Innerparteiliche Demokratie am Beispiel dreier sozialdemokratischer Parteien Europas

Organisatorische Reformen sozialdemokratischer Parteien drehen sich häufig um die Frage der Ausweitung von Partizipationsmöglichkeiten der Parteimitglieder. Als Diskussionsanstoß stellt Oliver Zwickelsdorfer die kompetitiven Vorsitzendenwahlen in drei sozialdemokratischen Parteien Europas vor. Dieser Artikel ist ursprünglich in der Zeitschrift Zukunft erschienen.

*Oliver Zwickelsdorfer

Wenn innerhalb der SPÖ die Forderung erhoben wird, die Partei zu demokratisieren, den Mitgliedern direkte Mitbestimmungsmöglichkeiten einzuräumen, dann werden zumeist die Grünen als abschreckendes Beispiel präsentiert: Spitzenpolitiker, die von der Basis einfach so abgewählt werden, wie der grüne Europaparlamentarier Voggenhuber; prominente Abgeordnete, die um ihren Listenplatz zittern müssen; innerparteiliche Wahlen, bei denen nicht schon vor der Stimmabgabe feststeht, wie das Ergebnis nach der Auszählung der Stimmen aussehen wird sowie endlose Nominierungsparteitage und Medien, die dann vom totalen Chaos in der Partei berichten.

Aber ist die Art, wie die Grünen Mitbestimmung von Mitgliedern verwirklicht haben, tatsächlich so absurd, wie oftmals suggeriert wird? Haben sozialdemokratische Parteimitglieder in anderen europäischen Ländern auch so wenig Einfluss auf innerparteiliche Entscheidungen wie jene in der SPÖ? Dazu muss untersucht werden, wie andere sozialdemokratischen Parteien in Europa im Vergleich zur SPÖ innerparteiliche Mitbestimmung verwirklicht haben.

Innerparteiliche Demokratie hat verschiedene Aspekte. Sie umfasst nicht nur statutarische, sondern auch kulturelle Fragen. Welche Aspekte innerparteilicher Demokratie soll dieser Beitrag nun behandeln?

Wahlen stellen innerhalb der Partei einen wesentlichen Bereich demokratischer Mitwirkung dar. Es gibt zwei Arten von innerparteilichen Wahlen: die Wahl von ParteifunktionärInnen wie zum Beispiel Delegierte von Parteitagen, Vorstände und Vorsitzende sowie die Aufstellung von KandidatInnenlisten, das heißt die Wahl von KandidatInnen für Vertretungskörperschaften und politische Ämter.

Dieser Beitrag soll sich ausschließlich auf den ersten Punkt beschränken, nämlich die Vorsitz- und Vorstandswahlen. Das ist oft nicht ganz einfach zu trennen, wie zum Beispiel in Großbritannien, wo der Leader immer auch der Spitzenkandidat der Labour Party ist. Es sollen in Folge die Labour Party in Großbritannien, die Parti Socialiste (PS) in Frankreich und die Partito Democratico (PD) in Italien näher beleuchtet werden.

Inhalt

Labour Party

Die Labour Party unterscheidet sich von ihrer Organisationsstruktur ganz grundsätzlich von der SPÖ und anderen sozialdemokratischen Parteien in Europa. Sie hat nämlich zwei unterschiedliche Arten von Mitgliedern: Personen, die sich der Partei als individuelle Mitglieder angeschlossen haben sowie Organisationen wie Gewerkschaften und „socialist societies“, die als Kollektivmitglieder der Partei angehören. Dazu gehören beispielsweise die Fabian Society, die Labour Students und große Gewerkschaften wie GMB. Das heißt, zu den rund 220.000 Labour-Direktmitgliedern kommen noch rund 3 Millionen Gewerkschafts- und Organisationsmitglieder hinzu. Diese Struktur muss natürlich auch bei innerparteilichen Wahlen und Entscheidungsprozessen berücksichtigt werden.

