Im Anfang war die Tat – 150 Jahre Allgemeiner Deutscher Arbeiterverein

Am 23. Mai 1863 wurde mit dem Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein (ADAV) die erste politische Partei der Arbeiter außerhalb Englands aus der Taufe gehoben. Mit diesem Datum begann der fulminante Aufstieg der sozialdemokratischen Bewegung. Auch heute ringen die arbeitenden Menschen um eine konsequente politische Vertretung ihrer Interessen. Die Auseinandersetzung mit dem Gründungsprozesses dieses Vereines und seiner Erfolge bleibt aktuell.

Josef Falkinger

Die Gründung des ADAV ist aufs Engste mit dem politischen Wirken einer schillernden, aber nicht unumstrittenen Persönlichkeit verbunden: Ferdinand Lassalle (1825–1864). Von den bekannten Arbeiterführern der Revolution von 1848 war er als einziger nicht ins Exil gegangen, sondern in Deutschland geblieben. Als „letzter Mohikaner“, wie er sich gerne nannte, war Lassalle geradezu prädestiniert für die Rolle des Geburtshelfers einer neuen Bewegung. Es war ein Zufall, der ihn anno 1849 vor der allgemeinen Kommunistenverfolgung, vor Festungshaft und Exil rettete: Eine Haftstrafe, die er gerade absaß, weil er in Düsseldorf zur Bewaffnung des Volkes aufgerufen hatte. Lassalle war.im Übrigen nie formell Mitglied des Bundes der Kommunisten gewesen. Der Bund wies seinen Aufnahmeantrag auf Grund seiner aristokratischen Lebensweise und seinen engen Beziehungen zur Berliner Salongesellschaft zurück1.

In den Jahren nach 1848 versuchte Lassalle, der politischen Linie von Marx folgend, vor allem als Publizist innerhalb der bürgerlich-liberalen Bewegung zu wirken, um eine zweite, diesmal erfolgreiche demokratische Revolution vorbereiten zu helfen. Es kam aber zu einem Ereignis, das diese Strategie völlig zu Nichte machte, ein Ereignis, ohne das es niemals zur Gründung des ADAV kommen hätte können: Im entscheidenden Augenblick des preußischen Verfassungsstreites von 1862 enttäuschte der politische Liberalismus die in ihn gelegten Erwartungen schwer.

Der Verfassungsstreit von 1862

Im Jahr 1862 war Deutschland nach wie vor in 35 Fürstentümer zersplittert, während in England die industrielle Konjunktur frei von feudalen Hemmschuhen Höhenflüge erlebte. Die Niederlage der Revolution von 1848 hatte Deutschland in seiner geschichtlichen und ökonomischen Entwicklung meilenweit zurückgeworfen. Der Zustand schien unhaltbar und bereits in den späten 50er Jahren begann ein neuerlicher politischer Gärungsprozess. 1862 schien die Zeit einer zweiten Revolution gekommen zu sein. Der Preußische Landtag verweigerte dem König die Zustimmung zu neuen Militärausgaben: Erinnerungen an 1848 und 1789 wurden wach. Eine Auflösung des Landtages durch den König und Neuwahlen stärkten die demokratische Opposition nur weiter. Doch nun geschah das Unerwartete: Der neue Kanzler Bismarck begann die Steuern einfach ohne Zustimmung des Landtages einzuheben. Anders als 1848 schaute der bürgerlich-demokratische Landtag diesem Treiben fassungs- und tatenlos zu. Selbst für die radikalsten Kritiker des Bürgertums kam diese Ohnmachtsdemonstration überraschend. So waren auch Marx und Engels Ende der 50er Jahre noch davon ausgegangen, dass das liberale Bürgertum bald revolutionär auftreten würde. Sie behielten diese Perspektive sogar nach dem Verfassungsbruch noch bis 1866 aufrecht.

Anders Lassalle. „Soll Genuas großer Mann Genuas großen Fall verschlafen?“ An diese Worte des Fiesco mag er sich in jenen Tagen erinnert haben. Er, der im Gegensatz zu Marx die Akteure der Fortschrittspartei aus nächster Nähe kannte, kam zu dem Schluss, dass diese Herren Bourgeois nichts mehr fürchteten, als die demokratische Revolution selbst, dass sie niemals auch nur einen Finger für die Demokratie rühren würden – auch wenn zuvor ganze „geologische Erdperioden“ ins Land zögen Die Arbeiter mussten sich unabhängig von den Bürgerlichen an die Spitze der demokratischen Bewegung stellen, so der Schluss Lassalles. Dies wäre aber nur möglich, wenn eine deutsche Arbeiterpartei die Frage der Demokratie und die Frage der deutschen Einheit mit der eigentlichen Kernfrage des Jahrhunderts verknüpfen würde: mit der Frage der sozialen Emanzipation der Arbeiter.

Die deutschen Arbeiter im Jahr 1862

Auf eine dreiviertel Million in Betrieben beschäftigter Arbeiter kamen in Preußen im Jahr 1863 noch über eine Million Handwerker. (MEHRING, 1960, S 1ff) Der politisch interessierte Arbeiter der 1850er Jahre war oft Handwerker, nicht selten sogar ein selbständiger Meister (wie etwa der Drechsler August Bebel). Unter den politisch aktiven Manufaktur- und Industriearbeitern spielten gut ausgebildete Facharbeiter die zentrale Rolle. Es handelte sich dabei meist um Arbeiter mit einer klassischen Handwerksausbildung, die dem Handwerkerstand noch sehr nahe standen: Gürtler, Hutmacher, Zigarrenarbeiter, Riemendreher, Mechaniker, Tischler, Schwertfeger, Böttcher, Messerschmiede, Schneider, Schuhmacher, Zimmerer, Maurer, Bootsbauer, Buchdrucker, usw. Es gab zwar auch Fabrikarbeiter wie in Manchester, die 16 Stunden täglich unter fürchterlichen Bedingungen eintönigste Tätigkeiten verrichten mussten. Diese waren jedoch meist nicht für eine politische Tätigkeit zu gewinnen – woher sollten sie auch die Zeit dafür nehmen? Viele Handwerker waren in Wirklichkeit Scheinselbständige, die in der sogenannten Hausindustrie für einen einzigen Abnehmer arbeiteten – so beispielsweise in der Weberei.

