Vor zwei Monaten wurde in Schottland über die Unabhängigkeit vom Vereinigten Königreich (UK) abgestimmt. Das Ergebnis ist bekannt. Im Folgenden meine Eindrücke vor, während und nach dem Referendum.
Sissela Matzner*
Ich hatte die Chance, Zeugin der schottischen Debatten des letzten Jahres zu werden, da ich nach etlichen Jahren zurück nach Edinburgh gezogen bin. Zudem habe ich am 18. September nicht nur der Demokratie im Wahllokal ‚dienen‘ dürfen, sondern habe als EU-Bürgerin auch über die Frage der schottischen Unabhängigkeit vom Vereignigten Königreich (UK) mitabgestimmt. Ich habe meine Gedanken vor dem Referendum festgehalten, die vom Tag noch am Abend des selbigen niedergeschrieben und kann heute zwei Monate später zurückschauen.
Inhalt
Davor
Das letzte Jahr war gezeichnet von einem großen Angebot an Diskussionen und anderen Veranstaltungen im ganzen Land zu den verschiedensten Themen, auf die eine mögliche Unabhängigkeit Folgen gehabt hätte/haben wird. Die Stimmung war angespannt aber auch voller Zuversicht, dass hier Wichtiges und Bewegendes entschieden wird. Wenig überraschend waren Politiker und Akademikerinnen besonders involviert. Die schottischen und britischen Medien berichteten. Es war auch die allgemeine Bevölkerung eingebunden und engagiert in den Debatten um die Verfassungsfrage. In praktisch jedem Gespräch im letzten halben Jahr ging es um DIE Frage, und sie wurde auch in Familien bis hin zur amikalen ‚Spaltung‘ diskutiert. Was mir, aus Österreich ‚leicht‘ verdrossen, gefallen hat, ist, dass hier über wichtige Fragen diskutiert wurde. Die Folgen der Unabhängigkeit waren für die Menschen greifbar, nachvollziehbar und haben sie berührt. Alternativen wurden aufgezeigt und Visionen für eine andere Gesellschaft skizziert. So stelle ich mir Politik vor. Hier haben beide Seiten Alternativen für die Zukunft vorgeschlagen, auch wenn es in beiden Lagern auch Differenzen gab. Scottish Labour z.B. hat nicht ‚nur‘ den Status Quo verteidigt, sondern auch für eine andere Gesellschaft plädiert, halt eine, in der Entscheidungen weiter mit Süden getroffen würden.
Nebst den emotionsgeladenen Fragen des Stolzes oder des Glaubens daran, dass Schottland es ‚alleine‘ schaffen kann, weil es viel zu bieten hat und es ‚anders‘ ist als der derzeit konservativere Süden bzw. weil die Menschen hier nicht von Westminster und der City of London regiert werden wollen, wurden vor allem wirtschaftliche und sozialen Themen sowie der Einbindung in Europa und der Welt diskutiert. In meiner eigenen Entscheidungsfindung haben mich als Sozialdemokratin internationaler Ausrichtung auch grundsätzliche Fragen geleitet, z.B. was für die Menschen und die Arbeiterbewegung das Beste sein würde, welches Resultat die Neuorientierung oder Re-Besinnung der Labour Partei mit sich bringen könnte, was die Folgen für den mir persönlich am Herzen liegenden Norden Irlands sein würden, und auch die Frage, ob wir in der Welt ‚noch mehr‘ Nationalstaaten brauchen und was die Folgen für andere europäische Staaten mit Unabhängigkeitsbewegungen sein könnten.
Letztlich bin ich zu dem Schluss gekommen, dass ich sowohl für ‚Ja‘ als auch für ‚Nein‘ ‚glauben‘ und ‚vertrauen‘muss, weil vieles unsicher und unvorhersehbar ist/war. Was aus dem Resultat gemacht wird, würde von vielen Faktoren und AkteurInnen im In- und Ausland abhängen, und nicht von einer Partei oder einem Mann und seiner Vision. Es würde in jedem Fall eine verhandelte Zukunft, ein Kompromiss, bei dem hoffentlich alle, die so engagiert waren, mitreden würden können. Ich sah mehr Chancen für die Labour Partei mit einem unabhängigen Schottland. Sie würde sich hier wie im Süden endlich mit der Frage beschäftigen müssen, weshalb sie zusehends in ihrer Kernwählerschicht nicht mehr ankommt, und sich vielleicht ihrer ursprünglichen Werte und Ziele besinnen. Es ist nicht unmöglich, dass Labour auch ohne Schottland (auf lange Sicht) wieder eine Westminster Regierung bildet. Sie müsste dazu nicht nach rechts rücken und könnte versuchen, Meinung zu bilden und nicht dem Zeitgeist nachzuhecheln.
