VIE-BXL ist eine Serie von Beiträgen am Blog 8 im Vorfeld der Europawahlen 2014.
Von Gabriele Matzner-Holzer*
Nun ist es also passiert: Die Krim wird wieder Teil Russlands, das damit eindeutig und unverfroren Völkerrecht, nämlich die territoriale Souveränität der Ukraine verletzt. Das Selbstbestimmungsrecht, das die Betreiber dieses „Beitritts“ ins Treffen führen, gelte, so wie das gelaufen ist, nicht, sagen überdies die interimistischen Herrscher in Kiew und die so genannte internationale Gemeinschaft, alias der Westen. Sanktionen und Isolierung(!) sollen Moskau an den Verhandlungstisch bringen und von weiteren Eskalationen abhalten.
Eskalation ist nach gängigem Verständnis eine „Beziehungsentwicklung mit sich steigerndem Intensitätsverlauf“. Es gehören also zwei dazu. Die jetzige Entwicklung rund um die Ukraine hat überdies einen langen Vorlauf, eine Vorgeschichte, deren Anfänge bis in die Zeit des Falls der Berliner Mauer reichen.
Ungeachtet der Zusammenarbeit, die zwischen dem Westen und Russland in einigen globalen Fragen und regionalen Krisen besteht, sind die „Narrative“, Darstellungen, Sichtweisen und Interpretationen der weltpolitischen Ereignisse seit 1989 und der „Beziehungsentwicklung“ beider Seiten ganz offensichtlich nicht erst seit dem Gezerre um die bekanntlich tief gespaltene Ukraine immer wieder höchst unterschiedlich. Es mangelt wohl auch an Verständnis, Respekt, ja sogar Kenntnis der jeweiligen unterschiedlichen Standpunkte.
Die meisten Medien tragen zu diesem Unverständnis wesentlich bei, auf beiden Seiten. Es fehlt an Informationen und an glaubhaften Beweisen für viele Behauptungen und Anschuldigungen. Auf die Argumente der jeweiligen „Gegenseite“, wenn sie überhaupt erwähnt werden, wird nicht wirklich eingegangen, Behauptungen, zumeist aus nicht unparteiischen Quellen, bleiben unbewiesen und unwidersprochen im Raum stehen. Für Interessierte ohne Insider-Kenntnisse, also die große Mehrheit, ist es folglich, von wenigen Fakten abgesehen, kaum möglich zu wissen, was da wirklich „gelaufen“ ist und „läuft“.
Für die Bevölkerung eines autoritär regierten Landes wie Russland mag man dies als beabsichtigte Verschleierung bedauernd abhaken. Ich behaupte aber, dass die Menschen im Westen nicht besser, vollständiger, umfassender informiert werden, und dass auch sie in ihrer Meinungsbildung manipuliert werden.
Worüber soll nun am Verhandlungstisch überhaupt gesprochen werden? Welche Vorschläge will der Westen einem Land unterbreiten, dessen Präsidenten die deutsche Kanzlerin angeblich für einen Traumtänzer hält, dem der US-Präsident ständig Strafen androht und Kampfflugzeuge an die Grenzen schickt und der gezielt isoliert, ins Strafwinkerl gestellt wird?
Selbstkritik ist überhaupt kaum zu hören, jedenfalls nicht von handelnden Politikern. Jeder ist buchstäblich im Recht und die jeweiligen Medien und Experten bestätigen das und schmücken es mit starken, beleidigenden Qualifikationen. „Faschist, Du, Recht brechender Gewalttäter, Möchtegern-Imperator“, tönt es von einer Seite, „Selber Faschist, Rechtbrecher, Imperator“, von der anderen.