Die große Industrie, mit ihrem massenhaften Industrieproletariat, beschränkte sich damals hauptsächlich noch auf England, machte aber bereits in ganz Europa von sich reden. Manchester lag in der Luft, für die einen als Verheißung unermesslichen Reichtums, für die anderen als Schreckgespenst der Verelendung. Die Arbeiterfrage wurde vor allem deshalb in allen politischen Lagern diskutiert, weil es sich dabei um ein neues Phänomen handelte. Besonders in wirtschaftlichen Ballungszentren wie Düsseldorf, Solingen, dem Wuppertal oder Barmen-Elberfeld reagierten Handwerker auf die beginnende Deklassierung, indem sie den zuerst stigmatisierenden Begriff des Arbeiters als Ehrentitel zu tragen begannen. Waren nicht die Arbeiter die wahren Schöpfer der gewaltigen Reichtümer und der technischen Neuheiten, die es auf der Weltausstellung in London 1862 zu bestaunen gab, Errungenschaften´ von denen die gesamte deutsche Presse berichtete?

Wie war es um das politische Bewusstsein dieser Arbeiter bestellt? Kurzum: miserabel. Nach der Niederlage der 1848er Revolution setzte eine tiefgreifende Welle der Entpolitisierung ein. Sozialistische Ideen spielten im Unterschied zu den 1840er Jahren keine Rolle mehr. Es war die Frage der Deutschen Einheit, die erneut das politische Denken in Schwung brachte. Das liberale Bürgertum gab noch den Anstoß: Der 1859 entstandene Deutsche Nationalverein und die 1861 gegründete Deutsche Fortschrittspartei versuchten mit Erfolg, die Arbeiter für ihr liberales Programm zu mobilisieren. Arbeiterbildungsvereine wurden von philanthropisch gesinnten Bürgern ins Leben gerufen (so 1861 in Leipzig), um den staatsbürgerlichen, aber auch fachlichen Bildungsstand der Arbeiter zu erhöhen. Im Jahr 1862 finanzierte der Nationalverein eine Reise von Delegierten der Arbeiterbildungsvereine zur Londoner Weltausstellung. Diese Delegierten, darunter August Bebel, kehrten von dort mit einem Floh im Ohr zurück: der Idee eines gesamtdeutschen Arbeitertages, um die spezifischen Probleme der Arbeiter zu diskutieren.

Entzauberung

Bereits Alexis de Tocqueville wusste: Politische Umwälzungen und Neugruppierungen entstehen zuweilen, wenn die alten Eliten Erwartungen wecken, die sie nicht erfüllen können. Anfang 1862 konnte sich der liberale Vater der Genossenschaftsidee Schultze-Delitzsch noch mit einem gewissen Recht als „König im sozialen Reiche“ bezeichnen. Doch der Verfassungsstreit 1862 änderte alles. Die Fortschrittspartei konnte ihren plötzlichen Kniefall zwar den Industriellen vermitteln, nicht aber den zuvor mit kämpferischen Reden aufgeladenen Arbeitern. Die Arbeiterbildungsvereine befanden sich im Schockzustand. Der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte, war eine Anfrage an den Nationalverein, ob er auch Arbeiter als vollwertige Mitglieder aufnehme. Ausgerechnet Schulze Delitzsch verfasste das ablehnende Schreiben: Als Ehrenmitglieder dürften sie sich zukünftig fühlen – aber ohne Stimmrecht. Der völlig vor den Kopf gestoßene Ausschuss zur Vorbereitung des Arbeitertages wandte sich nunmehr am 11. Februar 1863 verzweifelt an den Publizisten Dr. Ferdinand Lassalle, um ihn in einem Brief um Rat zu fragen. Lassalle hatte 1862 durch Vorträge über Verfassungsfragen und über die Arbeiterfrage öffentliches Aufsehen erregt.2 Politisch interessierte Arbeiter kannten ihn seit dem als konsequentesten Demokraten der Fortschrittspartei und Fürsprecher der Arbeiter unter den Demokraten. Genauso enttäuscht wie die Arbeiter, aber ungleich entschlossener – verfasste er jetzt als Replik sein berühmtes Offenes Antwortschreiben.

Seine zwei engsten Freunde versuchten ihn abzuhalten. Sein sicheres Todesurteil würde er damit unterschreiben. Lassalle antwortete mit dem Luther-Zitat: „Hier steh ich nun, und kann nicht anders.“ Und er fügte hinzu: „Und möge es dreiundsiebzig Mal den Kopf kosten.“ (LASSALLE, 1925, S 208)

Das „Offene Antwortschreiben“

Im Offenen Antwortschreiben erklärt Lassalle vor allem die Notwendigkeit einer politischen Organisation der Arbeiter unabhängig von den Organisationen der Liberalen. Er tut dies aber nicht auf Basis irgendwelcher abstrakter sozialistischer Prinzipien, sondern setzt beim real existierenden politischen Bewusstsein der deutschen Arbeiter an, das vor allem noch ein demokratisches Handwerkerbewusstsein war. Lassalle beweist, dass alleine der Arbeiterstand überhaupt in der Lage sei, konsequent für die Demokratie im Allgemeinen und das allgemeine Wahlrecht im Besonderen zu kämpfen. Denn das allgemeine Wahlrecht würde auf Grund der Überlegenheit der großen Zahle irgendwann den Arbeitern und nicht den Bürgerlichen die Macht in die Hände spielen. Die neue Arbeiterpartei sei notwendig, um das einzulösen, was die Fortschrittspartei ursprünglich versprochen hatte.