Der Leader und der Deputy Leader, also der oder die Vizevorsitzende, werden nach dem gleichen Verfahren gewählt. In einer ersten Phase müssen die KandidatInnen, die auch Unterhausabgeordnete sein müssen, Unterstützungserklärungen in der Unterhausfraktion sammeln. Das stellt eine gewisse Hürde für Kandidaturen dar. 12,5% der Abgeordneten der Unterhausfraktion (Parliamentary Labour Party, PLP), also jeder achte Labour-MP, müssen die Nominierung des Leaders oder des Deputy Leaders unterstützen.

Die Wahl findet in einem virtuellen „electoral college“ statt. Es besteht aus drei Gruppen von Wahlberechtigen: erstens den Labour-Abgeordneten im Unterhaus und im Europäischen Parlament, zweitens den Parteimitgliedern in den Wahlkreisorganisationen (Constituency Labour Party, CLP) und drittens den Mitgliedern der Vorfeldorganisationen („socialist societies“) und Gewerkschaften. Bei den nächsten Leadership Elections sollen in dieser Kurie auch registrierte SympathisantInnen ihre Stimme abgeben dürfen.

Jede dieser Gruppen verfügt über genau ein Drittel des gesamten Stimmengewichts. Dieses System impliziert daher ein unterschiedliches Gewicht der einzelnen Stimmen: Die rund 270 Abgeordneten der Partei haben den gleichen Einfluss wie die 3 Millionen Gewerkschafts- und Vorfeldorganisationsmitglieder.

Der Wahlgang wird mittels Briefwahl durchgeführt. Das Wahlverfahren für Leader und Deputy Leader ist das sogenannte „Instant Run-off Voting“-Verfahren. Im Deutschen spricht man von der „Rangfolgewahl“ oder der „Wahl mit integrierter Stichwahl“. Die WählerInnen und Wähler nummerieren dabei die KandidatInnen nach ihrer Präferenz. Wenn der Kandidat oder die Kandidatin, der oder die die Erstpräferenz erhalten hat, erfolglos ist, wird die Stimme auf die zweitgereihte Person und möglicherweise auch auf weitere KandidatInnen entsprechend der Reihenfolge des Wählers oder der Wählerin übertragen. Das erspart die Durchführung von weiteren Wahlgängen bzw. von Stichwahlen und stellt dennoch sicher, dass der gewählte Kandidat oder die gewählte Kandidatin mehr als 50% der Stimmen erhält.

Jedes Mitglied erhält ein Wahlkuvert für die Bereiche, in denen es wahlberechtigt ist. Ein Abgeordneter mit Gewerkschaftsmitgliedschaft darf als Abgeordneter, als Mitglied seiner Wahlkreisorganisation und als Gewerkschaftsmitglied seine Stimme abgeben. In jedem dieser Bereiche werden die Stimmen separat ausgezählt und gewichtet. Gewählt ist, wer die absolute Mehrheit der gewichteten Stimmen auf sich vereinigt.

Labours Leadership Wahl 2010

Nach der Wahlniederlage der Labour Party fand im Jahr 2010 eine Vorsitzwahl statt. Es handelte sich um ein Duell zweier Brüder, David und Ed Miliband. Es gab aber noch drei weitere KandidatInnen, allerdings mit nur geringen Chancen auf den Sieg: Ed Balls, Andy Burnham und Diane Abbott.

Klarer Favorit der Parteiführung und der Medien war der ältere der beiden Brüder, der frühere Außenminister David Miliband. Das „electoral college“ entschied aber anders als erwartet. David Miliband konnte zwar die meisten Erstpräferenzen auf sich vereinigen. Auch beim Wahlbereich der Parteimitglieder lag er nach Übertragung aller Stimmen vor seinem Bruder Ed. Mit 50,65% zu 49,35% setzte sich Ed Miliband aber knapp vor David Miliband durch. Ausschlaggebend waren die Stimmen der „affiliated members“, also der Gewerkschafts- und Organisationsmitglieder (vgl. Abb. 1 und 2) und die Stimmübertragungen der unterlegenen KandidatInnen.

