Gemeinsame Anleihen für ein gemeinsames Europa

von Nikolaus Kowall*

In Deutschland gab es in den letzten Wochen in Wissenschaft, Politik, Medien und der Kulturszene eine intensive Diskussion über ein gemeinsames europäisches Vorgehen gegen die Corona-Krise. Dabei hat sich der Mainstream in der öffentlichen Meinung im Vergleich zur Finanz- und Eurokrise 2008 verschoben. Vor zehn Jahren unterstellte man den südeuropäischen Ländern pauschal einen Schlendrian bei Budgetpolitik und Lohnentwicklung. Im Jahr 2020 hört man hingegen ganz andere Töne: die höhere Betroffenheit durch Covid 19 von Italien oder Spanien wird als unverschuldeter Zufall anerkannt. Deshalb wird auch in Kreisen, die bisher eine finanzielle Haftung des Nordens für den Süden ablehnten, einem europäischen Vorgehen plötzlich mehr Bedeutung eingeräumt, als nationalen Vorurteilen und altliberalen Dogmen.

Worin besteht der Meinungsumschwung konkret? Nicht in Eurobonds. Eurobonds bedeuten, dass sich ein Nationalstaat auf dem Finanzmarkt Geld ausborgen kann. Das heißt, institutionelle Investoren wie Pensionsfonds oder auch private Anleger/innen kaufen z.B. Italien Staatsanleihen ab und bekommen dafür in den nächsten Jahren Tilgungen und Zinsen. Italien könnte das geborgte Geld beliebig ausgeben und alle europäischen Mitgliedsstaaten würden unbegrenzt dafür haften, falls Italien seine Eurobond-Verbindlichkeiten irgendwann nicht mehr bedienen könnte.

Statt der Eurobonds soll es nun Corona-Anleihen der EU geben. Das bedeutet, nicht der Mitgliedsstaat, sondern die EU kann sich am Finanzmarkt Geld ausborgen und die Mitgliedsstaaten haften nur mit ihrem Anteil am EU-Budget. Um den südeuropäischen Ländern entgegenzukommen haben sich Merkel und Macron sogar dazu durchgerungen, dass die Gelder, die sich die EU ausborgt, nicht als Kredite, sondern als Zuschüsse ausgezahlt werden. So kann die EU besonders betroffene Staaten überdurchschnittlich stark unterstützen. Die Rückzahlung der Schulden durch die EU würde nämlich mittels Aufstockung des EU-Budgets erfolgen. Das zahlen zwar die Mitgliedsländer, aber nur im Rahmen ihres Anteils am EU-Budget. Das heißt Italien könnte z.B. 20% der Zuschüsse erhalten, müsste aber nur seinen Anteil am EU-Budget von 15,22% zurückzahlen. Deutschland würde womöglich auch 20% Zuschüsse erhalten, müsste aber 25,27% zurückzahlen. Hier würden von der Coronakrise weniger stark betroffene Länder den stärker betroffenen Ländern direkt mittels Umverteilung helfen.

Die EU behielte eine gewisse Kontrolle darüber, wie das Geld im Mitgliedsstaat eingesetzt wird. Damit hätte die EU, zumindest im Rahmen der vorgesehenen 500 Milliarden Euro, plötzlich ähnliche Spielräume wie die Bundesregierung der USA. Die Summe ist nicht hoch und die Gewerkschaften Deutschlands und Frankreichs fordern zurecht eine Aufstockung. Entscheidend ist jedoch die Einführung des Instruments. Die Summen kann man immer noch ausweiten und es ist sehr realistisch, dass dies im Rahmen der kommenden Wirtschaftskrise auch passieren wird.

Die geplanten Corona-Anleihen wäre ein großer Schritt in Richtung Handlungsfähigkeit des ganzen europäischen Projekts. Der europäische Binnenmarkt wäre gegenüber dem EU-Außenhandel gestärkt. Das könnte ein wichtiger Hebel sein, um die Abhängigkeit vom globalen Unterbietungswettbewerb bei Löhnen, Umweltstandards, Arbeitnehmerrechten oder Konsumentenschutz zu reduzieren. Umso stärker die europäische Wirtschaft regional organisiert ist, desto leichter lässt sich das Primat der Politik durchsetzen – damit die Demokratie den Rahmen schafft in dem sich die Wirtschaft bewegt und nicht umgekehrt.

Sind die Deutschen also selbstlos mit ihrem großzügigen Vorschlag? Nein, sie wissen nur, dass die Hälfte ihrer Exporte in die EU gehen. Sie verstehen, dass das Wachstum der Weltwirtschaft sich verlangsamt und wir möglicherweise bald Tendenzen zur De-Globalisierung und Rückwanderung von „systemrelevanten“ Industrien nach Europa beobachten werden. Sie halten es für möglich, dass in den nächsten Jahren im europäischen Binnenmarkt mehr wirtschaftliche Zukunft liegt, als im EU-Außenhandel. Sie wissen, dass das Szenario einer Regionalisierung der Weltwirtschaft für gigantische Volkswirtschaften wie China und die USA eine wirtschaftliche Nationalisierung bedeutet. Mittelgroße Volkswirtschaften wie Deutschland oder Frankreich haben aber zu geringe Produktionskapazitäten und Absatzmärkte, um sich selbst zu genügen. Darum gibt es für die europäischen Nationalstaaten im Zuge der Regionalisierung der Weltwirtschaft keine Alternative zum europäischen Binnenmarkt.