Dann diskutiert Lassalle die soziale Frage, die er als die entscheidende bezeichnet. Auch hier setzt er beim vorhandenen Bewusstsein an. Unter den politisch denkenden Handwerkern und Arbeitern erfreute sich damals die Haltung des liberalen Arbeiterführers Schulze-Delitzsch großer Beliebtheit: Handwerker und Arbeiter sollten sich zu allen möglichen Formen von Genossenschaften zusammenschließen, um auf diese Weise ihren Lebensstandard zu erhöhen. Vor allen Dingen müssten sie sparen, um Genossenschaftsfonds zu akkumulieren. Lassalle legt dar, dass aufgrund der niedrigen Ersparnisse der Arbeiter diese Perspektive nicht aufgehen würde. Die Arbeiter könnten nur ihren Lebensstandard verbessern, wenn sie die Kontrolle über ihre Produktionsmittel erlangen würden. Produktionsgenossenschaften müssten jedoch im Konkurrenzkampf gegen die großen Betriebe der Kapitalisten zwangsläufig unterliegen. Sie hätten nur als Großbetriebe in nationalem Maßstab eine Chance und bräuchten zu diesem Zweck die Unterstützung eines öffentlichen Kreditwesens. Der Staat würde so eine Unterstützung wiederum nur dann garantieren, wenn er von der politischen Partei der Arbeiter mit Hilfe des allgemeinen Wahlrechtes erobert werde. Wiederum setzt Lassalle bei dem vorherrschenden, vom Liberalismus beeinflussten Wunsch der Arbeiter an, Genossenschaften zu gründen, legt aber dar, dass dieses hehre Ziel nur mit dem sozialistischen Konzept des verstaatlichen Kreditsystems erfüllbar sei. In seinem später erschienen ökonomischen Hauptwerk, dem Bastiat-Schultze argumentiert er, dass die Emanzipation des Arbeiterstandes schlussendlich den Ersatz der kapitalistischen durch die sozialistische Produktionsweise zur Voraussetzung habe.

Lassalle versuchte so, das liberal-demokratische Bewusstsein auf die Ebene eines sozialistischen Bewusstseins zu heben und ersetzte die vorherrschende Maxime der genossenschaftlichen Selbsthilfe, durch den neuen dreigliedrigen Schlachtruf: allgemeines Wahlrecht, Staatskredit und unabhängige politische Organisation der Arbeiter.

Die Leipziger Führer des Arbeiterbildungsvereins nahmen diese Empfehlungen begeistert auf. Eine Versammlung von 1300 Arbeitern erklärte sich in Leipzig mit zwei Gegenstimmen für das Offene Antwortschreiben. Es folgten Massenversammlungen in Hamburg, Düsseldorf, Solingen, Köln und Wuppertal. Der Arbeitertag sollte in einen Gründungsparteitag eines allgemeinen deutschen Arbeitervereins auf der Grundlage der Programmatik Lassalles umfunktioniert werden. Am 23. Mai 1863 wurde der ADAV, die erste Arbeiterpartei am europäischen Festland,3 im Leipziger Pantheon aus der Taufe gehoben.

Die Taktik Lassalles

Interessant für den heutigen Leser ist die taktische Herangehensweise Lassalles, die in Anlehnung an Rosa Luxemburg als „revolutionäre Realpolitik“4 bezeichnet werden kann. (LASCHITZA S 76). Karl Liebknecht brachte skizzierte diese Taktik 1913 folgendermaßen:

Nichts ist geeigneter Massenbewegungen zu entfalten, als die Inangriffnahme eines einzelnen besonders aktuellen Punktes. Den Angriff jeweils mit voller Wucht auf einen solchen Punkt zu konzentrieren – Das war das taktische Prinzip Lassalles.“ (LASCHITZA, S 196)

Lassalle ging davon aus, dass Massen nur durch sachliche Ziele mobilisierbar seien. Ziele, die sie – und wohlgemerkt nicht unbedingt die Regierung – für durchführbar hielten. Es gelang ihm, im Offenen Antwortschreiben genau jene Losungen aufzustellen, die dem damaligen Bewusstseinsstand der fortgeschrittensten Arbeiter entsprachen5, und damit auch eine Anleitung zum konkreten Handeln zu formulieren.

Lassalle vertrat – obwohl er für eine friedliche und gesetzliche Agitation eintrat – die Meinung, dass ein Ausbleiben historisch notwendiger Reformen auf Dauer zu einer spontanen Revolution von unten führen müsse. An der Arbeiterpartei läge es, den Prozess voranzutreiben und ihm politische Klarheit zu geben. So sprach er in seiner Berliner Rede (1863):

Wir stehen, dank der Torheit unsrer Regierung und der beschränkten Schwäche, welche sich vielfach in der Leitung der liberalen Sache kundgibt, am Vorabend einer großen sozialen Umwälzung.“

Und in einem Brief an Gustav Levy schrieb er:

Aber freilich kann das Manifest (das Offene Antwortschreiben, Anm. JF) nur im entschieden revolutionären Sinne wirken. Denn die herrschenden Klassen wollen eben die Erlösung der Arbeit nicht.“ (LASSALLE, 1925, S 209)

Gleichzeitig erachtete Lassalle die Einführung des allgemeinen Wahlrechtes vor Eintritt einer Revolution durch Bismarck für möglich und sogar wünschenswert. Das allgemeine Wahlrecht würde es der Arbeiterpartei erlauben, ihre Ziele offen vor dem ganzen Volk darzulegen. Trotz einer grundsätzlichen Orientierung auf eine Revolution von unten hatte Lassalle auch ein Aktionsprogramm im Falle des Ausbleibens oder der Verzögerung einer solchen parat. Die Haupttätigkeit Lassalles bestand neben einer weiteren theoretischen Begründung seiner Positionen (etwa in seinem Werk Bastiat-Schulze6) in der Organisation von Massenversammlungen von Arbeitern. Die Versammlungen, an denen an einem Ort oft mehr als 1.000 Arbeiter teilnahmen, stimmten nach feurigen, stundenlangen Reden Lassalles Resolutionen zu aktuellen politischen Fragen ab. Lassalle bezeichnete seine Tour durch diese Versammlungen als Heerschau. Trotz seines Einsatzes für das allgemeine Wahlrecht hatte Lassalle grundsätzlich mehr Vertrauen in derlei außerparlamentarischen politischen Druck als in die den reinen Parlamentarismus. So schrieb er bereits 1851:

Nie hat, nie wird eine (gesetzgebende) Versammlung den bestehenden Zustand umstürzen. Alles, was eine solche Versammlung je getan und gekonnt hat, ist, den draußen bestehenden Zustand proklamieren, den draußen schon vollzogenen Umsturz der Gesellschaft sanktionieren und ihn in seine einzelnen Konsequenzen, Gesetze usw. auszuarbeiten. Aber ewig wird eine solche Versammlung impotent sein, die Gesellschaft selber umzustürzen, die sie vertritt.“ (LASSALLE, 1902, S 38)