Abbildung 1: Labour Party Leadership Election 2010 – Erstpräferenzen

Candidate

MPs/MEPs

Labour Party members

Affiliated members

Total

Votes

%

Votes

%

Votes

%

%

David Miliband

111

13,91%

55.905

14,69%

58.189

9,18%

37,78%

Ed Miliband

84

10,53%

37.980

9,98%

87.585

13,82%

34,33%

Ed Balls

40

5,01%

12.831

3,37%

21.618

3,41%

11,79%

Andy Burnham

24

3,01%

10.844

2,85%

17.904

2,83%

8,68%

Diane Abbott

7

0,88%

9.314

2,45%

25.938

4,09%

7,42%

Abbildung 2: Labour Party Leadership Election 2010 Endrunde 

Candidate

MPs/MEPs

Labour Party members

Affiliated members

Total

Votes

%

Votes

%

Votes

%

%

Ed Miliband

122

15,52%

55.992

15,20%

119.405

19,93%

50,65%

David Miliband

140

17,81%

66.814

18,13%

80.266

13,40%

49,35%

Noch knapper war die Wahlentscheidung bei der Deputy Leadership Election, der Wahl des Vizeparteivorsitzes im Jahr 2007. Dabei setzte sich Harriet Harman in einem Feld von sechs KandidatInnen mit 50,4% zu 49,6% gegen Alan Johnson durch.

Einen Hinweis auf die Legitimation dieses Wahlprozederes gibt die Beteiligung der Wahlberechtigten. Während fast alle Abgeordneten an der Wahl teilnehmen, ist die Beteiligung auch unter den Mitgliedern mit über 70% sehr hoch. Unter den über 3 Millionen Mitglieder der „socialist societies“ und Gewerkschaften ist die Wahlbeteiligung aber nur sehr gering. Die wahlberechtigten Abgeordneten müssen ihre Stimme öffentlich abgeben. Das Wahlgeheimnis ist für diese Wahlkurie also außer Kraft gesetzt. Deshalb nahmen auch die amtierende Vizevorsitzende (Deputy Leader) Harman und der ehemalige Premierminister und gewählte Abgeordnete Brown an dieser Wahl nicht teil.

Abbildung 3: Beteiligung an der Leadership Election 2010

Wahlbereich

Abgegebene Stimmen

Wahlbeteiligung

Abgeordnete MPs/MEPs

266

98,5%

Parteimitglieder CLP

126.874

71,7%

Mitglieder Vorfeldorganisationen

211.234

9,0%

Frankreichs ‚Parti Socialiste‘

In der Sozialistischen Partei Frankreichs legt der nationale Parteitag die Grundlinie der Partei für die nächsten drei Jahre fest. Seine Aufgabe ist es aber auch, die Diskussion im Vorfeld innerhalb der Partei anzuregen. Der Kongress wird als eine Einladung verstanden, programmatische Vorschläge zu unterbreiten und Thesenpapiere zu veröffentlichen.

Ausgangspunkt aller inhaltlichen und Personalentscheidungen ist die vorgeschaltete Abstimmung der Parteimitglieder über die Generalanträge der Parteiströmungen für den Parteitag. Ein Generalantrag ist ein Antrag, der einen Vorschlag für die grundsätzliche politische Richtung der PS unterbreitet und kann mit den in Österreich und Deutschland üblichen Leitanträgen verglichen werden. Er behandelt verschiedene Politikfelder und repräsentiert das politische Gedankengut der in der Partei vorhandenen politischen Strömungen. Die Parteimitglieder stimmen in den Sektionen über die verschiedenen Generalanträge der Partei ab. Die Abstimmung findet in geheimer Wahl während eines Parteitreffens statt. Eine Briefwahl wie bei Labour ist nicht möglich.

Jedem dieser Anträge liegt eine Liste bei, auf der die KandidatInnen dieser Strömung für die lokalen Führungsposten genannt werden. Entsprechend ihres Stimmanteils entsenden sie dann Delegierte auf die Konferenzen der Departments. Anschließend finden die Departementverbandskonferenzen der PS und die Wahl der Delegierten für den nationalen Parteitag statt. Die Delegierten werden wieder proportional zum Stimmanteil der Generalanträge bestimmt.

