Eltern, und insbesondere AlleinerzieherInnen sind sehr oft darauf angewiesen, ihre Kinder ganztägig betreuen zu lassen. Schulplätze mit Nachmittagsbetreuungsangebot erhöhen die Erwerbsmöglichkeiten insbesondere von alleinerziehenden Frauen. Dadurch kann die Armutsgefährdung reduziert werden. Außerdem erfüllt die Verbesserung der Erwerbsmöglichkeit die gesellschaftspolitisch wichtige Funktion, dass Frauen ihr Leben frei gestalten können und trägt somit wesentlich zur Gleichberechtigung der Geschlechter bei. Auch der Rechnungshof bestätigt in einem Bericht zur „Tagesbetreuung von Schülerinnen und Schülern“ aus 2018, dass die schulische Tagesbetreuung die Vereinbarkeit von Beruf und Familie unterstützt.
Um sein Kind in einer schulische Nachmittagsbetreuung anmelden zu können, muss erstens ein Platz verfügbar sein und zweitens muss man sich diesen auch leisten können. Eine Studie der Arbeiterkammer aus 2019 für den Raum Wien belegt, dass zwar ein Fünftel der Befragten aufgrund ihrer Einkommenssituation von der Gebühr für die Nachmittagsbetreuung befreit ist, jedoch fast Dreiviertel derjenigen die Beiträge leisten müssen die Belastung als „ziemlich groß“ oder „sehr groß“ wahrnehmen. Wiewohl die Befragten überwiegend mit dem Angebot zufrieden sind, wünschen sich viele die Betreuung in einer „echten“ Ganztagsschule, also eine mit Verschränkung von Unterricht und Freizeit.
Österreich und Deutschland sind Staaten, in denen das Ganztagsschulsystem wenig Tradition hat, im Vergleich z.B. zu Großbritannien, Frankreich oder Schweden. Die SPÖ fordert seit den 1960er Jahren den Ausbau der Ganztagsschule und zwar in Form einer gemeinsamen Schule der 6-14jährigen:
„Weder Einkommen noch Herkunft, weder Bildungsniveau noch Sozialprestige der Eltern dürfen entscheidend sein für den Bildungsweg von Kindern und Jugendlichen. An den bisherigen Schnittstellen des Bildungssystems braucht es fördernde Übergänge statt Trennung und Aussonderung. Wir wollen eine kostenfreie, gemeinsame Ganztagsschule der 6- bis 14-Jährigen mit innerer Differenzierung nach Interessen, Neigungen und Fähigkeiten der Kinder.
Grundsatzprogramm der SPÖ, S. 34
Diese Forderung erhebt die SPÖ aus gutem Grund: die frühzeitige Teilung in ein Pflichtschul- und in ein höheres Schulwesen, wie es in Österreich nach Absolvierung der Volksschule überwiegend praktiziert wird, fördert die soziale Segregation und zementiert vorhandene familiäre Bildungsunterschiede.
In Folge der ernüchternden PISA-Ergebnisse kam es insbesondere in Deutschland, aber auch in Österreich seit etwa 2005 zu einer Beschleunigung des Ganztagesschulangebotes. Ab dem Schuljahr 2007/08 bis Herbst 2017 kam es bei einer durchgehenden SPÖ-Bundesregierungsbeteiligung zu einer Steigerung der schulischen Nachmittagsbetreuungsquote von 10,5 auf 24,4 % (siehe Nationaler Bildungsbericht 2018). Etwa 15% der Schulstandorte mit Nachmittagsbetreuung verfügen über ein verschränktes, also „echtes“ Ganztagesschulsystem. Nicht zu übersehen ist, dass es große regionale Unterschiede in der Versorgung mit schulischer Nachmittagsbetreuung gibt. Die Betreuungsquoten schwanken für den Pflichtschulbereich zwischen 10,6% für Tirol und 39,7% für Wien. Zuletzt bremste die schwarz-blaue Bundesregierung den Ausbau ganztägiger Schulformen dadurch, dass die Bundesmittel dafür nicht bis 2025 sondern erst bis 2032 abzurufen sind.
Wie wir in unserem Beispiel erfahren haben, ist die verwitwete Pflegeassistentin Lien nicht glücklich damit, dass sie für ihre Tochter Mia keinen adäquaten schulischen Betreuungsplatz gefunden hat, zumal Mia nachmittags oft auf sich allein gestellt ist und sie auch Schulleistungsschwierigkeiten hat. Sie möchte, dass Mia entsprechend unterstützt wird und gut in der Schule mitkommt. Von einem gut entwickelten Schulsystem kann man auch erwarten, dass soziale Benachteiligungen (geringe Bildung, geringes Einkommen in der Familie) zu einem gewissen Grad ausgeglichen werden. Eine Studie der OECD aus 2018 anhand der PISA-Daten hat ergeben, dass durch Maßnahmen wie Ganztagesschulausbau (verschränkter Unterricht mit gemeinsamen Aktivitäten die über den Unterricht hinaus gehen) und Abbau der Selektivität des Schulsystems (möglichst späte Trennung in leistungsspezifische Schularten) die Chancengerechtigkeit sowie Resilienz der SchülerInnen erhöht werden kann. In diesem Zusammenhang ist unter Resilienz zu verstehen, wenn SchülerInnen trotz sozioökonomischer Benachteiligung solide Leistungen in den PISA-Tests erbringen. Deutschland, das sehr in den Ganztageschulausbau investiert hat (Erhöhung des ganztägigen Schulangebotes zw. 2002 und 2016 von 16% der Schuleinheiten auf 67%!), ist es gelungen, dass sich die Resilienz seiner SchülerInnen zwischen den PISA-Studienjahren 2006 und 2015 signifikant erhöht hat. Der Vergleich mit anderen OECD-Ländern zeigt aber auch, dass Ganztagesschulsysteme nicht in jedem Fall zu einer Erhöhung der Resilienz führen, sondern diese einen förderlichen Rahmen dafür darstellen. Wichtig ist, dass diese Bedingungen genützt werden, um ein positives Schulklima mit einer wertschätzenden Kooperationskultur herzustellen.
Lien würde ihre Tochter gerne in eine Ganztagesschule geben, hat aber leider keinen passenden zur Verfügung. Es gibt jedoch auch eine nicht unbedeutende Anzahl an Kindern aus sozioökonomisch benachteiligten Familien, die ein vorhandenes Ganztagesschulangebot nicht nützen. Der Rechnungshof kritisiert diese mangelnde Treffsicherheit von schulischen Maßnahmen. Ein wichtiger Punkt muss also sein, herauszufinden warum die Angebote in vielen Fällen nicht genützt werden um entsprechend darauf reagieren zu können.
Der Wohlstand in den westlichen Gesellschaften driftet auseinander. Die Kluft zwischen ärmeren und wohlhabenden Schichten wird immer größer. Es besteht Einigkeit, dass dies eines der größten gesellschaftlichen Probleme der Gegenwart darstellt. Bildungsgerechtigkeit herzustellen ist ein wesentliches Mittel, um diesem Problem entgegenwirken zu können.
SPÖ-Bildungssprecherin Sonja Hammerschmid fordert wiederholt (zuletzt in einer Aussendung im Juni 2019) den Ausbau der Ganztagsschule und kritisiert die Sparpolitik von Schwarz-Blau, die die Pläne für in den nächsten Jahren zu errichtenden Ganztagesschulplätzen um 75.000 reduziert hat: „Moderne Bildungspolitik heißt auch ganztägige Schule. Sie macht vieles möglich, auch für Kinder aus bildungsfernen Familien.“
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