Lassalle versuchte seine Argumentation immer auf allgemein anerkannte Fakten oder auf Thesen bekannter Wissenschaftler zu stützen. Seine Position stellte er so dar, als würde er nur die logischen Schlüsse daraus ziehen. Ganz Tatmensch, beschränkte sich Lassalle in seinem politischen Wirken immer nur auf die Verbreitung einer oder zweier Forderungen. Hinzu kam eine gehörige Portion Humor. Am Frankfurter Arbeitertag warf er beispielsweise einer Massenversammlung von Arbeitern entgegen:

Ihr deutschen Arbeiter seid merkwürdige Leute! Vor französischen und englischen Arbeitern müsste man plädieren wie man ihrer traurigen Lage abhelfen könne, euch aber muss man vorher noch beweisen, dass ihr in einer traurigen Lage seid… Dass kommt aber von eurer verdammten Bedürfnislosigkeit!“ (zitiert bei MEHRING, 1960, S 73f)

Die Bedürfnislosigkeit sei eine Tugend für den indischen Säulenheiligen oder den christlichen Mönch, nicht aber für den Nationalökonomen, der in der Ausweitung der Bedürfnisse den wichtigsten Stachel der wirtschaftlichen Entwicklung erblicke. Das Protokoll vermerkt tosenden Applaus.

Auf diese Weise wurde Lassalle in den folgenden Monaten zum gefürchteten Debattenredner, ja zum Prototypen des sozialistischen Agitators schlechthin.

Bemerkenswert ist angesichts der Tatsache, dass es damals kaum Industriearbeiter gab, schlussendlich der Erfolg den Lassalle mit dem Kampfbegriff des Arbeiters hatte. Der Anteil der Industriearbeiterschaft an den Erwerbstätigen ist heute viel zahlreicher als zur Zeit des Aufstiegs der Sozialdemokratie, gar nicht zu sprechen vom Anteil der lohnabhängig Beschäftigten. Noch um 1900 hatte kaum jemand in Deutschland ein Regelarbeitsverhältnis – Prekariat, Scheinselbständigkeit, Kleingewerbe waren omnipräsent. Lassalle scherte sich wenig darum. Er sah seine Bewegung als reine Klassenbewegung und die sozialdemokratische Erfolgsgeschichte der folgenden 50 Jahre scheint ihm Recht zu geben. Der Kampfbegriff der Arbeiterklasse war gerade deshalb erfolgreich, weil er an ein gemeinsamen Interesse der Verschiedenen gegenüber einem realen gemeinsamen Gegenüber, dem Kapital, anknüpfte, weil er dadurch Millionen Wähler, die sich ansonsten in zahlreiche soziologische Schichten, Arbeitsverhältnisse, Meinungs- und Interessensgruppen spalteten, zu einer gemeinsam ansprechbaren Masse homogenisierte.

Gegenwind

Es ist nicht schwer, sich auszumalen, wie die Fortschrittspartei und der Nationalverein auf Lassalles Agitation reagierten. Landauf, landab wurde verbreitet, Lassalle sei ein Werkzeug der Reaktion, ein Handlanger Bismarcks. Die Liberalen befürchteten, Bismarck könnte mit Hilfe des allgemeinen Wahlrechtes die bisherige auf einem Zensuswahlrecht fußende Verfassung endgültig außer Kraft setzen und gestützt auf die konservative Landbevölkerung die feudalen Reaktion zementieren. Es ist wahr, dass Lassalle das bestehende Drei-Klassenwahlrecht ablehnte. Es ist auch wahr, dass Lassalle Bismarck in Gesprächen und Briefen davon zu überzeugen versuchte, das allgemeine Wahlrecht einzuführen und als Einiger Deutschlands aufzutreten. Es ist aber nicht zutreffend, dass diese Taktik, einer Stärkung der Reaktion gleichkam. Lassalle erkannte früher als andere, dass Bismarck die bürgerliche Entwicklung Deutschlands eher vorantreiben würde als die ohnmächtige Fortschrittspartei. Gerade die Einigung Deutschlands und das allgemeine Wahlrecht brachten schlussendlich die Sozialdemokratie in die Lage, ihren großen Aufstieg anzutreten, einen Aufstieg, dem schlussendlich auch das Ministerium Bismarck zum Opfer fiel. Auch der späte Friedrich Engels musste zugeben, dass Bismarcks Auftreten bis zur Annexion von Elsass-Lothringen 1870 im Kern revolutionär war, wenn auch seine Mittel dynastischer Natur waren7, dass Bismarck durchsetzte, was in ihrer historischen Mission eigentlich die liberale Bourgeoisie hätte durchsetzen sollen. Das bedeutet nicht, dass es korrekt gewesen wäre, ein politisches Bündnis mit Bismarck zu schließen. Es war aber durchaus vernünftig, einzelne Aktionen Bismarcks punktuell zu unterstützen, die einer bürgerlichen Entwicklung zuträglich waren.8

Die Thesen, dass Lassalle eine Art soziales Königtum errichten wollte oder jemals ein politisches Bündnis mit Bismarck schloss, müssen ins Reich der politischen Märchenerzählung verwiesen werden (Vergleiche MEHRING 1960, S 108 ff). Später sollte Lassalle über seine Treffen mit Bismarck sagen: Ein Bündnis hätte bedeutet, dass einer den anderen übers Ohr gehauen hätte, und dazu waren wir beide zu schlau. In seiner Berliner Rede (1863) brachte er seine sowohl antibürgerliche und antimonarchistische Haltung treffend auf dem Punkt:

Wir wissen nicht, ob wir jemals ein Heer von Turnern und Schützen werden für die Verfassung ins Feld rücken sehen; aber das wissen wir, dass ein Lassallsches Arbeiterheer, wenn man die Dinge soweit kommen lässt, von der gegenwärtigen Verfassung Deutschlands kein Stück beim alten lassen würde, am wenigsten Zepter, Krone, Stern und andere Spielsachen…Die Fortschrittspartei hasst mich nicht, weil sie Reaktion von mir erwartet. Sie hasst mich, weil sie von mir die Revolution erwartet.“ (LASSALLE, 1868)

