Flucht: Persönliche Eindrücke einer Fact-Finding-Mission

Melita H. Sunjic*

Die Bootsfahrt nach Lampedusa ist noch das Ungefährlichste. Lampedusa ist so nah am nordafrikanischen Festland, dass es hier am einfachsten ist, per Boot nach Europa zu gelangen. Die Schmugglerei ist mittlerweile ein Milliardengeschäft, viele schneiden mit und die Ärmsten der Armen zahlen drauf.

Die meisten Menschen kommen aus Eritrea (Diktatur, lebenslanger verpflichtender Militärdienst), Somalia (Jahrzehnte völliger Anarchie, Terror, Mord und keine Aussicht auf Arbeit oder Schule) und aus Syrien (Bürgerkrieg). Da sage einer, das seien Wirtschaftsflüchtlinge.

Die schwierigste Reise haben die Eritreer. Sie müssen unerkannt aus dem Land flüchten, denn sie würden ein Ausreisevisum benötigen, das sie nicht bekommen, solange sie militärverpflichtet sind. Also nie. Sie müssen also schon einen Schmuggler bezahlen, um nach Äthiopien zu gelangen. Von dort geht es aus eigener Kraft in den Sudan, wo sie sich bei UNHCR melden und mehrere Monate warten, bis sie Papiere bekommen, denn die Ausweise haben sie zuhause gelassen.

Es gibt eine Gruppe, die es besonders auf Eritreer abgesehen hat; sie kidnappen sie und verlangen von den Verwandten in Eritrea oder Europa Geld. Sie foltern ihre Opfer teils live während der Telefongespräche, um ihren Lösegeldforderungen (500 bis 1000 Dollar) Nachdruck zu verleihen. Wer nicht zahlt, endet in der Sklaverei oder Zwangsprostitution. Oder er muss eine Niere spenden (zynischerweise heißt das auf Englisch „Organ Harvesting“). Erst nach dem elektronischen Geldtransfer werden sie freigelassen. Teile der Polizei treiben die Eritreer in die Arme der Banden – gegen Provision, versteht sich.

Kein Bargeld. Diesel im Trinkwasser.

In der sudanesischen Hauptstadt Khartum sucht man sich einen Schmuggler. Hier gesellen sich auch die Somalis dazu, die ohne Hilfe in die sudanesische Hauptstadt gelangen können. Wieder Verhandlungen, wieder wird bezahlt, um die Reise durch die Sahara anzutreten. Die Flüchtlinge führen selbstverständlich kein Bargeld mit sich, das würde ihnen gestohlen. Finanziert wird die Reise entweder von der Familie zuhause, die Land verkauft hat, oder von Verwandten in Europa. Immer wird der elektronische Transfer per Telefon vereinbart.

Die Wüstenquerung ist das Gefährlichste. Auf LKW-Ladeflächen werden 50 bis 60 Menschen zusammengepfercht. Sie fahren bei Tag, in der Hitze. Um möglichst viel zahlende Kundschaft an Bord zu bekommen, wird den Reisenden nur gestattet, sehr wenig Proviant mitzunehmen, obwohl die Reise viele Tage dauert. Wassertanks führen die Lastwagen mit, aber das Wasser wird mit einigen Tropfen Diesel vergällt, damit den Menschen graust und sie wenig trinken. So wird nochmals Platz für Reisende geschaffen.

Die Reise geht in Etappen, LKW und Fahrer wechseln. An den Übergabeorten müssen die Menschen manchmal mehrere Tage in der Wüste ausharren, bis sie von nächsten LKws abgeholt werden. Unterwegs sterben viele an Durst, Hitzschlag, Hunger. Wer einen Schwächeanfall hat, fällt auch schon mal vom Wagen. Wer nicht ganz gesund ist, stirbt an der Krankheit. Wenn einer eine ansteckende Krankheit hat, haben sie bald alle. Krätze ist noch das Harmloseste. Die Toten werden im Wüstensand verscharrt. Keine westliche Kamera und keine Statistik gibt Auskunft über die Anzahl, aber man kann davon ausgehen, dass viel mehr Menschen in der Wüste umkommen als auf See.