Aufgabe des Parteitags ist es nun, über eine mögliche „Synthese“ der ursprünglichen Anträge abzustimmen. Diese „Synthese“ soll ein Kompromiss sein, der Positionen aus verschiedenen Anträgen beinhaltet. Ausgangsbasis für die Arbeit an der „Synthese“ ist zumeist der Text, der bei der Abstimmung der Mitglieder die meisten Stimmen erhalten hat. Die Änderungs- und Ergänzungsvorschläge der anderen Strömungen werden von einem Redaktionskomitee in den Ausgangstext eingearbeitet. Der Synthese-Text wird schließlich den Delegierten zur Abstimmung vorgelegt. Nur beim Parteitag 1990 konnten sich die Strömungen auf keine Synthese einigen.

Die AntragstellerInnen der beiden stimmenstärksten Generalanträge sind automatisch auch die KandidatInnen für den Parteivorsitz auf nationaler Ebene. Sie treten dann noch vor dem Parteitag in weiteren Sektionsversammlungen in einer Stichwahl gegeneinander an. Diese wird auch dann durchgeführt, wenn ein Vorsitzkandidat oder eine -kandidatin mit seinem oder ihrem Generalantrag mehr als 50% der Stimmen erreicht. Die wichtigsten Entscheidungen sind also bereits gefallen, wenn der Parteitag zusammentritt. Erst nach dem Parteitag findet die Wahl der Sektions- und Departmentverbandsvorsitze in geheimer Wahl durch die Mitglieder statt. Erreicht im ersten Wahlgang ein Kandidat oder eine Kandidatin keine absolute Stimmenmehrheit, so kommt es zu einer Stichwahl.

Bis zum Parteitag 2012 wurde die Wahl des nationalen Vorsitzenden gemeinsam mit den Vorsitzenden auf den unteren Ebenen durchgeführt. Durch eine Statutenänderung wurde sie aber vorgezogen und mit der Abstimmung über die Generalanträge zusammengelegt.

Französische PS-Kongresse 2012 und 2008

Im Oktober 2012 fand der letzte Kongress der PS statt. Insgesamt 19 Antragsvorschläge wurden davor offiziell eingereicht. Sie wurden schließlich zu fünf Generalanträgen zusammengefasst, die dann zur Debatte und damit auch zur Abstimmung standen. Nur vier haben aber die Relevanzschwelle von 5% der abgegebenen Stimmen überwunden:

Antrag 1 war der von Anfang an favorisierte Antrag des Vorsitzkandidaten Harlem Desir. Er wurde auch von der amtierenden Parteivorsitzenden Martine Aubry, dem Premierminister Jean-Marc Ayrault und der Mehrheit der sozialistischen Abgeordneten und Regierungsmitglieder unterstützt. Er repräsentierte somit das Parteiestablishment und erreichte bei der Abstimmung mit 68,2% eine deutliche absolute Mehrheit.

Mit 13,4% landete der Generalantrag der PS-Linken (Antrag 3) auf Platz 2. Antragsteller und damit auch Kandidat für den nationalen Vorsitz war Emmanuel Maurel. Mit 11,9% und 5,2% übersprangen auch die Anträge von Stephane Hessel (Antrag 4) und Juliette Meadel (Antrag 2) die 5%-Hürde. Sie waren am Parteitag ebenfalls mit Delegierten vertreten, nahmen aber aufgrund der Verfehlung einer Top-2-Platzierung nicht an der Vorsitzwahl teil.

Abbildung 4: Ergebnis der Abstimmung über die PS-Generalanträge 2012

Motion

AntragstellerIn

Ergebnis

VorsitzkandidatIn 

Stimmen

%

1 – Mobiliser les Français pour réussir le changement

Harlem Desir

58.135

67,87%

3 – Maintenant la gauche

Emmanuel Maurel

11.283

13,28%

4 – Oser. Plus loin. Plus vite

Stephane Hessel

10.005

11,78%

2 – Question de principes

Juliette Meadel

4.361

5,13%

5 – Toulouse, mon congrès

Constance Blanchard

1.154

1,36%

Abstimmung

%

Mitglieder

173.468

Abgegebene Stimmen

87.898

50,67%

Ungültige Stimmen

2.960

3,37%

Gültige Stimmen

84.938

96,63%

Auch die Stichwahl zwischen den beiden Vorsitzkandidaten brachte eine klare Entscheidung: Harlem Desir wurde mit 71,9% zum neuen Parteivorsitzenden der Parti Socialiste gewählt.