Der Konflikt zwischen Marx und Lassalle

Lassalle bewunderte Marx, seit er 1848 mit ihm bekannt wurde. Der Historiker Franz Mehring bezeichnete das Arbeiterprogramm von Lassalle als „das Kommunistische Manifest im Spiegel der deutschen Zustände.“ (MEHRING, 1921, S 349) So entstammen die Forderungen des allgemeinen Wahlrechts, des staatlichen Kreditwesens und der Errichtung von genossenschaftlichen Nationalwerkstätten allesamt dem Manifest. Mehrmals versuchte Lassalle, Marx dazu zu bewegen, mit ihm gemeinsam die Führung der deutschen Arbeiter zu übernehmen. Im Frühjahr 1861 besuchte Marx Lassalle in Berlin, um mehrere Wochen lang die Gründung einer gemeinsamen Zeitung zu besprechen. Lassalle erwiderte den Besuch im Juli 1862 in London und blieb ebenfalls einige Wochen. Lassalle gelang es jedoch nicht, Marx von seiner Taktik zu überzeugen.9 Marx setzte im Gegensatz zu Lassalle seine Hoffnungen auch nach 1862 vor allem auf die revolutionär-demokratische Initiative des liberalen Bürgertums. Im Allgemeinen Wahlrecht sah er ebenso wie die Anhänger der Fortschrittspartei zuerst ein Trojanisches Pferd der Reaktion. Ein kolossaler Irrtum, wie es Engels später eingestehen sollte. Marx täuschte sich auch, wenn er die Forderung Lassalles nach Genossenschaften mit Staatshilfe als eine dem Bewusstsein der deutschen Arbeiter fremde Idee charakterisierte.

Marx bezog gleichzeitig zu Lebzeiten Lassalles nie öffentlich Stellung gegen Lassalle. Dies deutet darauf hin, dass er sich in seiner Einschätzung nicht ganz sicher war. Ein weiteres Indiz für seine Unsicherheit ist auch die von ihm 1864 verfasste Inauguraladresse der Internationalen Arbeiterassoziation, in der er – ganz auf einer Linie mit Lassalle – schrieb:

Um die arbeitenden Massen zu befreien, bedarf das Kooperativsystem der Entwicklung auf nationaler Stufenleiter und der Förderung durch nationale Mittel.“ (MARX, 1962, S 5ff)

Und:

Lord Palmerston sprach aus ihrer Seele, als er in der letzten Parlamentssitzung den Verteidigern der Rechte der irischen Pächter höhnend zuschrie: „Das Haus der Gemeinen ist ein Haus von Grundeigentümern!“ Politische Macht zu erobern, ist daher jetzt die große Pflicht der Arbeiterklassen. Sie scheinen dies begriffen zu haben, denn in England, Frankreich, Deutschland und Italien zeigt sich ein gleichzeitiges Wiederaufleben und finden gleichzeitige Versuche zur Reorganisation der Arbeiterpartei statt.“ (Ebenda)

In anderen Punkten behielt Marx gegen Lassalle Recht. Von der späteren Entwicklung bestätigt, bekämpfte Marx die ablehnende Haltung Lassalles in Bezug auf die Gewerkschaften. Zudem sah Marx die Chancen der Produktionsgenossenschaften realistischer. Er hielt es für eher utopisch zu glauben, dass sich kleine Handwerksbetriebe mit oder ohne Staatshilfe zu konkurrenzfähigen großen Einheiten zusammenschließen könnten. Die realistischere Möglichkeit erblickte er in der Überführung bereits zentralisierter, großer Produktionseinheiten, wie Erzgruben, Banken oder Eisenbahnen in genossenschaftliches Eigentum, in Produktionsgenossenschaften.10 In diesen drei Punkten sollte sich in der Sozialdemokratie später Marx gegen Lassalle durchsetzen.

Als Lassalle 1864 starb bot der ADAV Marx die alleinige Leitung seiner Geschäfte an. Trotz der Meinungsverschiedenheiten genoss Marx als Theoretiker und wichtigster deutscher Publizist der Linken von 1848 im ADAV großes Ansehen. Er lehnte aber wiederum ab. Marx wollte sein Prestige nicht einer Organisation zur Verfügung stellen, deren unmittelbare Forderungen er ablehnend gegenüberstand. Mehr noch als zu Lebzeiten Lassalles befürchtete er, dass der Verein unter den Einfluss von Bismarck kommen könnte. Marx, Engels und Wilhelm Liebknecht beteiligten sich anfangs noch an der Redaktion des Social-Demokrat, dem Zentralorgan des ADAV bis sie auch dort ihre Funktion niederlegten. Nach dem Tode Lassalles geriet der Verein in eine Phase innerer Wirren. Gräfin Hatzfeldt, Lassalles langjährige Freundin, begann nach dessen Tod eigene Pläne zu verfolgen. Pläne, die auf ein regelrechtes Bündnis mit Bismarck hinausliefen. Dass sich diese Tendenz im Verein nicht durchsetzen sollte, war zu dieser Zeit vor allem von London aus nicht absehbar. Ein anderer Grund für die zögerliche Haltung von Marx war, dass die deutsche Arbeiterbewegung außerhalb Preußens einen völlig anderen Verlauf nahm.

Zweigleisigkeit

Ein Monat nach der Gründung des ADAV gründeten die außerhalb des ADAV verbliebenen Arbeiterbildungsvereine den VDAV, den Vereinstag der Deutschen Arbeitervereine. Der VDAV war mitgliederstärker als der ADAV, hatte aber seine Hochburgen fast ausschließlich außerhalb Preußens. Im Gegensatz zum ADAV hielt er an einem Bündnis mit dem bürgerlichen Nationalverein fest und zählte sogar bis 1867 liberale Fabrikanten zu seinen Führern. Der Hauptgrund für diese Spaltung der Arbeiterbewegung lag darin, dass das liberale Bürgertum außerhalb Preußens entschlossener und glaubwürdiger das Programm der demokratischen Revolution verfocht. Hinzu kam eine in Sachsen und Süddeutschland verbreitete Preußen-phobie. Die Ideen Lassalles blieben aber auch innerhalb des VDAV nicht wirkungslos. Besonders der Drechsler August Bebel – damals Vorstandsmitglied des VDAV – entwickelte sich unter dem Einfluss der Schriften Lassalles immer mehr zum Sozialisten. Erst Jahre später wurde Bebel zum Marxisten, ja sogar zum engsten Vertrauten von Friedrich Engels.11 Einstweilen blieb der VDAV aber noch im Fahrwasser des bürgerlichen Liberalismus. Die Sächsische Volkspartei, die August Bebel und Wilhelm Liebknecht 1866 gründeten, definierte sich als Zweigverein der bürgerlichen Deutschen Volkspartei.