Mit wenigen Ausnahmen. Nicht gleichgeschaltete russische Medien (es gibt sie!) tadeln Putins Vorgangsweise, gelegentlich findet sich Kritik an westlicher Politik auch in westlichen Medien. Normalerweise gehen diese mit westlichen Politikern und westlicher (EU)Politik weniger schonend um. Vereinzelt findet sich ein westlicher ex-Politiker, der diese Kritik präzisiert. Günter Verheugen, einst als EU-Kommissar für die große Ost-Erweiterung zuständig, meint, es wäre besser gewesen, rechtzeitig (also vor Ausbruch der Krise) das Gespräch mit Russland zu suchen und dessen Sicherheitsinteressen zu berücksichtigen, wie das die EU vor der Aufnahme der baltischen Staaten getan habe.
Erstaunlich finde ich die Berufung auf Völkerrecht, welches auch westlicherseits in den letzten Jahrzehnten wiederholt mit Füßen getreten wurde. Stichworte: Balkan, Weltkrieg gegen „Terrorismus“, Irak, Libyen……. Freilich legitimieren Völkerrechtsverletzungen einer Seite noch nicht die anderer. Die Verletzung von Rechten und Prinzipien sieht man jeweils aber nur beim anderen. Sprichwörter, wie die vom Glashaus oder vom Balken im eigenen Auge, fallen einem ein. Oder auch: was Jupiter erlaubt ist, ist es einem Ochsen noch lange nicht. Aber ein bisschen Einsicht anstelle von Selbstgerechtigkeit könnte nicht schaden und vielleicht so nebenbei dazu beitragen, dass (Völker)recht wieder jenen Stellenwert gewinnt, den es verdient.
Vernünftige Vorschläge, auch zur Deeskalation, kommen bisher fast nur von einigen ehemaligen Politikern. Von Henry Kissinger beispielsweise, für den die gängige Dämonisierung Putins ein Alibi für die Absenz genuiner Politik ist und der der Ukraine empfiehlt, statt der Rolle eines „outpost“ eines der beiden Lager die einer Brücke wahrzunehmen. Wie der betagte deutsche Politiker Erhard Eppler warnt er vor einem Beitritt der Ukraine zur NATO. Methoden zur Konfliktbearbeitung, wie sie in der OSZE und im Europarat entwickelt sind, darunter „Vertrauen bildende Maßnahmen“, könnten bei gutem Willen eingesetzt werden, sofern sie nicht dem Sparstift zum Opfer gefallen sind.
Die EU hat nun schrittweise Sanktionen beschlossen, gegen Potentaten des gestürzten ukrainischen Regimes und einzelne Politiker der Krim und Russlands, und droht weitere „Strafmaßnahmen“ an. Deren Schmerzhaftigkeit wird in Grenzen gehalten, mit Bedacht auf Eigeninteressen, wie beispielsweise des Finanzplatzes „City of London“, an dem ukrainische und russische Oligarchen „investieren“, geplante französische Waffenlieferungen an Russland oder insgesamt die intensiven Geschäftbeziehungen (österreichische Banken!) und wechselseitigen Abhängigkeiten aller Art, Stichwort Gas. Da tun sich die USA wohl leichter, ihre „Interdependenz“ mit Russland beträgt kaum ein Zehntel der zwischen EU-Ländern und Russland.
Erleben wir nun in der EU am „Fall“ Ukraine – endlich – die Anfänge einer längst postulierten gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik? Für eine solche ist ja immer ein gemeinsames Ziel, besser noch ein gemeinsamer „Feind“, ein nützlicher Katalysator. Ich bezweifle es. Zu sehr scheint mir europäische Politik jener der USA zu folgen. Und ich hielte es für verheerend, selbstbeschädigend, wenn eine solche Politik sich dauerhaft gegen Russland bildet und ausrichtet. Putins kommen und gehen, Russland bleibt.
Ist hier der „homo sapiens“, also der über Jahrhunderttausende angeblich weise gewordene Mensch, am Werk? Zweifel sind angebracht.
*Gabriele Matzner-Holzer war zwischen 1971 und 2010 als österreichische Diplomatin tätig und ist Mitglied der Sektion 8.
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