Ich habe die Scottish Labour-Kampagne z.T. als unerträglich empfunden. Ein anti-europäisches ‚UK-first‘ Element schwang bereits in der Labour-Kampagne zur europäischen Parlamentswahl mit, als auf ihrem Pamphlet UK öfter vorkam als die EU. Tatsächlich argumentierte Labour in dieser Kampagne, es bedürfe eines starken UK, um Europa im Sinne der britischen Nationalinteressen mitgestalten zu können! Ohne Schottland wäre UK ‚schwach‘ und Schottland alleine sowieso, letzteres werde nicht mehr mitreden dürfen (als ob es das jetzt könne). Dazu kam UK Labour’s ständige Betonung, dass es pro-Business sei und britische ‚national interests‘ in Europa vertreten würde! Das ist einer Arbeiterpartei nicht würdig. Wir sind eine internationale Bewegung. Wir sollten die Interessen der Arbeitenden vertreten und Verbündete in Europa und der Welt zu diesem Zwecke suchen. Die ständig betonte Solidarität mit England und englischen Arbeitern schien auf Kosten der internationalen und europäischen zu gehen, weil Solidarität auch über Grenzen hinweg möglich ist und bestehen sollte, d.h. auch mit (zumindest) europäischen Arbeiterinnen. Für die ‚Better Together‘ Kampagne hat sich Labour – schwer verzeihlich – auch mit Menschen, big business-Exponenten und Parteien zusammen getan, die den Werten und Visionen einer linken Partei so gar nicht entsprechen.
Ich konnte nicht umhin zu denken, dass, wenn England neuerlich mehrheitlich die Konservativen wählt, Schottland nicht ‚mithängen‘ muss. Den Süden vor sich selber zu schützen und Labour zu ‚retten‘, kann nun wirklich nicht die schottische Aufgabe in der Union sein. Labour’s Kampf schien kein selbstloser oder nur mit der Verbesserung der Lebensumstände der Mehrheitsbevölkerung befasst (dazu hätte die Partei in den 13 Jahren ihrer letzten Westminster Regierung Gelegenheit gehabt). Es ging Labour nicht nur darum, was für die Schottinnen das beste Ergebnis wäre, sondern auch – fair enough – um eine Chance, die nächsten Westminster Wahlen zu gewinnen. Das war offensichtlich und so ehrlich hätte die Partei sein können (Ehrlichkeit wäre gut angekommen).
Ich bin keine Nationalistin und dennoch habe ich mich für das ‚Ja‘ entschieden. Nicht nur weil die Befürworter – wenig überraschend – die positiveren Visionen hatten und Kampagne fuhren, sondern vor allem weil ich nicht daran glaube, dass sich mit einem ‚Nein‘ viel oder genug ändern wird, hier wie dort (und ich will auch Verbesserung der Lebensumstände in England sowie ein Aufbrechen des Establishment in London und vielleicht hätte die Spaltung auch das vorangetrieben). Die Unabhängigkeit wäre in vielerlei Hinsicht ein Risiko gewesen, aber das waren viele bereit einzugehen, um die Lebensumstände einer Mehrheit von Menschen in Schottland zu verbessern, um eine Chance zu haben. Denn hier leben z.T. die Ärmsten der Armen auf der Insel. Außerdem hat mich auch die Inklusivität des schottischen sogenannten ‚civil‘ Nationalismus positiv beeindruckt. Freilich gibt es hier so wie anderswo auch rassistischen Nationalismus aber wie die Ausschreitungen in Glasgow nach dem Referendum gezeigt haben, ist das ebenso ein Problem auf der unionistischen Seite, ganz zu schweigen von England, wo uns nächsten Mai der UKIP-Wind entgegenschlägt.
Der 18. September
Bereits im Vorfeld war klar, dass die Wahlbeteiligung sehr hoch sein würde. Erstmals durften 16 -Jährige wählen, und in einem Land ohne Meldewesen hatten sich fristgemäß 4.2 Millionen für das Referendum registriert, etwa 97%[1] der Wahlberechtigten, ein sensationell hoher Anteil. Die Wahlbeteiligung von 84% hat dann alle Rekorde gebrochen.
Am Tag selber habe ich 7 bis 22 Uhr im Wahllokal gearbeitet mit einem pensionierten Gemeindeangestellten als Kollegen, der das Viertel gut kannte. Unser Wahllokal befand sich in einem ehemaligen Arbeiterbezirk, in dem sich die University of Edinburgh inzwischen so breit gemacht hat, dass sie mit ihren Gebäuden und Studentinnen viele locals verdrängt hat. Es kam ein ständiger Fluss an Menschen herein. Es kamen EU-Ausländer, ganze Einwandererfamilien und Studierenden-WGs. Und es kamen viele der noch im Viertel verbliebenen locals, darunter ältere Damen, die seit Jahren ihre Wohnung nicht verlassen hatten und Menschen, die meinten seit Jahrzehnten oder seit Tony Blair nicht mehr gewählt zu haben. Es kamen junge Arbeiter, die noch nie gewählt hatten und ältere Herren, die meinten, sie hätten nicht gedacht, dass sie diesen Tag noch erleben würden.