Doch die Dinge änderten sich: 1867 zog Bebel für die Sächsische Volkspartei in den Norddeutschen Reichstag ein, im gleichen Jahre setzte er sich gegen einen Liberalen als Vorsitzender des VDAV durch. Im Jahre 1868 nahm der VDAV die Statuten der von Marx gegründeten Internationalen Arbeiterassoziation als Programm an. 1869 schlussendlich wurde das Bündnis mit der Deutschen Volkspartei aufgebrochen und die Sozialdemokratische Arbeiterpartei (SDAP) ins Leben gerufen. Die von Bebel geforderte Sozialisierung des Großgrundbesitzes war für die Liberalen nicht mehr tragbar. Die Gründung der SDAP brachte aber nicht die erhoffte Einigung der Bewegung. Die Spaltung der Arbeiterbewegung in Lassalleaner (ADAV) und Marxisten (SDAP) sollte noch 6 Jahre fortdauern.

Der ADAV unter J.B. Schweitzer

Währenddessen entwickelte sich nach dem Tode Lassalles 1864 Jean Baptiste Schweitzer zur zentralen Figur des ADAV – zuerst als Herausgeber des Social-Demokrat, ab 1867 als Vorsitzender. Schweitzer war sehr darauf bedacht, den Konflikt des Vereines mit Marx und der 1864 gegründeten Internationalen Arbeiterassoziation beizulegen. Dies zeigte sich nicht nur in einem immer freundschaftlich gehaltenen Briefwechsel, sondern vor allen Dingen in der Programmatik. Zuerst versuchte Schweitzer, die missverständlichen Wendungen Lassalles eindeutig zu machen: Der zukünftige Arbeiterstaat werde weder ein soziales Königtum, noch eine bürgerliche Republik sein. Die zukünftige soziale Republik könne nur die „unmittelbare Herrschaft des Volkes über alle Organe der Staatsgewalt“, die Vergesellschaftung des Staates, bedeuten (MEHRING, 1960 S 210). Die Produktivgenossenschaften seien nur als Übergang zu einer allgemeinen sozialistischen Wirtschaftsordnung sinnvoll, als „Keil, die kapitalistische Gesellschaft zu sprengen und der sozialistischen Gesellschaft den Weg zu bereiten.“ (Ebenda, S 209)

Darüber hinaus übernahm Schweitzer zwei zentrale Programmpunkte der Internationalen Arbeiterassoziation, die im klaren Widerspruch zu Lassalles politischem Erbe standen: Die Propagierung der Gewerkschaftsidee und das Konzept einer Arbeiterschutzgesetzgebung. Laut Lassalle wäre beides sinnlos, oder sogar schädlich. Besagte doch das „eherne Lohngesetz“ von Lassalle, dass jede verbesserte materielle Lage der Arbeiter zu Bevölkerungswachstum führen müsse. Die damit verbundene steigende Konkurrenz der Arbeiter untereinander müsse in der Folge jeden Lohnzuwachs wieder zu Nichte machen.

Als Schweitzer auf der 5. Generalversammlung des ADAV am 1867 zum Vorsitzenden gewählt wurde und damit auch seine Programmatik weitgehend durchsetzen konnte, verließ Gräfin Hatzfeldt mit einigen hundert Anhängern entrüstet den Verein12. Im gleichen Jahr gelang dem ADAV das erste erfolgreiche Experiment mit dem allgemeineinen Wahlrecht13. Schweitzer und Fritzsche zogen für den ADAV in den Norddeutschen Reichstag ein. Für die Sächsische Volkspartei gelangten Bebel und Liebknecht in den Reichstag.

Die politische Neuorientierung des ADAV unter Schweitzer zeigte jetzt auch nach außen Wirkung. Schweitzer brachte als erster Abgeordneter einen Gesetzesentwurf für eine Arbeiterschutzgesetzgebung in ein deutsches Parlament ein. Am 26. September 1868 folgten 206 Delegierte, die 142.008 zahlende Mitglieder in 110 Orten vertraten, seinem Aufruf zur Gründung des sogenannten Arbeiterschaftsverbands als Kampfgenossenschaft für die siegreiche Durchführung von Arbeitsniederlegungen. (Siehe MEHRING, 1960, S 317). Schweitzer wurde damit zum Begründer der deutschen Gewerkschaften. Der ADAV beschloss nunmehr auch die politische Einheit mit der Internationalen Arbeiterassoziation und die engst mögliche organisatorische Anlehnung, soweit es die preußischen Vereinsgesetze gestatteten. 1868 wurde Marx als Ehrengast zur sechsten Generalversammlung des ADAV nach Hamburg eingeladen. Er schrieb daraufhin gut gelaunt an Engels, dass der ADAV das „Programm Lassalle“ durch das „Programm Marx“ ersetzt habe, konnte sich aber dennoch nicht zu einem Erscheinen durchringen.

Liebknecht und Bebel sahen zur gleichen Zeit in Schweitzer noch immer ein bezahltes Werkzeug der Reaktion. Sie unterstützten nicht einmal den Antrag Schweitzers für die Arbeiterschutzgesetzgebung, weil sie den Norddeutschen Reichstag nicht als gesetzgebende Versammlung anerkennen wollten. Schweitzer hingegen erblickte in Bebel und Liebknecht lediglich Handlanger der Deutschen Volkspartei. Angesichts der Tatsache, dass im gleichen Jahr 1868 sowohl der VDAV als auch der ADAV die programmatische Einheit mit der Internationalen Arbeiterassoziation erklärt hatten, erschien dieser Streit immer absurder.