„Flüchtlingsfarmen“

Die Reise durch Libyen ist gefährlich, weil es eine Reihe bewaffneter Gruppen gibt, die sich von Entführung und Lösegeld finanzieren. Es gibt geschätzte 60 Anhaltelager im Land, rund 40 von Regierungseinheiten, 20 von Milizen betrieben. Auf der Reise wiederholt sich das Drama wie ein Refrain: Entführung – Gefangenschaft unter furchtbaren Bedingungen – Lösegeldforderung (ca. 500 Dollar) – elektronischer Transfer – Freilassung. Das kann sich auf der Reise mehrmals wiederholen. So kann die Flucht zwischen 4.000 und 15.000Dollar kosten. Frauen werden vergewaltigt, einige Männer auch. Nebenbei werden sie mit großer Wahrscheinlichkeit mit Aids angesteckt und, im Falle der Frauen, auch geschwängert.

Wenn sie in Tripoli sind, wenden sich die MigrantInnen und Flüchtlinge an die Meeresschmuggler (Überfahrt 1.600 Dollar). Die bringen sie in entlegenen Scheunen am Land unter („Flüchtlingsfarmen“ genannt) und nehmen ihnen die Mobiltelefone ab, weil sie nicht entdeckt werden wollen. Geschlafen wird auf dem Boden, die hygienischen Verhältnisse sind unbeschreiblich, es gibt kaum Nahrung und Wasser.

Wenn eine Bootsladung zusammengekommen ist, werden die Flüchtlinge an die Küste gebracht und besteigen entweder ausrangierte seeuntaugliche Holzboote oder Schlauchboote. Ein Mann wird zum Kapitän erklärt. Er bekommt ein Satellitentelefon mit GPS-Koordinaten und der Nummer der italienischen Küstenwache. Dann werden sie losgeschickt. Wer im letzten Moment Angst bekommt, wird mit Gewalt auf das Boot getrieben, denn alles muss aus Angst vor Entdeckung sehr schnell gehen. Die Boote sind so überladen, dass man buchstäblich eingepfercht ist. Wer mal muss, macht in die Hose, an Aufstehen und sich Bewegen ist nicht zu denken, wenn das Boot nicht kentern soll. Wasser spritzt ins Boot, oft leckt ein Treibstofftank, so dass die Menschen 24 bis 36 Stunden in einen Salzwasser-Dieselgemisch sitzen müssen und die Haut bis zu den Genitalien verätzt wird.

Man navigiert, bis der Tank leer ist und hofft auf gutes Wetter, und dass die Batterie des Satellitentelefons lange genug hält..

Melita H. Sunjic ist für das Hochkommissariat der Vereinten Nationen für Flüchtlinge (UNHCR) tätig. Der Beitrag spiegelt ihre persönlichen Eindrücke wieder. Am 12. Dezember ist sie Diskutantin einer Podiumsdiskussion in Wien:

Flyer-Flucht

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One Response to Flucht: Persönliche Eindrücke einer Fact-Finding-Mission

  1. punto 30. November 2013 at 14:23 #

    Eine beeindruckende Schilderung.
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    Aber was hält Melita H. Sunjic für die Lösung? Die Übersiedlung nach Europa, mag sie nun so ablaufen wie hier geschildert, oder anders, kann offensichtlich nicht die Lösung sein.
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    Vielleicht ist eine Neugestaltung der europäischen Entwicklungshilfe hilfreich?
    Anstelle der heutigen Gießkanne eine Förderung jener Staaten, die für ihre Nachbarländer als sichere Drittstaaten zur Verfügung stehen. Da könnten unsere Hilfsgelder gezielt einerseits den „richtigen“ Staaten (wo die Menschen menschenwürdig leben können) und zusätzlich den Flüchtlingen helfen, denen der gefährliche Weg in ein fernes Europa erspart bleibt.

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