Die Wahlbeteiligung und Begeisterung im Wahllokal mitzuerleben, war beeindruckend. Was das Referendum für die Demokratie getan hat, ist unglaublich: die inklusiven Diskussionen, das Angebot echter Alternativen, die Möglichkeit mitzugestalten, das Gefühl, wirklich etwas verändern zu können, dass eine Stimme etwas bewirken kann. All das hat in einem Zeitalter schwindender Wahlbeteiligung bleibende Bedeutung. Und all jenen unter meinen Bekannten, die davor meinten das Referendum sei eine Zeitverschwendung, die nur zu einer gefährlichen Spaltung der Nation beitragen würde, dass wir Wichtigeres, Dringenderes zu diskutieren hätten oder wie könne man Menschen, die nicht alle Folgen verstehen und kalkulieren (hallo, Demokratie!!) über eine so schwerwiegende Frage entscheiden lassen, und die z.T. danach sagten, dass wir uns das hätten sparen können und dass wir jetzt einen Versöhnungsprozess bräuchten (jemals in einem zweigeteilten Land gewesen?)[2], sei diese Beteiligung ins Poesiealbum geschrieben! Mir wird die Erinnerung an die Begeisterung und die Hoffnung lange bleiben. Die Augenblicke vor 22 Uhr waren wir die Minuten vor Mitternacht zu Neujahr.
Und jetzt?
Ich weiß freilich, dass 55-45 ein eindeutiges Ergebnis ist. Nichtsdestotrotz sind 45% fast der gesamten Bevölkerung zu einer Frage, in der es nicht um Kandidat x gegen Kandidatin y, sondern um die grundsätzliche Frage, ob wir ein unabhängiger Staat sein wollen, ging, viele Menschen, die mit dem Status Quo nicht zufrieden sind, die Veränderung wollen, und bereit waren die Ungewissheit der Unabhängigkeit zu riskieren. Ursprünglich wollte der schottische First Minister Alex Salmond auf dem Stimmzettel auch die Option ‚Devo Max‘, was aber aus London abgelehnt wurde. Es sollte eine klare Entweder-Oder Frage werden. Als in den letzten Wochen vor dem Referendum die ‚Yes‘ Kampagne massiv aufholte, wurde für ‚No‘,zusätzlich zu Wirtschafts- und Währungshorrorszenarien, aus London das Versprechen einer ‚Devo Max‘ aufgebaut, in scheinbarer Panik herausgekramt.
Gleich nach dem Referendum relativierte der britische Premier die Versprechen. Er brachte andere Themen auf das Tapet, wie etwa die Tatsache, dass schottische (walesische und nordirische) Abgeordnete in Westminster über englische Gesetze – Zahn des Anstoßes sind vor allem Steuerfragen – mitbestimmen dürfen, die sie nicht betreffen, jedoch nicht vice versa (die sogenannte West Lothian Question). Oder die Frage, ob die derzeitige Finanzausgleichsformel (die sogenannte Barnett Formula) überholt ist und Schottland weniger ausgezahlt bekommen sollte. Außerdem regt sich inner-Tory Unmut über das Versprechen, schottischen Wählerlinnen mehr Autonomie zu gewähren. Bei Nicht-Einhaltung von Versprechungen an Schottland haben die Tories letztlich nichts zu verlieren. Als Verteidiger der ‚benachteiligten‘ Engländer können sie sich profilieren und Labour in Schottland durch die Blockade weiterer Autonomiereformen oder ‚Devo Max‘ schaden.