Ende und Neubeginn

Gerade als sich eine Vereinigung der beiden Vereine immer mehr aufdrängte, begann Schweitzer, eine negative Rolle zu spielen. Es ist zu vermuten, dass er sich seine Macht mit niemandem teilen mochte. Um die Einigungsbestrebungen einiger führender Funktionäre des ADAV zu hintertreiben, gründete er 1869 den Verein neu und söhnte sich zu diesem Zweck mit Gräfin Hatzfeldt aus. Eine ganze Schicht von Kadern, interpretierte dieses Gebaren als Putsch und wechselte zur SDAP. Als Schweitzer 1870 bei der Wahl zum deutschen Reichstag sein Mandat verlor, legte er seine politischen Funktionen zurück. Gleichzeitig löste sich Bebel mehr und mehr von dem Streithahn Liebknecht und begann den direkten Briefwechsel mit Friedrich Engels und Karl Marx. Im Gegensatz zu Liebknecht, der noch immer in der Zerschlagung des kleindeutschen Reiches die einzig vertretbare politische Position sah und dem Norddeutschen Reichstag die Existenzberechtigung absprach, brachte jetzt auch Bebel Gesetzesvorschläge in den Reichstag ein. 1870/1871 war es schon zu einer bedeutenden Annäherung der beiden Strömungen gekommen, als sie beide gegen die Annexion von Elsass-Lothringen auftraten und sich mit der Pariser Kommune solidarisch erklärten. Diese mutige Initiative brachte sowohl den Eisenachern als auch den Lassalleanern Haftstrafen ein. Bismarck sollte nebenbei später sagen, dass ihm die Rede Bebels zur Pariser Kommune die Augen über das Wesen der Sozialdemokratie geöffnet hätte.

Zwei weitere Ereignisse begünstigten die Einigung der Vereine. Zum einen erreichten SDAP und ADAV im Jahr 1874 gemeinsam 6% der Stimmen im Deutschen Reich. 180.319 Wähler gewannen die Lassalleaner, 171.351 die Eisenacher. In der Praxis der parlamentarischen Arbeit wuchsen die Fraktionen zusammen. Die Eisenacher stimmten jetzt auch für die Arbeiterschutzgesetzgebung, die Lassalleaner für das Liebknechtsche Steckenpferd der allgemeinen Volksbewaffnung. Gleichzeitig löste die Preußische Regierung den ADAV auf und begann schwere Verfolgungen seiner Mitglieder. Im Herbst 1874 wandte sich der Präsident des ADAV Tölcke an Liebknecht, um die Bedingungen der Vereinigung zu verhandeln. Am 27 Mai 1875 wurde die Sozialistische Arbeiterpartei (SAP) gegründet, der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein (ADAV) und die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Deutschlands (SDAP) aufgelöst. Mit diesem Tag endete die Ära Liebknecht – Schweitzer in der deutschen Arbeiterbewegung. Die Ära des marxistischen Dreigestirnes Bebel-Kautsky-Engels begann.

Lassalles Erbe(n)

Vor 100 Jahren schrieb Rosa Luxemburg zum 50. Geburtstag des ADAV:

Lassalles großes schöpferisches Werk bestand darin, dass er zur rechten geschichtlichen Stunde die richtige Aufgabe des Proletariats erkannt und sie mit kühner Tat zu erfüllen gewagt hat. Was ist heute die rechte Fortsetzung des Lassalleschen Werkes? Nicht, dass das deutsche Proletariat an Lassalles politischem Programm festhält, vielmehr, dass es die neuen großen Aufgaben der heutigen Situation erkennt und an sie zur rechten Stunde mit kühner Tat herantritt. Dann kann es auch von sich im Geiste Lassalles sagen: Ich hab’s gewagt!“ (LUXEMBURG, 1913)

Auch wir können uns diese Frage stellen: Was sind die großen Aufgaben der heutigen Situation? Neben der Verteilungsgerechtigkeit drängen sich heute meiner Meinung nach vor allem zwei Fragen auf, die einer verstärkten Diskussion bedürfen: Zum einen – ganz in der Tradition von Lassalle – die Sozialisierung der Banken, die Schaffung eines öffentlichen Kreditsystems. Zum anderen die Demokratisierung ökonomischer Entscheidungsprozesse. Produktivgenossenschaften innerhalb eines kapitalistischen Umfelds sind heute keine Option mehr. Zu hart ist die Konkurrenz am Weltmarkt. Das allgemeine Wahlrecht ist für sich alleine zu wenig, um ein Korrektiv zur immer größeren Dominanz des Finanzkapitals zu bilden. Es gilt auf Ebene der Industriezweige, aber auch der Gesamtwirtschaft, Beiräte für wirtschaftliche Entwicklung einzurichten, die Einsicht in die Geschäftsbücher bekommen, Marktversagen aufdecken und bei Marktversagen eine staatliche Intervention einfordern, Beiräte, die in einer noch zu diskutierenden Form von den arbeitenden Menschen gewählt werden müssen. In einem wesentlichen Punkt bleibt Lassalle aktuell. Die Sozialdemokratie muss sich nach den ideologischen Verwirrungen der 90er Jahre wieder ganz klar als Partei der lohnabhängig Beschäftigten definieren und aufhören, um die Stimmen einer soziologisch schwer definierbaren und fragmentierten gesellschaftliche Mitte zu buhlen. Wir sind 3 Millionen Stimmen für mehr Verteilungsgerechtigkeit! plakatiert die Arbeiterkammer und meint mit „wir“ die lohnabhängig Beschäftigten. Mit den ehemaligen Lohnabhängigen (den Pensionisten) und den zukünftigen Lohnabhängigen (den Schülern und Studierenden) sind wir noch weit mehr. Dieses Selbstbewusstsein gilt es in den Wahlkampf und die darauf folgende Diskussion des neuen Parteiprogramms mitzunehmen.