Abbildung 5: Beteiligung bei den Wahlen in der PS 2012

Art der innerparteilichen Wahl

Abgegebene Stimmen

Wahlbeteiligung

Abstimmung Generalanträge

87.898

50,67%

Parteivorsitz 2. Wahlgang

ca. 80.700

46,50%

Zahl der Parteimitglieder zum Zeitpunkt der Abstimmung (2012): 173.468. Die Parti Socialiste hat keine genauen Stimmenzahlen für den 2. Wahlgang veröffentlicht. Die Zahl der abgegebenen Stimmen wurde aus der Mitgliederzahl und der veröffentlichten Wahlbeteiligung errechnet.

Während die Antragswahl und die Vorsitzwahl im Jahr 2012 eine klare Entscheidung brachte, war die Situation beim Parteitag im Jahr 2008 weniger eindeutig. Damals wurde der Generalantrag von Ségolène Royal mit nur 29% stimmenstärkster Antrag. Die Zentristen um den Pariser Bürgermeister Delanoë erreichten 25%, die linke Mitte unter der Führung von Martine Aubry 24% und die Parteilinke lag bei 19%. Damals wurde der erste Wahlgang für den nationalen Vorsitz noch getrennt von der Antragsabstimmung durchgeführt. Im ersten Wahlgang lag Ségolène Royal mit rund 42% mehr als 8% vor der zweitplatzierten Martine Aubry. In der Stichwahl setze sich allerdings Martine Aubry mit einer denkbar knappen Mehrheit von 50,02% gegen ihre Herausforderin Royal durch.

Italiens ‚Partito Democratico‘

Die Demokratische Partei Italiens hält zur Wahl ihrer Führungsgremien sogenannte „Vorwahlen“ ab. Dabei handelt es sich dabei nicht um Vorwahlen im eigentlichen Sinne, sondern um die Wahl von ParteifunktionärInnen. Der wesentliche Unterschied zur Parti Socialiste ist, dass innerparteilichen Wahlen „offen“ abgehalten werden. Es dürfen sich nicht nur Parteimitglieder, sondern auch alle anderen Personen, die die Werte der Partei teilen und eine Parteispende leisten, an der Abstimmung beteiligen.

Das heißt, auch Nicht-Parteimitglieder wählen den „Segretario Nazionale“, den Parteivorsitzenden der PD sowie die Regionalvorsitzenden, im Italienischen „Segretario Regionale“. Diese offenen Vorwahlen für Parteigremien sind ein Alleinstellungsmerkmal dieser Partei.

Voraussetzung für eine Kandidatur für den nationalen Parteivorsitz sind 1.500 Unterstützungserklärungen von Parteimitgliedern aus mindestens 5 Regionen. Der Vorwahlprozess besteht aus zwei gleichzeitig stattfindenden Wahlen: den Wahlen zu den nationalen und zu den regionalen Parteigremien. Es wird getrennt mit zwei unterschiedlichen Stimmzetteln abgestimmt. Der Prozess besteht aus zwei Phasen.

In der ersten Phase stimmen ausschließlich die Parteimitglieder in Sektionsversammlungen über die KandidatInnen für den Parteivorsitz ab. Bei dieser Wahl dürfen ausschließlich beitragszahlende Mitglieder abstimmen. Sie treffen dabei aber nur eine Vorauswahl an KandidatInnen. Proportional zu ihrem Abstimmungsergebnis entsenden sie dann Delegierte zur Regional- und Nationalkonferenz der PD. Diese Konferenzen stimmen über die programmatischen Leitanträge ab, die von den VorsitzkandidatInnen vorgelegt werden.

Das Ziel dieser Phase ist es, KandidatInnen, die keine Unterstützung in der Mitgliedschaft haben, vom Wahlvorgang auszuschließen. Nur KandidatInnen, die mindestens 15% der Stimmen erreicht haben, aber zumindest die drei stärksten KandidatInnen nehmen an der allgemeinen Wahl teil. Die Parteimitglieder bestimmen also, wer kandidieren darf. Die Letztentscheidung treffen sie dann aber gemeinsam mit den SympathisantInnen.