Die wacheren Köpfe sehen auch die politische Dimension. Das von 60 Millionen Menschen bevölkerten EU-Gründungsland Italien ist die drittgrößten Volkswirtschaft der EU und hatte noch vor 20 Jahren ein höheres Pro-Kopf Einkommen als Frankreich oder Großbritannien. Doch seit der Einführung des Euro hat Italien praktisch kein Wirtschaftswachstum mehr verzeichnet. Die zuchtmeisterliche Handhabung der Eurokrise durch Deutschland vor zehn Jahren, hatte daran gehörigen Anteil. Die geringe Solidarität mit Italien bei Ausbruch der Covid 19 Pandemie in Europa war auch nicht gerade hilfreich. In den USA und Russland gibt es ganze Trollfabriken, die aus geopolitischen Motiven innereuropäische Spannungen verschärfen und versuchen ein liberales, soziales, demokratisches und einiges Wohlstandsprojekt, das die EU ja sein möchte zu unterminieren. Laut einer Umfrage vom April sieht fast die Hälfte der Italiener/innen Deutschland als „feindliches Land“, gefolgt von Frankreich (38%). „Befreundete Länder“ sind in den Augen der Mehrheit China (52%) und Russland (32%).

Trump und Brexit sind längst Indizien dafür, dass in ehemaligen Paradenationen des Freihandels starke Skepsis gegenüber der Turbo-Globalisierung herrscht. Wenn diesem Unmut nicht begegnet wird, dann gedeiht auch in Kontinentaleuropa weiterhin der Nährboden für rechtspopulistische, nationalistische und antidemokratische Tendenzen. Würde Italien nach einem eventuellen rechtspopulistischen Wahlsieg den Ausstieg aus der EU und der Eurozone suchen, wären die Folgen fatal. Politisch wäre es das Ende des mühsamen, jahrzehntelangen europäischen Einigungsprozesses. Die Briten kochen jetzt schon ihr eigenes Süpplein und werden in bilateralen Abkommen mit Mächten wie den USA politisch und wirtschaftlich fix den Kürzeren ziehen. Genauso würde es nach dem Zerfall der EU allen ehemaligen EU-Staaten gehen in einer Welt, in der die EU nur für 7% der Weltbevölkerung steht.

Überdies würde ein Ende des Euros dazu führen, dass die starke Industrie in Nordeuropa durch eine dramatische Abwertung der Währung südeuropäischer Staaten über Nacht einen extremen Preisschock erleben würde. Sollte die die wiedereingeführte D-Mark auf den Währungsmärkten gegenüber dem Dollar um z.B. 25% aufwerten und die Lira um 25% abwerten, so wäre jeder in Deutschland produzierte Volkswagen für US-Bürger/innen um ein Viertel teurer als vorher, für Italiener/innen sogar um die Hälfte. Ein in Italien produzierter Fiat wäre hingegen für US-Bürger/innen um ein Viertel billiger und für Deutsche sogar um die Hälfte. Dies dürfte wohl nach wenigen Monaten Massenarbeitslosigkeit in den Schlüsselbranchen der Wirtschaft von Ländern wie Deutschland oder Österreich zur Folge haben.

Deutschland erkennt endlich, dass man hier eine Schicksalsgemeinschaft bildet und gemeinsam stärker ist als einsam. Dabei werden kurzfristige Kosten in Kauf genommen und überkommene Haltungen abgelegt. Deutschland hat Europa sehr lange polarisiert und den Süden prekarisiert. Doch nun präsentiert sich es sich als Stütze des europäischen Projekts.

Nun aber zu Österreich: Hier hat keine wochenlange intensive Diskussion über das Thema Corona-Bonds stattgefunden. Hier haben wir einen Bundeskanzler, der bis auf ein halbwegs passables Management der Coronakrise im Inland nichts zu bieten hatte, als kalkuliert kopierten Rechtspopulismus im manierlichen Gewande. Einen Bundeskanzler, dessen ökonomisches Verständnis („koste es was es wolle“) nur bis zu den Grenzen Österreichs reicht. Kann die Industriellenvereinigung diesem Herrn freundlich erläutern, dass Italien der drittwichtigste Absatzmarkt für österreichische Exporte ist? Bei Lohnverhandlungen weist die Industrie regelmäßig darauf hin, dass rund 50% der österreichischen Wertschöpfung in den Export geht. Wäre es nicht gerade jetzt Zeit diesen Umstand hervorzustreichen?

Wenn das 80-Millionen Deutschland zu klein ist um sich wirtschaftlich selbst zu genügen, was ist dann erst mit dem 9-Millionen-Land Österreich? Die österreichische Nation und die international völlig verflochtene österreichische Volkswirtschaft, sind seit Jahrzehnten schon nicht mehr das gleiche. Österreich ist wirtschaftlich gesehen ein Bestandteil des europäischen Binnenmarktes, so etwas wie eine österreichische Volkswirtschaft gibt es streng genommen nicht mehr. Wenn wir uns zur Belebung des europäischen Binnenmarktes solidarisch zeigen, sind wir solidarisch zu uns selbst! Das alles wiegt für Kurz weniger schwer als die Bindung von ein paar Prozentpunkten freiheitlicher Wähler/innen, die er 2019 zur türkisen ÖVP holen konnte. Kurz ist zweifellos ein Profi des politischen Handwerks im Sinne des Erkennens von Stimmungslagen von Message-Control und parteitaktischen Manöver. Und doch, oder vielleicht sogar deshalb, ist seine Welt so klein.
Hoffen wir, dass eine Staatsfrau globalen Ranges, wie Angela Merkel, einem jungen opportunistischen Karriere-Technokraten wie Kurz, die politische Bedeutung der aktuellen Situation noch verdeutlichen kann.

* Nikolaus Kowall ist Inhaber einer Stiftungsprofessur für Internationale Makroökonomie an der Hochschule für Wirtschaft, Management und Finance des BFI in Wien. Er ist Mitglied in und ehemaliger Vorsitzender der Sektion 8.

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