 

Quellenangabe:

ENGELS, Friedrich, Brief an August Bebel vom 30. 12. 1884, MEW, Bd. 36, Berlin 1967

ENGELS Friedrich, Brief an August Bebel vom 20.1. 1886, MEW, Bd. 36, Berlin 1967

ENGELS, Friedrich: Die Preußische Militärfrage und die deutsche Arbeiterpartei in Karl Marx/Friedrich Engels – Werke, Bd. 16, Berlin, 1962, S. 37-78

ENGELS, Friedrich: Die Rolle der Gewalt in der Geschichte in Karl Marx/Friedrich Engels – Werke. Bd. 21, Berlin, 1962, S. 405-461

ENGELS, Friedrich: Einleitung zu Karl Marx´ Klassenkämpfe in Frankreich 1848 -1850 in Karl Marx/Friedrich Engels – Werke. Bd. 22, Berlin, 1963, S. 509-527

MARX, Karl: Inauguraladresse der Interantionalen Arbeiter-Association in: Karl Marx u. Friedrich Engels: Werke, Bd.16, Berlin, 1962, S.5-13.

MEHRING, Franz: Geschichte der deutschen Sozialdemokratie, Bd. 2, Berlin, 1960

MEHRING, Franz: Geschichte der deutschen Sozialdemokratie, Bd 1, Stuttgard, 1921

LASCHITZA, Annelies: Die Liebknechts- Karl und Sophie, Berlin, 2007

LASSALLE, Ferdinand: Arbeiterprogramm, in: Gesammelte Reden und Schriften Bd. 2, Berlin, 1919, S. 147-202.

LASSALLE, Ferdinand: Über Verfassungswesen, 1862 zitiert nach: http://www.gewaltenteilung.de/lassalle.htm

LASSALLE; Ferdinand: Was Nun? Zweiter Vortrag über Verfassungswesen, Zürich, 1863

LASSALE Ferdinand: Offenes Antwortschareiben in: Gesammelte Reden und Schriften Bd. 3, Berlin, 1919, S. 41-107.

LASSALLE, Ferdinand: An die Arbeiter Berlins, Leipzig, 1868

LASSALLE, Ferdinand: Herr Bastiat-Schulze-Delitzsch, der ökonomische Julian oder Arbeit und Kapital, Berlin, 1864

LASSALLE, Ferdinand: Brief vom 9 März 1863 an Gustav Levy in Düsseldorf in Ferdinand Lassalle der Mensch und Politiker in Selbstzeugnissen, Leipzig, 1925

LASSALLE, Ferdinand: Briefe an Karl Marx und Friedrich Engels, in: Aus dem literarischen Nachlass von Karl Marx, Friedrich Engels und Ferdinand Lassalle, Stuttgart, 1902

LUXEMBURG, Rosa: Lassalles Erbschaft in: Die Gleichheit, Stuttgart, Jg. 1913, Nr.18

 

Fußnoten

1 Lassalle lebte nicht nur als Dandy, er starb auch den Tod eines Dandys: in einem Duell mit dem Verlobten einer Urlaubsromanze.

2 Die Vorträge wurden später unter dem Titel „Über Verfassungswesen“, „Was Nun?“ und „Arbeiterprogramm“ als Broschüren veröffentlicht. Lassalle wurde 1862 vor allem mit seinem Appell an die Fortschrittspartei bekannt, solange dem Parlament fernzubleiben, als Bismarck den Verfassungsbruch bestehen ließe.

3 Der Bund der deutschen Kommunisten, der 1848 eine bedeutende Rolle in der Revolution spielte, kann diesen Titel nicht für sich beanspruchen, weil er nicht offen auftrat, sondern vielmehr den entschiedensten Teil in der demokratischen Bewegung bildete.

4 Interessanterweise waren es mit Franz Mehring, Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht gerade die Vertreter der Linken, die in der späteren Sozialdemokratie die politische Herangehensweise Lassalles gegen das orthodox-marxistische Zentrums um Kautsky und Bebel, aber auch gegen den Revisionisten Eduard Bernstein verteidigten.

5 Dies war auch die Meinung von Friedrich Engels in seiner Schrift zur preußischen Militärfrage 1865.

6 In diesem Werk bezeichnet Lassalle geistreich den auf den Großbetrieb gestützten Kapitalismus als Sozialismus der Anarchie. Im modernen Finanzkapitalismus, wo anonymisierte, Millionen Einzelvermögen zusammenballende und bewegende Riesenkapitalien den ganzen Globus beherrschen und anarchische Krisen hervorrufen, mutet diese Bezeichnung fast prophetisch an.

7 Engels schrieb 1895, über 30 Jahre später, in seinem Vorwort zu dem Buch Klassenkämpfe in Frankreich: Die Totengräber der Revolution von 1848 waren ihre Testamentsvollstrecker geworden … Der Ausdruck beweist bloß, dass Bismarck den deutschen Bürgerkrieg 1866 für das erkannte, was er war, nämlich eine Revolution, und dass er bereit war, diese Revolution durchzusetzen mit revolutionären Mitteln. Und das tat er. Sein Verfahren gegenüber dem Bundestag war revolutionär.“

8 Eben dieser Taktik folgten nach 1866 auch Marx und Engels. So riefen sie 1870 die sozialdemokratischen Abgeordneten im deutschen Reichstag auf, Bismarcks Antrag zur Gewährung von Kriegskrediten zu unterstützen. Diese Taktik änderten sie erst nach der Gefangennahme des französischen Kaisers, als aus dem Verteidigungskrieg ein Annexionskrieg wurde.

9 Zudem hielt Marx Lassalle nicht für teamfähig und auf Grund seines Hanges zum Größenwahn für unberechenbar.

10 Vergleiche dazu das von Marx verfasste Programm der Arbeiterpartei Frankreichs von 1881 und die Briefe von Friedrich Engels an August Bebel vom 30.12.1884 und vom 20.1.1886.

11 Der ausgesprochen Umfangreiche Briefwechsel zwischen Bebel und Engels legt von dieser engen politischen Beziehung und Freundschaft Zeugnis ab.

12 Sie gründete den Lassalleschen Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein, eine relativ bedeutungslose Sekte, die auch laut Schweitzer Geld von Bismarck empfing und 1875 soweit ging, das Verbot der Sozialdemokratischen Partei enthusiastisch zu unterstützen.

13 Das allgemeine Wahlrecht wurde im Gefolge des Krieges von 1866 von Bismarck eingeführt.

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