In der zweiten Phase werden sogenannte Vorwahlen im ganzen Land abgehalten, die offen für alle sind, die sich zu den Werten der PD bekennen, bei der Stimmabgabe eine Mindestspende von zwei Euro entrichten und ihre Kontaktdaten bekannt geben.

Die WählerInnen geben zwei Stimmen ab: Eine Stimme für den nationalen Vorsitz und eine zugehörige Liste für die Nationalversammlung sowie eine zweite Stimme für den Regionalvorsitz und eine zugehörige Liste für die Regionalversammlung der Partei. Mit jeder Kandidatur sind eine oder mehrere Listen verbunden, die gewisse Strömungen und Inhalte repräsentieren. VorsitzkandidatInnen, deren Listen gemeinsam auf über 50% der Stimmen kommen, sind als Vorsitzende gewählt. Erhält keine Kandidatin oder kein Kandidat bei der Vorwahl die absolute Mehrheit, so findet eine Stichwahl in der Nationalversammlung bzw. in der Regionalversammlung der Delegierten statt.

Vorwahlen der Partito Democratico 2009

Nach der Gründung der Demokratischen Partei im Jahr 2007 haben zwei Vorsitzwahlen stattgefunden: die erste Wahl im Gründungsjahr und die zweite nach Rücktritt des damaligen Vorsitzenden Walter Veltroni im Jahr 2009. Die Wahlperiode beträgt eigentlich 4 Jahre. Drei Kandidaten traten zur letzten Wahl auf nationaler Ebene an: Pier Luigi Bersani, Dario Franceschini sowie Ignazio Marino. Bei der Abstimmung unter den Parteimitgliedern lag Luigi Bersani mit 55,1% klar vorne (vgl. Abb. 6).

Abbildung 6: PD-Ergebnisse 2009 – Parteimitglieder

Kandidaten

Stimmen

%

Pier Luigi Bersani

255.189

55,1%

Dario Franceschini

171.041

37,0%

Ignazio Marino

36.674

7,9%

Summe

462.904

100,0%

Wenn zwei unterschiedliche Gruppen von WählerInnen – die Mitglieder und die SympathisantInnen – an einer Wahl teilnehmen, dann stellt sich die Frage, ob es Unterschiede in den Präferenzen gibt, ob die Vorentscheidung der Parteimitglieder nicht durch die offene Vorwahl revidiert wird.

Bei einer näheren Betrachtung der Ergebnisse sieht man, dass das bei der PD eindeutig nicht der Fall war. Die Abstimmung ist unter den SympathisantInnen fast genauso wie unter den Mitgliedern ausgegangen. Die Differenzen waren nur sehr gering (Vgl. Abb. 6 und 7).

Abbildung 7: PD-Ergebnisse 2009 – Offene Vorwahl

Kandidaten

Stimmen

%

Delegierte

Pier Luigi Bersani

1,603,531

53,2%

530

Dario Franceschini

1,035,026

34,3%

339

Ignazio Marino

378,211

12,5%

131

Summe

3,016,768

100,0%

1000

Die Beteiligung der Parteimitglieder an der Vorauswahl der KandidatInnen für den Vorsitz war mit 56,40% ähnlich hoch wie in der Parti Socialiste in Frankreich (vgl. Abb. 8). Für die Vorwahl der SympathisantInnen kann keine sinnvolle Wahlbeteiligung angegeben werden, da es keine zuverlässige Zahl über die mit der PD sympathisierenden Personen in der italienischen WählerInnenschaft gibt.

Abbildung 8: Beteiligung bei den PD-Wahlen 2009

Art der Wahl

Abgegebene Stimmen

Wahlbeteiligung

Abstimmung Mitglieder

462.904

56,40%

Vorwahl SympathisantInnen

3,016.768

 

Gemeinsamkeiten und Unterschiede

Die folgende Tabelle stellt die wesentlichen Unterschiede zwischen den drei Modellen nochmals in verkürzter Form dar (vgl. Abb 9).

