Dort ist das ganze Land ein einziger Bundeswahlkreis und es gilt ein strenges Verhältniswahlrecht. Das Commitment zur nationalen Ebene ist dadurch hoch, was absurdem Schrebergartendenken vorbeugt. Es bedeutet aber auch, dass Kandidat:innen a) keinerlei regionale Legitimation mitbringen und b) dass nur Personen mit einem soliden Listenplatz rechnen können, die dem Parteimainstream folgen. Als Ausgleich dafür sind in der Slowakei die Hürden für Vorzugsstimmen gering: Erhält eine Kandidatin drei Prozent der für die Partei abgegebenen Stimmen, wird sie vorgereiht.
In Österreich haben wir ein recht unübersichtliches System mit drei Ebenen (Regionalwahlkreis, Landeswahlkreis, Bundeswahlkreis), in dem wir eher die Nachteile als die Vorteile beider Welten vereinen. Nur ein Teil der Kandidat:innen repräsentiert die 39 Wahlkreise, deren Zusammensetzung meist keiner geografischen oder politischen Logik folgt (Kärnten Ost, NÖ Mitte oder in meinem Fall Wien Innen West – die Bezirke 1,6,7,8,9). Ein großer Wahlkreis wie Linz und Umgebung kann, wie derzeit, vier Grundmandate entsenden, ein kleinerer wie Salzburg Stadt oder meiner, entsendet derzeit gar kein Grundmandat. Das liegt an einer kruden Mischung aus Bevölkerungsgröße und Verteilung der Stimmen auf die Parteien.
Im Gegensatz zu Großbritannien wird auch keine Person gewählt, sondern eine Partei. Und noch wichtiger: Unabhängig davon, welche Partei ein Grundmandat erreicht, die strenge Verhältnismäßigkeit im Nationalrat wird am Ende immer durch einen Ausgleich über die Landeswahlkreise und den Bundwahlkreis gewahrt. Ob eine Person im Regionalwahlkreis ein Grundmandat erhält, steht also in keinem direkten Zusammenhang mit der Stärke der gewählten Partei im Parlament. Der regionale Wettbewerb ist folglich weder personalisiert noch besonders bedeutsam für das Endresultat. Weil das einfach nicht spannend ist, sind die Kandidat:innen auf Wahlkreisebene oftmals ziemlich unbekannt. Oder wissen Sie, wer „Ihr“ Abgeordneter ist?
Das führt zu der grotesken Situation, dass unsere regionalen Abgeordneten in einer schwächeren Position sind als in Großbritannien, aber sich dennoch regional zuständig fühlen. Viele erachten das Eröffnen von Sportfesten, den Besuch von Bierzelten oder das Abschreiten von Militärparaden in der Region als ihre primäre Aufgabe. Auch weil sie das in den regionalen Parteistrukturen als Abgeordnete legitimiert. Das verleitet viele Abgeordnete dazu, die Tätigkeit im heimatlichen Wahlkreis als wichtiger zu erachten als die Arbeit für die Republik.
Durch die mangelnde Personalisierung und die geringe Bekanntheit ist die demokratische Legitimation der Gewählten durch die Bevölkerung insgesamt gering. Das schwächt die Personen gegenüber ihrer Partei. Noch deutlich schwächer ist die Positionen von Abgeordneten, die über einen Landes- oder über den Bundeswahlkreis in den Nationalrat einziehen. Nicht nur verdanken sie ihren Listenplatz einer Landes- oder Bundespartei, ihr persönlicher Beitrag zum Wahlergebnis lässt sich noch schwerer messen, als auf Ebene des Regionalwahlkreises.
Nochmals geschwächt wird die Position der Kandidat:innen durch den Umstand, dass sie auf bis zur drei Listen parallel kandieren. Wer ein Grundmandat erreicht, ist mit großer Sicherheit im Parlament. Wer von den Kandidat:innen aber über die Bundes- und wer über die Landesebene einzieht, entscheidet letztlich die Partei – wohlgemerkt: nach der Wahl. Hauen und Stechen gibt es also nicht nur bei der (intransparenten) Listenerstellung, sondern auch nochmals in den Tagen nach der Wahl.
Die starke Abhängigkeit von der Partei könnte, wie in der Slowakei, durch eine relative geringe Hürde (dort sind es drei Prozent) bei den Vorzugsstimmen ausgeglichen werden. Doch auf Bundesebene braucht es es bei uns sieben, auf Landesebene zehn und auf Ebene des Wahlkreises gar 14 Prozent der für die Partei abgegebenen Stimmen. Die bevorzugten Kandidat:innen auf Landes- und Bundesebene muss man händisch eintragen – sie sind nicht auf dem Stimmzettel zu finden, sondern auf monströsen Infoblättern in der Wahlzelle. Als Kandidat, der in Wien Vorzugsstimmen sammelt, muss ich tausenden Leuten vermitteln, welches der beiden Kastl denn nun das richtige ist. Die Kandiat:innen des Regionalwahlkreises stehen wiederum schon auf dem Stimmzettel und können angekreuzt werden. Wer von seinen drei Vorzugsstimmen Gebrauch machen möchte, muss also vor der Wahl wissen, wen er:sie ins Bundes-Kastl schreibt, wen ins Landes-Kastl und wen er:sie auf Ebene des Regionalwahlkreises ankreuzt. Es gibt schon Leute, die das vorher wissen. Aber es sind nicht viel mehr, als die, die selbst kandidieren. Das System ist so kompliziert, dass es wirkungslos ist. Transparente Demokratie sieht anders aus.
Ideal wäre für Österreich wohl ein Zwei-Kammern-System. Ein Nationalrat, der sich stark an das slowakische Modell anlehnt (ein Bundeswahlkreis, dafür geringe Hürden für Vorzugsstimmen), sowie parallel dazu ein direkt gewählter Bundesrat, der sich eher an das englische Modell anlehnt (Persönlichkeitswahl im Wahlkreis mit stark regionalem Bezug). Der Bundeskammer, die dann zweifellos und ausschließlich der Republik verpflichtet wäre, stünde zum Ausgleich eine Kammer der Regionen gegenüber. So weit wird es nicht schnell kommen, aber eine Senkung der Hürden für Vorzugsstimmen sowie die Abschaffung einer der drei Listenebenen würde auch schon helfen, das Wahlrecht zu personalisieren, sowie transparenter und demokratischer zu machen.
*Nikolaus Kowall ist promovierter Ökonom und Inhaber einer AK-Stiftungsprofessur für Internationale Wirtschaft an der FH des BFI.
Er kämpft mithilfe eines Vorzugsstimmenwahlkampfs auf Wiener Landesebene um den Einzug in den Nationalrat, wofür er ca 25.000 Vorzugsstimmen benötigt.
Mich interessiert nicht die Person, sondern das, was sie machen will. Babler spricht sich gegen die Diskriminierung des Analogen ein: s u p e r!!!