Tatsächlich scheinen vor allem die schottischen Grünen und die SNP (beide Teil der ‚Yes‘ Kampagne) seit dem Referendum regen Zulauf und einen rasanten Mitgliederzuwachs zu erleben.[3] Währendessen ringt Scottish Labour mit sich selbst. Die Vorsitzende Johann Lamont trat in einem Versuch, sich von UK Labour und deren Einfluss unabhängiger zu machen und gegen die Bevormundung durch London zu protestieren (welch Ironie, hey) zurück, nachdem UK Labour den Generalsekretär ohne Lamont‘s Mitsprache absetzte.[4] Freilich kann Scottish Labour neuer Wind nicht schaden, gerade in einem Jahr, in dem wieder gewählt wird[5] und ihnen vielleicht eine ‚Abstrafung‘ für ihre Zusammenarbeit mit ‚Better Together‘ und für die eigene negative Kampagne, bevorsteht.[6]
Nichtsdestotrotz und währenddessen wurde eine Kommission (die sogenannte Smith Commission) eingerichtet, die sich mit der ‚Devo Max‘ und weiterer Dezentralisierung und Delegierung der Gewalten an Schottland beschäftigt. Erste Ergebnisse der Verhandlungen wird es vorraussichlich Ende November geben und optimistisch frühestens im Jänner würde es zur Vorlage eines Gesetzesentwurfs im Unterhaus kommen.[7] Was genau aus dieser Kommission hervorgehen wird, ist ungewiss, müssen doch auch die anderen Teile der Union berücksichtigt werden und zustimmen, und stehen doch Wahlen im Mai 2015 ins Haus. Die Entscheidung über die Gestaltung der Union, die noch vor weniger als drei Monaten so intensiv im ganzen Land diskutiert wurde, liegt nun jedenfalls in den Händen einiger weniger. Es wurde nicht ganz unerwartet stiller in der Öffentlichkeit. Aufrufe darüber hinaus mit beiden Lagern Konzepte zu erarbeiten und die vor zwei Monaten allerorts engagierten und diskutierenden Menschen mit einzubinden, um ein sozial-gerechteres Schottland ‚für alle‘ zu schaffen, gibt es. Tatsächliche weitreichende Veränderungen und spürbare Verbesserungen für die Menschen, die in so großer Zahl abstimmten, werden wohl Einfluss darauf nehmen, ob jene, die zum ersten Mal oder seit langem wieder gewählt haben, engagiert und eingebunden bleiben.
Vor uns liegen spätestens im Mai 2015 Westminster Parlamentswahlen, in denen die SNP möglicherweise das Zünglein an der Waage wird, als stärkste Partei in Schottland, die doch noch den nötigen Druck für weitlaufendere Autonomie durchboxt.[8] Möglicherweise stimmen wir dann 2017 über Brexit ab (UK’s Austritt aus der EU), und Schottland könnte abermals, ein Referendum anstreben.[9] Tatsächlich ist Salmond, inzwischen First Minister und SNP Parteivorsitzende a.d. (hier wird bei ‚Niederlage‘ zurückgetreten), zuversichtlich, dass es zu einem weiteren Referendum kommen wird und vielleicht sogar noch zu seinen Lebzeiten zur Unabhängigkeit kommen könnte.[10]
Abschließend
Ich erinnere mich noch als ich vor bald 10 Jahren von England aus zum ersten Mal ein paar Tage in Schottland zu Besuch war. Ich erinnere mich an das neue Parlament und noch sehr genau an einen Abend bei unserem Gastgeber, einem Engländer und seinen zwei hier geborenen Söhnen. Ich erinnere mich auch, wie wir an diesem Abend über ein zukünftig unabhängiges Schottland sprachen und wie ich in meinem, die Feinheiten der Sprache nicht kennenden Englisch sagte: ‚I sympathise with your wish for independence‘. Worauf einer der beiden Söhne konterte: ‚We dont need your sympathy‘.
Ich möchte wirklich sagen können, wie viele vor und unmittelbar nach dem Referendum, dass Schottland ein demokratisches ‚Erwachen‘ erlebt hat, dass unabhängig vom Ergebnis nichts so sein wird, wie es einmal war. Das wird jedoch auch davon abhängen, ob sich für die Menschen, die zu dieser Wahlbeteiligung und diesem Ergebnis für die Mitbestimmung beigetragen haben und von denen 45% mit dem Status Quo nicht zu frieden sind und auch unter den 55% vermutlich viele ‚Nein‘ im Kopf durch das Verspechen ‚Devo Max‘ ersetzt haben, spürbar etwas zum Besseren verändert.
*Sissela Matzner ist Sektion 8 Aktivistin, Politikwissenschaftlerin und Phd Studentin mit Schwerpunkt internationale Beziehungen. Sie lebt und arbeitet derzeit in Edinburgh.
[3] http://www.bbc.co.uk/news/uk-scotland-scotland-politics-29311147, Scottish Greens: z.B., http://www.theguardian.com/uk-news/scotland-blog/2014/oct/12/scottish-greens-look-to-the-future, SNP: http://www.channel4.com/news/snp-membership-soars-politics-scotland-referendum
[4] http://www.independent.co.uk/news/uk/politics/johann-lamont-resigns-party-has-no-clue-on-scotland-says-former-labour-first-minister-9818656.html, http://www.futureukandscotland.ac.uk/blog/does-next-scottish-labour-leader-face-mission-impossible
[5]Westminster Wahlen zum Unterhaus im Mai 2015 und zum schottischen Parlament 2016.
[7]z.B. http://www.independent.co.uk/news/uk/scottish-independence/smith-commission-on-scottish-devolution-meets-for-the-first-time-9811964.html?origin=internalSearch, mehr auf http://www.futureukandscotland.ac.uk/blog/ auch zum Zeitplan.
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