Abbildung 9: Vergleich der innerparteilichen Wahlsysteme: Frankreich, Italien und UK

  Frankreich Italien UK
Wer? Parteimitglieder Demokratische WählerInnen, also Mitglieder und SympathisantInnen Parteimitglieder
Was? inhaltliche Grundsatzanträge (fraktionelle Zusammensetzung der Gremien)

Vorsitzwahl

VorsitzkandidatInnen und Listen (meist mehrere Listen pro KandidatIn) auf nationaler und regionaler Ebene

 

Leader & Deputy Leader

NEC: 6 von 31 Mitgliedern

NPF: 55 von 194 Mitgliedern

Wo? Wahl bei Sektions-versammlungen Wahl in öffentlichen Wahllokalen

(Vorauswahl bei Sektionsversammlungen)

Briefwahl

Direktwahl Direktwahl getrennt von anderen Parteigremien, bei der Antragswahl nur eine Stimme für alle Ebenen eine Stimme für jede Ebene – für die Liste und Vorsitz gleichzeitig Vorsitz: Reihung der KandidatInnen, Mehrheitswahl bei NEC und NPF
Hürden

 

5%-Sperrklausel bei Anträgen Vorabstimmung unter Parteimitgliedern: 15% der Stimmen oder mind. 3. Platz (5%) Mehrheit der Stimmen, kein Verhältniswahlrecht, Vorauswahl in der Fraktion, Nominierungen von CLPs und Organisationen

 

Fazit

Abschließend sollen die zentralen Elemente der beschriebenen Vorsitzendenwahlen nochmals zusammengefasst werden:

1. Die Parteimitglieder bzw. die SympathisantInnen haben die Möglichkeit, ihre politischen Präferenzen in demokratischen innerparteilichen Wahlen zum Ausdruck zu bringen.

2. Innerparteiliche Wahlen sind fast immer kompetitive Wahlen mit mehreren KandidatInnen. Zumeist ist vor der Wahl noch nicht klar, wer siegreich aus dem Wahlgang hervorgehen wird.

3. Innerparteiliche Wahlen werden öffentlich ausgetragen.

Alle diese Prinzipien sind in der SPÖ nicht einmal in Ansätzen verwirklicht. Es liegt daher der Schluss nahe, dass der innerparteiliche Einfluss der SPÖ-Mitglieder deutlich geringer ist als jener der Mitglieder der drei dargestellten Parteien. Eine direkte Übertragung dieser Modelle auf die SPÖ erscheint aber nicht sinnvoll, da sich die Organisationsstrukturen der SPÖ deutlich von jenen in Großbritannien, Frankreich und Italien unterscheiden. Die in diesem Beitrag präsentierten Beispiele zeigen aber, wie Mitgliedern größerer Einfluss auf Personal und Inhalte einer Partei ermöglicht werden kann, wie auch kritische Stimmen und Minderheitsmeinungen gehört werden können und wie ein diskursiver Prozess innerhalb einer Partei angeregt und institutionalisiert werden kann. Insofern zeigen sie Wege auf, an denen sich eine Organisations- und Statutenreform innerhalb der SPÖ orientieren kann.

*Oliver Zwickelsdorfer ist Volkswirt und in der Sektion 8 der SPÖ Wien-Alsergrund aktiv.

 

 

 

Weiterführende Literatur

Hanretty, Chris & Wilson, Alex: The troubled early years of the Partito Democratico, 2009

Hillebrand, Ernst: Ablauf der Wahl des Parteivorsitzenden des Parti Socialiste, Friedrich-Ebert-Stiftung Paris, 2008

Hillebrand, Ernst: Die Sozialistische Partei Frankreichs nach dem Parteitag von Reims, Internationale Politikanalyse, Friedrich-Ebert-Stiftung, 2009

Kelly, Peter; Lester, Paul & Durkin, Mary: Leadership Elections: The Labour Party, 2010

LeDuc, Lawrence: Democratizing Party Leadership Selection.Party Politics, Vol 7, No 3, pp. 232-341, 2001

Quinn, Thomas: Electing the Leader: The British Labour Party’s Electoral College. The British Journal of Politics & International Relations,Volume 6, Issue 3, pages 333–352, August 2004

The Labour Party: Labour Party Rule Book 2012

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One Response to Innerparteiliche Demokratie am Beispiel dreier sozialdemokratischer Parteien Europas

  1. Heinrich Elsigan 22. Februar 2013 at 07:14 #

    Toller Artikel, danke blog8 Sektion8

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