US-Gesundheitsreform: Kommentierte Fakten

Leonhard Dobusch

Die Bedeutung der Health-Care-Abstimmung im US Repräsentantenhaus für Obamas Präsidentschaft und progressive Kräfte innerhalb und außerhalb von Amerika kann kaum überschätzt werden. Obama und die Demokraten waren hart genug, das Gesetz auch gegen den geballten, geschlossenen und radikalisierten Widerstand der US-Rechten durchzuziehen und haben damit demonstriert, dass es sich auszahlen kann, einen Konflikt nicht nur auszutragen sondern auch durchzustehen.

Gleichzeitig ist das letztlich beschlossene Gesetzeswerk unübersichtlich und wird auch von vielen US-Linken äußerst kritisch gesehen. Die folgende Liste an Fakten soll die Diskussion darüber versachlichen helfen und eine Übersicht darüber liefern, was am Ende eigentlich alles (nicht) beschlossen wurde. Die Liste gliedert sich in zwei Teile: (a) Veränderungen die in der beschlossenen Fassung bzw. nach Beschluss der Änderungen im Senat (wofür die einfache Mehrheit vonn 51 SenatorInnen reichen wird) in Kraft treten werden. (b) Punkte, die es nicht in das Gesetz geschafft haben.

(a) Beschlossene Änderungen

Die folgende Auswahl an wichtigen Änderungen sind im beschlossenen Entwurf enthalten (inklusive jener Änderungen, die noch von einer 51-Stimmen-Mehrheit im Senat abgesegnet werden müssen):

  • Einführung einer Versicherungspflicht bei einem der zahlreichen privaten Anbieter, ansonsten Strafzahlung sowohl für Individuen als auch Unternehmen, die sich nicht versichern bzw. keine Versicherung anbieten. Die Strafsteuern gelten ab 2014, endgültig in Kraft tritt diese Versicherungspflicht allerdings nicht vor 2018 (vgl. the Nation). Das damit verbundene Verbot für Versicherer, Leute abzulehnen, wird dazu führen, dass bis zu 30 Millionen heute unversicherte AmerikanerInnen spätestens ab 2018 versichert sein werden. Allerdings decken die Versicherungen nicht notwendigerweise sämtliche Kosten der Gesundheitsversorgung ab, was insbesondere bei schweren Erkrankungen auch weiterhin zum Privatkonkurs führen kann.
  • Schaffung eines staatlich beaufsichtigten, bundesweiten Versicherungsmarktes für den Kauf von Versicherungspolicen, der ebenfalls 2014 starten wird. Für unversicherte Erwachsene die davor keine Versicherung kaufen können (z.B. wegen Vorerkrankungen, „pre-existing conditions“) gibt es ein bis 2014 befristetes Übergangsprogramm. Für Jugendliche gilt das Verbot, wegen „pre-existing conditions“ eine Versicherung zu verweigern, ab sofort.
  • Die Beaufsichtigung des Versicherungsmarktes wird insbesondere in der Einrichtung von unparteiischen Berufungsstellen für den Fall von Streitigkeiten bestehen.
  • 0,9 Prozent Steueraufschlag für Spitzenverdiener/innen ($200.000/Person/Jahr, $250.000/Haushalt/Jahr) ab 2013 auf die Abgabe zur Finanzierung von Medicare, die damit von 1.45% auf 2.35% steigt (siehe auch weiter unten). Außerdem gibt es für diese Personengruppe eine Sondersteuer in Höhe von 3.5% auf Kapitaleinkünfte, die diese Einkommensgrenzen überschreiten.
  • Sonderabgaben in Milliardenhöhe für Versicherungsunternehmen in Abhängigkeit des jeweiligen Marktanteils in steigender Höhe ab 2014.
  • Eine Steuer auf besonders teure Versicherungspolicen (sog. „cadillac health care plans“). Mit dieser Steuer ist eindeutig eine starke Umverteilungswirkung verbunden, allerdings könnte sie – insbesondere wenn die Grenzen nicht regelmäßig an die Inflation angepasst werden – auch gewerkschaftlich organisierte ArbeitnehmerInnen treffen. Sie wurde aber ebenfalls auf 2018 verschoben. Die Steuer wird 40% auf (fast) all jene Kosten betragen, die über $10.200/Person bzw. $27.500/Haushalt hinausgehen.
  • Außerdem gibt es noch eine Reihe kleinerer Maßnahmen im Steuer- und Abgabenbereich (z.B. Steuerbefreiung für bestimmte, genossenschaftliche Versicherer, eine neue Medikamentensteuer, eine 10%-Steuer auf Sonnenstudios, vgl. Reuters, bzw. für eine – leider schwer verständliche – Liste vgl. Tax Lawyer’s Blog)
  • Jugendliche werden noch in diesem Jahr die Möglichkeit haben, bis zum Alter von 26 Jahren bei den Eltern mitversichert zu bleiben.
  • Haushalte und Unternehmen, die sich die Versicherung nicht leisten können, bekommen Steuergutschriften. Ob diese allerdings hoch genug sein werden (können), solange es keine „public option“ als Alternative zu den privaten Versicherern gibt, lässt sich noch nicht abschätzen. Jedenfalls aber wird die Kombination aus Versicherungs- und Zuschusspflicht dazu führen, dass eine (stärkere) Kontrolle der Versicherungsunternehmen unverzichtbar sein wird.
  • Eine Reihe von Verboten gegen missbräuchliche Klauseln und Praktiken der Versicherungsindustrie, allen voran die Weigerung zu versichern wegen bereits vorhandener Krankheiten („pre-existing conditions“), das Verbot von Höchstgrenzen an Gesundheitsausgaben für eine/n Versicherte/n („life-time caps“), die insbesondere bei schweren Krankheiten wie Krebs schnell erreicht wurden und zu einem Verlust des Versicherungsschutzes geführt haben sowie generell das Verbot, Versicherungen zu kündigen, wenn der/die Versicherte krank wird. Jährliche Kostengrenzen („annual caps“) sind zwar weiterhin erlaubt, werden aber reguliert/kontrolliert. Ältere Versicherungsnehmer müssen allerdings weiterhin teilweise bis zu dreimal so hohe Prämien wie Jüngere zahlen und bis 2017 ist es weiterhin zulässig, bei unternehmensbezogenen Policen erhöhte Prämien bei einem höheren Anteil an Frauen zu verlangen.
  • Eine Ausweitung des Medicaid-Programms, das Gesundheitsversorgung für Menschen mit geringen Einkommen finanziert und laut the Nation 12-14 Millionen Menschen zusätzlich erfassen wird.
  • Eine Verbesserung der Medikamenten-Versorgung im staatlichen Medicare-Programm für SeniorInnen (bislang wurden Medikamente-Kosten zwischen $2.700 und $6.154 nicht abgedeckt, vgl. Reuters).
  • Es wird zu einer Verdopplung der Anzahl sogenannter „Federally Qualified Community Health Centers“ kommen (10 Milliarden Dollar zusätzliches Budget dafür), die Grund- und zahnärztliche Versorgung für einkommensschwache Familien anbieten und so in der Lage sein werden, 16 Millionen neue PatientInnen zu bedienen.
  • US-Bundesstaaten wird erlaubt, über diese Maßnahmen hinaus- und stärker in Richtung eines staatlich finanzierten Universalversorgungssystems zu gehen. Diese Bestimmung tritt allerdings erst mit 2017 in Kraft.
  • Verbot, öffentlichen Förderungen zur Finanzierung von Schwangerschaftsabbrüche zu verwenden. Das war zwar auch bisher schon so, allerdings werden dank der neuen Steuergutschriften mehr Personen als vorher öffentliche Föderung in Anspruch nehmen (müssen). Diese müssen dann für die Finanzierung von Schwangerschaftsabbrüchen Zusatzvereinbarungen unterzeichnen und finanzieren.

(b) Folgende Punkte sind nicht im Gesetzesvorschlag enthalten:

  • Die in der ursprünglichen Version des Repräsentantenhaus enthaltene „public option“ – staatlicher oder non-profit Versicherer ähnlich euopäischer Selbstverwaltungsversicherer – als Alternative zu privaten Versicherungsunternehmen wurde im Senat geopfert, um die notwendigen 60 Stimmen zu bekommen. Mitglieder des „progressive caucus“ der House-Democrats haben aber angekündigt, ehebaldigst ein Gesetz zur Einrichtung einer „public option“ einzubringen (vgl. „Woolsey To Introduce Public Option Bill ASAP“)
  • Es gibt auch keine Ausweitung des populären „Medicare“-Programms, das viele linke Demokraten als einen Schritt in Richtung des von ihnen favorisierten „Single-Payer“-Gesundheitssystems, das auch das linksdemokratische Magazin „the Nation“ unter dem Titel „Medicare for All“ favorisiert (vgl. „Next Steps Toward ‘Medicare for All’“).
  • Konsequenterweise gibt es auch (noch) nicht die Möglichkeit, sich in das Medicare-Programm “einzukaufen”, wie vom demokratischen Abgeordneten Grayson vorgeschlagen. Sein entsprechender Gesetzesvorschlag hat allerdings mittlerweile 80 UnterstützerInnen im Repräsentantenhaus.

Fazit:

Die Gesundheitsreform ist jedenfalls ein großer Schritt in die richtige Richtung, mit einer Reihe von Verbesserungen für breite Teile der US-Bevölkerung. Sowohl dass die Mehrzahl der neuen Leistungen GeringverdienerInnen zu Gute kommen werden als auch dass die Finanzierung der Verbesserung zu einem großen Teil über Steuern für SpitzenverdienerInnen erfolgen wird, machen die Gesundheitsreform auch zu einem der größten Umverteilungsprogramme der jüngeren Geschichte. Die dadurch implizierten, positiven (Nachfrage-)Effekte für die Gesamtwirtschaft sind auch nicht zu unterschätzen. Klar ist aber auch, dass der Weg zu echter „universal health-care“ noch ein weiter ist. Eine öffentliche Alternative zu den Versicherungsunternehmen ist notwendiger denn je, ließe sich aber auch relativ einfach in einem nächsten Schritt ergänzen.

Die wichtigste Botschaft abseits aller Maßnahmen aber, die mit der US Gesundheitsreform verbunden ist, ist der Beweis, dass progressive Politikprojekte möglich sind – gerade auch angesichts budgetärer Schwierigkeiten. Sie erfordern dafür aber ein klares Bekenntnis zu konsequenter (Um-)Verteilungspolitik.

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One Response to US-Gesundheitsreform: Kommentierte Fakten

  1. Versicherungenweb.de 26. Juli 2010 at 13:27 #

    Sehr nützliche Infos. Danke!

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